Tichys Einblick
Völkermord an den Armeniern

Erdoganopel: Knickt Europa vor Erdogan ein?

Die Erdogansche Politik steht in krassem Widerspruch zur Forderungen der Türkei, EU-Mitglied zu werden. Jetzt löschte die EU auf ihrer Website die Ankündigung eines von ihr subventionierten Sinfonieorchesters, das den Völkermord an den Armeniern zum Thema macht. Erdogan hatte interveniert: Es gibt den türkischen Völkermord nicht, die Vokabel „Genozid“ sei eine Beleidigung.

Jüngste Verfehlung Erdogans ist sein erneuter krasser Versuch in die Kunstfreiheit Europas, diesmal des von der EU subventionierten Dresdner Sinfonieorchesters, das das Stück „Aghet“, das den Genozid an den Armeniern zum Thema hat, einzugreifen und den türkischen Völkermord an den Armeniern, dessen Jahrestag am 24. April begangen wurde, erneut verleugnen zu lassen. Erdogan verlangt von der EU die Streichung der Subventionen sowie die Löschung der Wörter „Genozid“ und „Völkermord“ sowohl innerhalb des Stückes als auch auf der Website der EU, auf der das Stück beworben wurde. Die EU hat den Kotau bereits geleistet und die Bewerbung aus dem Netz genommen, man wolle über eine neue Formulierung nachdenken. Das Sinfonieorchester weigert sich bisher standhaft, klein beizugeben. Nächste Aufführung ist am 30. April in Dresden, ein Gastspiel in der Türkei ist geplant.

Wie wäre es mit Erdoganopel?

Wer will es einem Politiker ernsthaft verübeln, wenn er das Machbare auch tatsächlich macht. Erdogan will Macht, die Macht. Ankara bleibt die Hauptstadt der Türkei, die ihren Einfluss in verlorengegangene osmanische Gebiete hinein wiedergewinnt, und Istanbul als Hauptstadt Europas wird, kleine Reminiszenz an vergangene Zeiten und maulige europäische Vorbehalte, in Erdoganopel umgetauft, eine Mischung aus dem Namen Erdogan und Konstantinopel, einst quasi Rechtsnachfolgerin des Heiligen römischen Reiches mit der berühmten Hagia Sofia als dem orthodoxen Kirchenzentrum, heute Moscheemuseum.

Die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei können objektiv nur scheitern, da die Türkei die Standards der westlichen Europagemeinschaft nicht erfüllt und aktuell einen Kurs der Vergrößerung der Wertedistanz fährt. Erdogan geht inzwischen weltweit gegen Journalisten vor – ganz besonders hart gegen die Journalisten im eigenen Land. Gleichwohl laufen die EU-Oberen Erdogan förmlich hinterher, dass er doch bitteschön, lieb und nett, in die europäische Gemeinschaft eintreten soll.

Erdogan möchte das auch, einerseits. Andererseits hat er auch schon mit dem Abbruch der Beitrittsverhandlungen gedroht, weil ihn regierungsamtliche Kritik aus Europa an seiner gelegentlich sehr unfeinen Politik empört. Viele Europäer wären froh, wenn Erdogan seine Beitrittsverhandlungen abbräche, aber die Regierungen Europas, vorneweg Merkel, laufen Erdogan sichtbar immer wieder hinterher und hinterher und hinterher, katzbuckeln und ignorieren die Realität der Erdoganschen Politik.

Mit seiner niveaulosen Prozesshanselei nervt Erdogan, aber er hat keine reale Chance, sich selbst der Lächerlichkeit preis zu geben. Seine europäischen Kontrahenten üben sich in dieser Disziplin des sich Lächerlichmachens derart intensiv und aktiv, dass sie den Spott von Erdogan ablenken und auf sich selbst ziehen. Wer denkt, dass Erdogan ganz faktisch gesehen durch seine mit den Menschenrechten kollidierenden Handlungen vielleicht bewirken könnte, dass sein Land nicht EU-Mitglied wird und dass das schon die Höchststrafe für ihn wäre, könnte sich irren. Wer glaubt, dass aus Richtung Erdogan nichts passieren könnte, was Europas Interessen ernsthaft tangiert (es sei denn man fährt in die Türkei, beruflich oder als Tourist und beteiligt sich an einem kritischen Gespräch über Erdogan, wovor das Auswärtige Amt deutsche Touristen gerade ausdrücklich warnt oder dass ein Szenario einer Führungsrolle Erdogans in Europa völlig irreal wäre, könnte vom Lauf der Geschichte negativ überrascht werden. Erdogan verschiebt  bereits erfolgreich die Gewichte zwischen EU und Türkei und bringt die europäische Werteordnung zur Entwertung, real gesprochen, zur Selbstentwertung durch die Europäische Nomenklatura.

Leugnung eines Völkermordes ist gruselig und widerlich

Die Deutschen sind, vornehmlich durch das linke Lager, das einen Vorteil daraus zu ziehen versucht, angetrieben, auf eine perverse Art geradezu stolz auf ihre Exklusivstellung als Völkermördernation. Natürlich waren es nur die Vorfahren und natürlich waren es immer die „anderen“ Deutschen, die den Holocaust zu verantworten hatten. Und natürlich sind Völkermörder Idole des linken Lagers – ganz oben steht Mao Tse Tung – nicht im Namen des Bösen, sondern im Namen des Guten angetreten, und deswegen wäre die linke Sache ganz anders zu beurteilen, als sie aussieht. Aber das Exklusivmerkmal oder Beinahe-Exklusiv-Merkmal lassen sich diese Deutschen nicht so ohne weiteres streitig machen. Ja, das Ganze ist gruselig und widerlich, aber es ist die Realität. Wer aus Völkermord politisches Lagerkapital schlägt, hat moralisch nicht alle beisammen.

Der damalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, hat der Autorin in einem Interviewgespräch kurz vor seinem Tod im Jahr 2000 seinen Satz erläutert, dass die Deutschen den Juden den Holocaust nicht verzeihen könnten, weil sie sich an den Juden schuldig gemacht haben. Das ist aber nur die eine makabre Realität. Die andere ist die politische Funktionalisierung des Holocaust für gegenwärtige Zwecke.

In großen Reden zum Sonntag nehmen sich einzelne Personen Rechte heraus, die anderen Deutschen zu schelten, zu maßregeln, zu belehren und Nie-wieder-Holocaust zu fordern, dem es vorzubeugen gelte. Völkermord gemäß Uno-Definition, das ist im politischen Diskurs die Königsklasse, um es so zynisch auszudrücken, wie es ist.

Also in Sachen Völkermord gibt es keinen Kompromiss. Nur mit der Türkei wird ein solcher Kompromiss als politisch opportun verkauft und das im gesamten Westen. Am liebsten kehrt die westliche Nomenklatura den türkischen Völkermord an den Armeniern, der, was die faktische Seite anbelangt, seit langem als bewiesen gilt, erdogangefällig nonchalant unter den Tisch. Zuerst wurde eine schon beschlossene Resolution des Bundestages von Rot-Schwarz im Oktober 2015 klammheimlich kassiert, um Erdogan nicht zu verärgern, dessen Wohlwollen man für den Türkei-Füchtlingsdeal bräuchte: Ein deutlicher Rückschritt gegen die Politik der Anerkennung des türkischen Völkermordes, wie Bundespräsident und Gauck und Bundestagspräsident Lammert sie bereits verfolgt hatten.

Und jetzt setzt Erdogan noch eins drauf: Die Türkei verlangt von der EU, die Subvention von 200.000 Euro für das Konzert Aghet der Dresdner Sinfoniker zu streichen, weil in dem Stück der Völkermord und das Wort Genozid auftauchen. Die EU, wohl gemerkt die Spitze Europas, hat daraufhin die Bewerbung des Stückes, die nächste Aufführung ist am 30. April, gelöscht. Auch der Intendant Markus Rind ist von türkischer Seite aufgefordert worden, die Begriffe „Genozid“ und „Völkermord“ aus der Aufführung zu streichen.

Die EU will ernsthaft über die Kunstfreiheit neu diskutieren und den Völkermord sanfter benannt sehen. Die Grundrechte sind allerdings ebenso wenig verhandelbar wie die Tatsache des Völkermordes. Das ist die Weisheit, die die Merkels sonst ununterbrochen absondern.

Alle, von Merkel bis Obama, tanzen um diesen Brei herum. Noch-nicht-Präsident Obama sprach einst von „Völkermord“ der Türken gegen die christliche Minderheit der Armenier im Land, der vor 101 Jahren begann. Aber seit der große außenpolitische Versager Obama im Weißen Haus sitzt, hat er sich auf das Verklausulieren verlegt und das Wort „Völkermord“ vermieden, oder soll man sagen, verweigert?

Die westliche Welt mit ihrer Führungsmacht Amerika an der Spitze hat alle global ökonomischen Machtmittel in der Hand. Sie hat alle geostrategischen Werkzeuge in ihrem Besitz. Sie ist mit den Großmächten China und dem im Westen notorisch im Vergleich zu China unterschätzten Indien bestens vernetzt und auch der Konflikt des Westens mit dem russischen Präsidenten Putin ist eine höchst peinliche und artifizielle Extravaganz, die sich einige westliche Führer gern leisten, die sie aber jederzeit aufzugeben in der Lage wären.

Der Westen kommt ohne die Türkei zurecht

Wer ist dagegen Erdogan? Was ist dagegen die Türkei? Ist die Türkei, wenn Erdogan es denn gern so hätte, wirtschaftlich und militärisch für den Westen problemlos verzichtbar? Sie ist verzichtbar. Alles Gerede von der geostrategischen Lage und von der Brückenfunktion zwischen Okzident und Orient ist abgestandene lauwarme Luft aus vergangenen Zeiten. Erdogan nicht verärgern, weil man seine Türkei, die ja nun wirklich nicht gleichzusetzen ist mit Erdogan, die Erdogan aber derzeit auch mit Hilfe des kuschenden Westens eisern im Griff hat, bräuchte, für die Lage vor Ort und überhaupt für fast alles auf dieser Welt, ist nur mit einer schief gelaufenen Gruppendynamik in den westlichen Führungsetagen zu erklären, wo sich die Regierungen viel zu häufig auf irgendwelchen Supermeetings treffen, statt an den heimischen Präsidenten- und Kanzlerschreibtischen zu arbeiten und sich um ihre Bürger zu kümmern.

Mal eine Videokonferenz einlegen und zeigen, dass man die viel beschworenen neuen Kommunikationstechniken zu nutzen weiß, nicht soviel an Erdogan denken, schön fleißig sein und schwups verschwinden die falschen Gedanken bei den Merkels und Co., wenn sie die Erdogan-Türkei in ihren Blick nehmen.

Gerade verlangt Erdogan von der Schweiz, dass sie ein harmloses kritisches Bild aus einer Ausstellung in Genf entfernt. Haben die wackeren Eidgenossen sofort den türkischen Botschafter einbestellt und ihm sehr laut und öffentlich mitgeteilt, dass sie sich Erdogans Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten und in das Grundrecht der Pressefreiheit verbitten? Nein. Gerade sind ein deutscher, ein amerikanischer, eine niederländische Journalistin an der türkischen Grenze festgehalten oder abgewiesen worden, ohne stichhaltige Begründung.

Haben die amerikanische oder die niederländische oder die deutsche Regierung Erdogan dafür gehörig abgemahnt? Nein, natürlich nicht. Am Tag vor dem Böhmermanngedicht zur Person Erdogan hatten Erdogans Bodyguards, die in dieser Hinsicht häufiger auffallen, gezielt US-amerikanische Journalisten und Kurden, die von ihrem Demonstrationsrecht in Amerika Gebrauch machten, be- und abgedrängt – dies mit physischer Gewalt, während ihr Chef Erdogan gleichzeitig in Washington von seinem freien Rederecht Gebrauch machte. Gab es offenen diplomatischen Druck aus dem Westen? Nein.

Ja, wer die Zeit rückwärts verfolgt, hat seine wahre Freude an den Erdoganschen Aktivitäten gegen die Pressefreiheit in der Türkei und außerhalb der Türkei. Aber wir brauchen die Türkei nicht für die Zuwanderer, für die alle Deutschen sich einzusetzen hätten, sondern gegen die Einwanderer, deren Zuzug jetzt auch Merkel auf den Geist geht. Wir brauchen die Türkei gegen Russland, gegen den islamistischen Terror und gegen und gegen. Und für und für. Und wir brauchen die Erdogantürkei und deswegen machen wir uns auch klein mit Hut und gehorchen Erdogan, wenn er befiehlt, besagten türkischen Völkermord gegen die christlichen Armenier zu beschweigen. In der Türkei selber gibt’s eins hinter die Löffel für jeden, der den türkischen Völkermord thematisiert.

Wer Völkermord in Wahrheit gerade nicht ernst nimmt, verletzt posthum die Interessen auch derer, die durch Völkermord starben und routinemäßig mit vielen schönen Wörtern in den Sonntagsreden bedacht werden. Was Erdogan persönlich gefällt, ist kein Gebot im Westen, und was ihm persönlich missfällt, ist kein Verbot im Westen. Beides ist für den Westen völlig irrelevant. Der Westen predigt Demokratie, tut aber faktisch alles zu deren Unterdrückung in der Türkei.

Erdogan holt aus dem Westen raus, was rauszuholen ist

Beispiel Merkel: Sie stachelt in ihrer schief liegenden und journalistisch noch nicht vollständig analysierten Ermächtigung der Mainzer Staatsanwaltschaft zur Aufnahme des Ermittlungsverfahrens gemäß § 103 StGB gegen den Satiriker Jan Böhmermann die türkischstämmigen Deutschen an, sich mit Erdogan zu solidarisieren und Böhmermanns Gedicht, das Erdogan als Angriff auf alle Türken und Muslime ansieht, als Angriff auf sich selber auch tatsächlich wahrzunehmen und sich so ebenfalls gegen die deutsche Pressefreiheit zu engagieren.

Türkischstämmige Deutsche sind in allen Zusammenhängen Deutsche zu nennen. Nur wenn es für die Türkei und gegen Deutschland geht, werden sie von Merkel und Co. nicht routinemäßig weiterhin als Deutsche gesehen, sondern als Deutsche mit türkischen Sonderinteressen, auf die im Kontext besondere Rücksicht zu nehmen wäre. Zugleich fördert Merkel Integrationsprobleme, indem sie türkischstämmige Deutsche in eine Identifikation mit der Türkei und eine Entidentifizierung mit Deutschland treibt, in die sich manche türkischstämmige Deutsche allerdings auch treiben lassen. Und das liegt wiederum daran, dass Erdogan schon seit Jahren routiniert nach Deutschland hineinregiert und ein rechts spezielles Verhältnis zu den Deutschen mit türkischen Wurzeln unterhält und auch zu den muslimischen Institutionen.

Der Druck der westlichen Nomenklatura, Erdogan wohlwollend unangetastet zu lassen, ist immens und auch der Druck der westlichen Medien. Bei aller punktueller Erdogankritik ist die Erdogan-Beschönerei derart überwiegend, dass die Realität der Erdoganschen Grundwerteprobleme völlig aus dem öffentlichen Blick verschwunden ist.

Der Vorsitzende der Grünen Cem Özdemir hat seinen Durchblick in der Türkeipolitik behalten und positioniert sich und damit die grüne Partei erfreulich unaufgeregt kritisch gegenüber der Türkei, wo Kritik geboten ist. Özdemir weist klar und unmissverständlich auf den türkischen Völkermord gegen die Armenier hin und will diesen auch der türkischen Bevölkerung ins Gedächtnis bringen.

Übrigens: Merkel sprach in ihrer Begründung zu der oben erwähnten Ermächtigung von der Allianz mit der Türkei innerhalb der Nato. Hat die Türkei mit (türkischen) Nato-Waffen einen russischen Kampfjet vom Himmel geholt? Verwendet die Türkei (türkische) Nato-Waffen in ihrem Bürgerkrieg gegen die eigene kurdische Bevölkerung? Welche höchst eigenen Interessen verfolgt die Erdogan-Türkei in Syrien und im Konflikt der Region?

Um auf den Anfang zurück zu kommen: Erdogan holt aus dem Westen raus, was rauszuholen ist. Das muss er zwar nicht tun, aber es ist ihm am wenigsten anzulasten, angesichts der Tatsache, dass der Westen seine höfischen Diener und seinen höfischen Knicks höchst freiwillig und höchst ehrerbietig apportiert.

Obama hat unlängst, offenbar aus gegebenem Anlass, die Pressefreiheit in der Türkei abgemahnt und sich prompt einen Rüffel von Erdogan eingefangen. Wer ist denn nun der mächtigste Mann der Welt?