Tichys Einblick
BVG-Streik Berlin

Warum (Streik-)Krieg den Hütten und nicht den Palästen?

Die Gewerkschaft Verdi hat gerade den Verkehr in Berlin niedergelegt. Dabei zeigen Beispiele aus anderen Ländern: Statt die Kunden in Geiselhaft zu nehmen, gäbe es auch eine sehr kundenfreundliche Streikvariante – ebenso pfiffig wie effektiv.

Die Gewerkschaft Verdi hatte zu einem ganztägigen Warnstreik bei der BVG aufgerufen. Busse und Strassenbahnen bleiben in den Depots. Auch die Berliner U-Bahn fährt nicht.

imago/Seeliger

Man könnte sagen, es war die Hölle. Und man kann es auch vornehmer ausdrücken wie der Berliner Tagesspiegel: „Die Geduld der Kunden ist erschöpft“. Zumindest laut Google war das noch die ausdrucksstärkste Überschrift zu dem Verkehrs-GAU, der die Hauptstadt Berlin mit ihren 3,5 Millionen Einwohner am Montag wieder einmal in eine Chaoszone verwandelte, im Vergleich zu der es in mancher brasilianischen Favela wohl noch geordnet zugeht: Wegen eines Warnstreiks der Gewerkschaft „Verdi“ fuhren keine U-Bahnen, keine Straßenbahnen und bis auf wenige Ausnahmen keine Busse. 

Einen Notfallfahrplan hatten die „Berliner Verkehrsbetriebe“ (BVG) gar nicht erst aufgelegt. Kein Wunder bei einem Staatsunternehmen mit dem Motto, dessen Werbesong „Ist mir egal“ heißt und das sich in seiner Reklame über die Kunden lustig macht (Motto: Unser Fehler machen wir absichtlich). Konkurrenz gibt es ja keine, der Berliner und Gast der Hauptstadt kommt um die BVG nicht herum. Das Unternehmensmotto „weil wir dich lieben“ klingt so glaubwürdig wie das „D“ für Demokratie in DDR.

In der ganzen Stadt spielten sich dank Streik herzerweichende Szenen ab. Auch etwas fürs Gemüt durfte nicht fehlen: Etwa die Geschichte von einer Frau, die lange in der Taxi-Schlange stand, dann am Ende merkte, dass das Geld nicht reichte – und es dann sofort zugesteckt bekam von jemanden in der Schlange. (Nein, diese Nachricht stammt nicht von Claas Relotius und auch nicht vom Spiegel, sondern von Silvia Perdoni vom Tagesspiegel.

Nicht ganz so herzerwärmend erlebte der Schweizer Journalist Dominique Eigenmann den Warnstreik. Er postete auf twitter das Bild einer imposanten wartenden Menge (auf der nach oben offenen Warteschlangen-Skala aus Sowjetzeiten etwa auf der Höhe Bananen-/Orangen-Verkauf). Text: „Die Taxi-Warteschlange in Tegel ist 200 Meter lang und wächst alle fünf Minuten um 20 Meter. Bald führt sie einmal rundrum. Adieu Termine.

Gott sei Dank scheint die Geduld der Berliner so unendlich wie die von tibetanischen Bettelmönchen (zu Diskriminierungsgefahren durch Vergleiche lesen Sie bitte Ihren Beipackzettel): Was in anderen Ländern in solchen Situationen durchaus nicht auszuschließen wäre, ist zumindest nicht überliefert: handgreifliche Übergriffe auf Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe. Aber die waren ohnehin schwer greifbar.

Das BVG-Management hat ihnen nach eigenen Angaben eine durchschnittliche Erhöhung um 450 Euro pro Monat angeboten, was in Summe die Personalkosten im Jahr um 90 Millionen Euro erhöhen würde. Das Gehalt eines Busfahrers soll von 2.720 auf 3.420 Euro steigen, sagte die BVG. 25,7 Prozent Lohnerhöhung (angeboten und von der Gewerkschaft abgelehnt wohl gemerkt) – wenn das Schule macht, sind wir alle irgendwann Millionäre. Und gleichzeitig wohl bettelarm. „Gewerkschaft Verdi verliert jedes Augenmaß“, titelte der Tagesspiegel.

Aber sei´s drum. Wie berechtigt oder überzogen die Forderungen der Gewerkschaft sind, sei dahingestellt – das wäre Thema für einen eigenen Bericht. Viel bewegender ist für jeden Berliner, der sich gestern um seine Mobilität beraubt fühlte (etwa weil er ganz im vorauseilenden Gehorsam gegenüber der rot-rot-grünen Stadtregierung auf ein Auto verzichtet): Warum bestrafen die Gewerkschaft und die Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe die Kunden? Warum werden diese quasi in Geiselhaft genommen – und nicht die Arbeitgeber? Die sind besser gepolstert: BVG-Chefin Sigrid Nikutta kam 2017 auf 496.900 Euro im Jahr, Finanzvorstand Henrik Haenecke auf 332.700 und Personalvorstand Dirk Schulte auf 367.200 Euro, zuzüglich 1,179 Millionen Euro für ausgeschiedenes Führungspersonal im Jahr 2017; dazu kommen 14,868 Millionen Rückstellungen für Pensionen für dieselben.

Kurzum: Wenn so viel Geld da ist im städtischen Betrieb, warum nehmen sich die Berliner Busfahrer da nicht ein Beispiel an ihren Kollegen in Japan (und nicht nur dort – etwa auch in Australien)? Die haben in der Stadt Okayama im Mai 2018 ihre Kunden nicht etwa stehen lassen – sondern sie umsonst gefahren. Sie weigerten sich, Geld für Tickets anzunehmen. So übten sie Druck auf den Arbeitgeber aus, dem die Einnahmen fehlten (genauso wie beim Streik am Montag in Berlin) – aber sie betrieben ihren Arbeitskampf nicht auf den Schultern der Kunden und hatten deren Sympathien auf ihrer Seite. Laut Experten wäre das auch nach deutschem Arbeitsrecht zulässig. Aber vielleicht nicht nach deutscher Mentalität: Schon Lenin soll sich einst über die Deutschen lustig gemacht haben, dass diese, wenn sie für eine Revolution einen Bahnsteig stürmen wollten, erst eine Bahnsteigkarte kaufen würden.