Tichys Einblick
DIE PRESSE AM SONNTAG, 20. August 2017

Boris Palmer und die Grünen, Barcelona und der IS

Boris Palmer ist zur Hälfte drinnen und zur Hälfte draußen bei seiner Partei. Erinnert an Bosbach und andere in allen Parteien. - Musste Barcelona sein, um das ramponierte Image des IS bei den Anhängern aufzupolieren? Gute Fragen.

«Ich habe nicht eine Sekunde an einen Austritt gedacht. Ich habe einen Konflikt mit einem Teil der Partei in der Flüchtlingspolitik. Aber die Themenfelder, um die es mir eigentlich geht, Klimaschutz und Ökologie, da gibt es keine andere Partei, die das ernsthaft betreibt. Und ich überlass’ die Partei auch nicht denen, die einen unrealistischen Kurs in der Flüchtlingspolitik fahren wollen, der sich letztlich mit „offene Grenzen“ übersetzen lässt.»

Antwortet Boris Palmer im Interview mit Die Presse am Sonntag. In Österreich ist das wohl prominenteste Gründungsmitglied der Grünen ausgetreten und tritt mit einer eigenen Liste zur Nationalratswahl am 15. Oktober an – wie Sebastian Kurz, der aber unter Übernahme der ÖVP.

«Dann würde ich zur Hälfte CSU wählen»

Die Presse fragt: «Sie sagen, die Flüchtlingsdebatte läuft im ganzen Land falsch ab. Inwiefern?» Palmer antwortet: «Es wird zu viel verurteilt und moralisiert und zu wenig diskutiert und differenziert.» Die Presse hakt nach: «Was dürfen Sie denn nicht sagen, ohne verurteilt zu werden?»

Palmer: «Sie können über Kriminalität von Flüchtlingen nicht reden, ohne dass sie sofort mit Begriffen wie braune Soße und Hetze belegt werden. Das macht es sehr, sehr anstrengend. Und wenn man umgekehrt das Erreichte in den Vordergrund stellt, dann wird einem sofort Naivität oder im schlimmsten Fall der Wunsch zur Umvolkung Deutschlands unterstellt. Beide Seiten hören sich nicht zu. Dazwischen sitzt die Mehrheit der Leute und schüttelt den Kopf.»

Die Presse lädt Palmer zum Gedankenexperiment ein: «Wen würden Sie denn wählen, wenn nur die Flüchtlingspolitik der Parteien zur Abstimmung stünde?»

Palmer: «Ich würde meine Partei zur Hälfte wählen, überall da, wo sie Menschlichkeit, Integration und Hilfe zum Maßstab macht, aber ich würde es ergänzen durch eine Hälfte CSU, wegen der nötigen Steuerung und Regulierung des Zustroms.»

Die Presse: «Warum nicht eine Hälfte CDU? Angela Merkel ist programmatisch doch längst nicht mehr die Willkommenskanzlerin.»

Palmer: «Nein, ist sie nicht. In der Praxis unterscheidet sich ihre Politik gar nicht mehr von der CSU. Aber die Rhetorik kann ich nicht mittragen. Das erstaunliche an Angela Merkel ist ja, dass sie für ein halbes Jahr mit ihrer Politik der offenen Grenzen einen Kontrollverlust zugelassen hat, und den dann mit einem moralischen Imperativ so aufgeblasen hat, dass wir in Deutschland nur noch über Gut und Böse reden. Und nach einem halben Jahr war das alles vorbei und seither hat sie einen Pakt mit der Türkei gemacht und ist wahrscheinlich innerlich ganz froh, dass die Balkanroute geschlossen wurde. Diesen Politikstil finde ich schwer verdaulich.»

Tja, Boris Palmer ist halt zur Hälfte drinnen und zur Hälfte draußen bei seiner Partei. Erinnert an Bosbach und etliche andere in allen Parteien. Würden sie alle austreten und eine Arbeitsgemeinschaft zur Reform des deutschen politischen Systems in Gang setzen, könnte das was bewirken. Aber vielleicht stoßen das ja Kurz und Pilz an und es strahlt auf den großen Kanton aus, wie die Schweizer zu Deutschland manchmal sagen.

„Morden gegen den Untergang des Kalifats“

«Mit den Anschlägen in Barcelona wollte der Islamische Staat auch sein ramponiertes Image aufpolieren. Denn die Terrormiliz ist eigentlich am Ende.» So die interessante These von Alfred Hackensberger. Er erinnert an die Szene vor drei Jahren: «Abu Bakr al-Baghdadi, der Führer des sogenannten Islamischen Staates (IS), beginnt seine große Rede auf der Kanzel der al-Nour-Moschee in Mosul. Der Mann in schwarzer Robe und mit schwarzem Turban auf dem Kopf, der ihn als Abkömmling des Propheten Mohammed ausweist, ruft das Kalifat aller Muslime aus. Sich selbst erklärt er zum auserwählten Imam und Emir.»

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG 20. August 20127
Unterernährung, wohin man blickt im Überflussland
Heute sehe alles ganz anders aus. Zwar hätten sich Zehntausende aus aller Welt dem IS angeschlossen: «Nur, das glorreiche Kalifat, das Istanbul, Rom und al-Andalus „zurückerobern“ wollte, liegt in Trümmern. Aus dem Irak wurde der IS fast komplett vertrieben. In Syrien ist Raqqa, die Hauptstadt des Kalifats, hoffnungslos eingekesselt. Und al-Baghdadi soll tot sein, wie Menschenrechtsbeobachter und Medien im Juli gemeldet haben.» Es sei ein führerloser IS im rasanten Fall in die militärische Bedeutungslosigkeit. Die Fußsoldaten hätten an den Sieg mit Allahs Hilfe geglaubt, die Führungselite um al-Baghdadi nicht, schließlich habe sie sich aus ehemaligen Geheimdienstlern und Militärs von Saddam Hussein zusammengesetzt.

Hackensberger berichtet: «Die Anschläge in Barcelona waren viel größer geplant … Die Attentäter hatten Dutzende mit Sprengstoff gefüllte Gasflaschen in einem Haus in Alcanar … vorbereitet. Nicht auszudenken, wenn die mit Kabeln verbundenen Gasflaschen auf einem Fahrzeug in einer Menschenmenge gezündet worden wären. Nur aufgrund des Dilettantismus der Täter wurde ein Blutbad verhindert. Einer von ihnen hatte sich Tage vor dem geplanten Anschlag selbst in die Luft gejagt. Mittlerweile ist klar, dass drei mehr oder weniger simultan ablaufende Anschläge an verschiedenen Orten geplant waren.»

Und: «Der IS wollte in Barcelona unbedingt ein Zeichen setzen, dass er selbst im Untergang noch zu Mordanschlägen fähig ist. Rache für den Verlust von Mosul ist mit inbegriffen, wie Internetbotschaften von IS-Anhängern nahelegen: „Ihr kämpft in unserem Land, nun kommen wir zu euch, um Krieg zu führen.“»

«Ist der Untergang des IS ebenfalls Teil ihrer Strategie?», fragt Hackensberger, «Soll mit dem Ende der Organisation eine noch stärkere Idee geboren, ein noch größeres, mächtigeres Gespenst erzeugt werden? In dessen Namen man weitere Attentate begeht?»

Beunruhigende Aussichten. Findet der Westen eine Strategie? Oder wursteln die Regierungen weiter einzeln vor sich hin?