Tichys Einblick
Journalisten als Politikberater

DER SPIEGEL Nr. 45 – Washington, ein Jahr danach

Braucht es den x-ten (Anti-)Trump-Titel? Washington ist ein Biotop für sich und lässt keinen repräsentativen Blick auf die USA zu. Das sollte die Redaktion spätestens seit dem Ausgang der Wahl vor einem Jahr wissen.

Ja, so schnell vergeht ein Jahr. Und die Welt dreht sich trotz eines wutschnaubenden und unberechenbaren Donald Trump in Washington 7 Tage/24 Stunden weiter. Von den wüsten Drohungen und Ankündigungen im Wahlkampf wurde nur ein geringer Bruchteil in die Tat umgesetzt. Hilary Clinton kam nicht nach Amtsantritt Trumps hinter Gittern, die vollmundig angekündigte Mauer an der mexikanischen Grenze ist wohl nur die Reparatur der bestehenden, die Wirtschaft wächst und Obamacare gibt es immer noch. Eine wichtige Aufgabe wurde abgeschlossen: Das Weiße Haus wurde einer „Schönheitskur“ unterzogen, wenn man den Protz, den Trumps Familie dort meinte, gestalten zu müssen, als schön bezeichnen kann. Die Beschreibung erinnert stark an die Ausstattung von Schlössern aus längst verflossenen Zeiten. Ich habe gerade Edward Rutherfurds Im Rausch der Freiheit gelesen. Die Saga zeichnet über 350 Jahre die miteinander verwobenen Lebensgeschichten von vier Einwandererfamilien in New York nach. Nach diesen Maßstäben legt Trump auch heute noch das Gehabe „neuen Geldes“ an den Tag. Aber die Welt ist nicht untergegangen wie der SPIEGEL ein Jahr suggerierte. Das sagt wenig über Trump, und viel über den SPIEGEL.

Christoph Scheuermann betitelte seinen Beitrag zum Titel wohlüberlegt mit „Sein Spielplatz“. Trump wirkt mittlerweile wie ein gelangweiltes, quengeliges und seiner Spielsachen überdrüssiges Kleinkind, das ohne Ziel – wie Roger Cohen in seinem Essay „Teuflische Energie“ so trefflich beschreibt – eine „Jag-das System-in-die-Luft-Stimmung“ verbreitet. Typen von der Art haben wir in Deutschland auch, häufig genug sitzen sie in Redaktionen. Nicht wenige würden gerne mal auf Angela Merkels Stuhl sitzen und den einen oder anderen roten Knopf anfassen. Scheuermann erwähnt nebenbei, dass die Generäle Mattis und Kelly verabredet hätten, dass einer von ihnen stets im Land bleibe, um notfalls Trump-Befehle stoppen zu können. Aber braucht es den x-ten (Anti-)Trump-Titel? Und vor allem: Washington ist ein Biotop für sich und lässt keinen repräsentativen Blick auf die USA zu. Das sollte die Redaktion spätestens seit dem Ausgang der Wahl vor einem Jahr wissen. Vor allem aber: die Untergangsprophetien des SPIEGEL haben sich nicht bewahrheitet – eignet er sich als politischer Ratgeber, als Oberregierung?

Vor zwei Tagen fragte Wolfgang Michal bei Kress: „Ist es die Aufgabe politischer Journalisten, ständig zu erklären, was jetzt zu tun ist? Müssen sie täglich hinausposaunen, was ,wir‘ jetzt am dringendsten brauchen? Wie Merkel die Krise noch meistern kann? Wie Jamaika zum Erfolg wird? Der politische Journalismus bietet heute ein solches Übermaß an Politikberatung, dass man bisweilen den Eindruck hat, die Redaktionen fungierten als Planungs- und Krisenstäbe des Kanzleramts und der Parteien.“

Der Beitrag „Klima des Kleinmuts“ von Frank Dohmen und Gerald Traufetter war sicherlich schon in der Druckerei, als Michals die „Übergriffigkeit“ von Journalisten und Moderatoren beklagte. Denn natürlich weiß auch der Spiegel in dieser Woche wieder genau, was denn wichtig wäre bei den Jamaikaverhandlungen. Diese Woche ist es das Thema Umweltpolitik, bei dem leider „fantasielose Umweltexperten der Union“ mit „hyperambitionierten Grünen“ und „Stromnostalgikern der FDP“ miteinander pokerten. Dabei sind die Energieunternehmen, so die Autoren, von sich aus doch schon mit ihren Energiekonzepten so clever drauf. Warum muss man als Aufhänger immer Berlin suchen, wo man doch eigentlich die Energiekonzerne meint?

Blick zurück - nach vorn
Blackbox KW 44 – Wein ich? Lach ich? Träum ich? Wach ich?*
Olaf Scholz ist ein gerne gesehener Interviewpartner der Spiegel-Redaktion. Ist ja auch praktisch, so gleich um die Ecke in Hamburg. Und im altehrwürdigen Gemäuer des Rathauses wirkt alles gleich auch schon staatsmännisch. Im Interview „Wir hätten gewinnen können“ mit Annette Großbongardt, Klaus Brinkbäumer und Michael Sauga beharrt Scholz weiterhin darauf, dass die SPD bei der Bundestagswahl eine große Chance auf den Wahlsieg vertan hat Im Dezember auf dem Parteitag werde es vorrangig um Fragen der politischen Ausrichtung gehen, die er nicht mit Personaldebatten vermengen will. Martin Schulz muss sich also bis Ende des Jahres nur wegducken und darauf hoffen, dass er übersehen wird und schließlich Parteivorsitzender bleiben kann. Aber das ist ja noch Scholz. Was für ein Trost.

Spiegel-Reporterlegende Cord Schnibben verabschiedet sich mit „Das Jahrhundert-Gift“, einem Beitrag über die Klage einer 76-jährigen Vietnamesin gegen 26 Chemieunternehmen, die sie beschuldigt, bei ihr und ihren Kindern durch Dioxin schwerste gesundheitliche Schäden verursacht zu haben, in den Ruhestand. Ich würde mir wünschen, dass Schnibben in seinem Ruhestand ein Buch darüber schreibt, wie er Aufstieg und Niedergang des Hamburger Magazins erlebt hat und ob er die enorme Machtstellung der Mitarbeiter KG für sinnvoll hält.

Martin Hesse berichtet in „Der Geruch des schnellen Geldes“ über offensichtlich fehlendes Unrechtsbewusstsein in den Vorstandsetagen deutscher Unternehmen. Die BaFin hat in den ersten zehn Monaten dieses Jahres bereits 60 Ermittlungen wegen Insiderhandels aufgenommen. Aktueller Fall: Carsten Kengeter von der Deutschen Börse, der wirtschaftsfernen Lesern bisher nur durch blasphemische Äußerungen über die angeblich gottgewollte Übernahme der Londoner LSE auffiel. Mit der Corporate Governance ist es in Deutschland wohl nicht so weit bestellt, wie es aufwändig gestaltete Berichte gerne darstellen. Nur wenige Aufsichtsräte, Compliance-Abteilungen und juristische Berater beherzigen den Rat von Hermes-Manager Christopher Hirt, häufiger mal einen „smell test“, einen Geruchstest bei zweifelhaften Aktionen, durchzuführen.

Unser täglich Brot back uns heute … Manfred Dworschak beschreibt das sich epidemisch ausbreitende Hobby des Brotbackens. Ein Trend, der gar nicht so sehr verwundert bei all dem Einheitsgebäck, das Fußgängerzonen auf und ab angeboten wird. „Bioreaktor im Gurkenglas“ zeigt auch, wie das Handwerk bei all den technischen Möglichkeiten und der unendlichen Fülle an fertigen Mischungen und Zutaten es verlernt hat, Brot als modernes Lebensmittel zu positionieren. Kaum zu glauben, dass einem alten Bäckermeister die Tränen kommen, wenn ein Brotpädagoge, wie der Quereinsteiger ins Handwerk, Lutz Geißler ihm endlich einmal eine heißersehnte selbstgebackene Brioche präsentiert. Das Thema hätte das Zeug zu einer sehr interessanten Titelgeschichte mit breitem Leserinteresse gehabt.

Während deutsche Unternehmen noch darüber diskutieren, was die Digitalisierung ihnen bringt, arbeiten die großen Konzerne aus dem Silicon Valley an der nächsten Welle, einer von künstlicher Intelligenz gestützten Medizin. Heute schon geben die Unternehmen Amazon, Alphabet (Google), Microsoft, Apple und Facebook mehr Gelder in die Forschung als etwas Bayer. Ist das Verständnis von Krankheiten, ist vielleicht auch das Verständnis vom Menschen am Ende nur ein Datenproblem, eine Rechenaufgabe? Es wird Zeit, dass die ethische Dimension im Zusammenhang mit der Digitalisierung weltweit diskutiert wird. Armin Mahler dringt in seinem Leitartikel „Digitaler Darwinismus“ leider nicht weit genug in das Thema ein, da er sich rein auf den ökonomischen Aspekt beschränkt.

Dass Algorithmus gestützte Geschäftsmodelle kein Gewissen haben, zeigt die Nachricht, dass Amazon bei der Bestellung von Chemikalien dem Kunden direkt noch die fehlenden Substanzen andient, um eine richtige Bombe zu bauen. Es gibt Sachen, die liegen außerhalb jeglichen Vorstellungsvermögens.