Tichys Einblick
Bettina Röhl direkt - Teil 1 über die Destruktion von "Sex, Drugs & Rock'n Roll" - Teil 2 am kommenden Dienstag

Der große Frust der Freien Liebe

Die Ideologie der „Freien Liebe“, die in den sechziger Jahren die Gesellschaft über die Menschen kam, ist ein verkanntes Problem.

Die Freie Liebe zersetzt die westlichen Gesellschaften, weil sie die Beziehungsfähigkeit von Männern und Frauen zerstört und dies bis in die jüngsten Generationen hinein.

Es ist ein großer allgemeiner Irrtum, dass vor allem der Feminismus oder der ihm nachfolgende Genderismus (die großes Zerstörungspotenzial in sich tragen) die Gesellschaft beschädigt hätten. Den Hauptschaden haben die westlichen Gesellschaften womöglich durch den Irrglauben der Freien Liebe erlitten, der Ideologie, dem Fantasma der Freien Liebe, der Blumenkinderei, gegen die so gut wie niemand resistent war und ist. Vor allen Dingen bei den Männern ist der Irrglaube stark vorhanden, dass vieles mit den Frauen deswegen schief läuft, weil der Feminismus /Genderismus ihnen die Frauen gleichsam abspenstig gemacht hätte. Stattdessen hat ein anderes Phänomen, das viel stärker ist, Männer und Frauen auf der Freien Liebe ausrutschen lassen und sie gegenseitig so verunsichert, dass sie beziehungsunfähig geworden sind. Freie Liebe? Ja. Ist das nicht ein alter Hut aus den sechziger Jahren? Im Prinzip ja. Sind wir da nicht längst drüberweg und überlegen? Leben wir heute nicht die absolute Freiheit und haben das alles mit Augenmaß im Griff? Was ficht uns die Freie Liebe heute noch an? Die Freie Liebe, die heute in der Erscheinungsform der offenen Beziehung, der On-Off-Beziehung, der „Ich-weiß-nicht-ob –wir-zusammen-sind“-Beziehung und in der „Ich -weiß –nicht- ob-ich-will-Beziehung“ zu besichtigen ist, ist eine der unerkannten großen Zerstörungsideologien, die die Gesellschaft im Griff hat.

„Freie Liebe“ ist fast so etwas wie ein Terminus Technikus geworden und jeder versteht, obwohl der Begriff überhaupt nicht wirklich in einem konsensstiftenden Sinn definiert ist, doch erstaunlich genau das, was sein jeweiliger Nachbar auch darunter versteht. So gesehen ist „Freie Liebe“ eine Begrifflichkeit, über deren Sinngehalt und Beschreibungswert – unabhängig davon wie der Einzelne zur freien Liebe steht – im öffentlichen Diskurs ein hohes Maß an Übereinstimmung besteht. Liebe und Freiheit sind zwei Seiten derselben Sache oder sollten es sein. Liebe sollte frei sein, freiwillig sowieso. Wer liebt, sollte kraft seiner Liebe frei sein. Vor allen Dingen: Der freie Mensch ist der liebesfähige Mensch. Liebe schenkt Freiheit. Oder: Lieben befreit.

Und die Freiheit liebt man nicht nur, sondern die Freiheit ist eben auch die Freiheit zu lieben. Derartige Wortspiele ließen sich sowohl rhetorisch als auch mit immer neuen Detailaspekten eine Weile fortsetzen. Liebe ist bekanntlich ein Wort, das es vor allem deswegen in sich hat, weil in ihm so viele Regungen, Handlungen und Projektionen enthalten sind, die diffus irgendetwas miteinander zu tun haben und gleichzeitig gar nichts: Die Liebe zu seinen Kindern, die Liebe zu einem Partner, die Liebe zu Gott, die Liebe zur Welt, die Liebe zu einem Land, einer Kultur, einer Religion – alles ganz unterschiedliche Empfindungslagen und Ausdrucksformen. Und dann ist da noch der Sex. Liebe als Synonym für sexuelle Attraktion, für die animalische körperliche, auf den Orgasmus hin gerichtete Interaktion oder autonome Aktion. Liebe hat immer die Spannung von der seelischen und der körperlichen Liebe in sich, die gleichzeitig oder unabhängig voneinander gelebt werden.

Ist die freie Liebe die wahre Liebe?

Mit „Freier Liebe“, auch Libertinage genannt, hatten die Vertreter dieser Ideologie, die Ende der sechziger Jahre Hochkonjunktur hatte, nachdem sie in den Avantgarden bereits seit dem 19.Jahrhundert als Ideal immer wieder aufgetaucht war, eine ganz trickreiche und überaus werbewirksame Vokabel gefunden. Mit der „Freien Liebe“ ist – selbst auch aus der Sicht derer, die der freien Liebe nicht zugetan sind, also aus der Sicht derjenigen, die der freien Liebe nur neugierig, ängstlich, ablehnend oder aus sonstigen Motivlagen heraus eher feindlich gegenüber stehen – eine sexuelle Betätigung zwischen zwei oder mehreren Menschen gemeint, die nicht durch einen Trauschein, eine Ehe oder eine sonstige Konvention und ohne eine über den Moment hinausgehende Verabredung gebunden sind.

Mit der freien Liebe meinen deren Apologeten idealtypisch, dass jeder Mensch durch die Bindungslosigkeit der sexuellen Betätigung den sozusagen besseren Orgasmus mit der höheren Eintrittswahrscheinlichkeit erleben würde. Die Orgasmusfähigkeit würde also durch den bindungslosen Sex qualitativ und quantitativ erhöht. Das hört sich doch gut an. Und gleichzeitig – und das ist der Trick – schwingt in der Vokabel „Freie Liebe“ immer auch mit, dass die höhere, wirkliche, wahre Liebe, die seelische Verbindung, die emotionale, die geistige und gar die transzendentale Verbindung zwischen den Menschen besser (und gar beständiger) funktionierte und zustande käme, wenn der Sex an keinerlei Voraussetzungen und Regeln gebunden sei. Freie Liebe wäre demnach die wahre Liebe, in dem sie eigentlich erst die divergierenden Aspekte, die sprachlich in dem Wort Liebe zusammengefasst werden, auch substanziell miteinander verbände. Freie Liebe als Synthese, als Legierung aller Zwischenmenschlichkeit vom Körperlichen bis zum Geistigen. Oh, welch Glück!

Diese Frage stellt sich in der Tat: Ist die Freie Liebe das Paradies oder die Hölle? Glück oder Unglück? Oder ist die „Freie Liebe“ eine (gefährliche) Ideologie, die den Menschen an seiner empfindlichsten Stelle anpackt, nämlich an seiner Sexualität?

Ja, ganz nonchalante, habe ich jetzt die Freie Liebe eine Ideologie genannt. Die Anbeter der Freien Liebe wären mit diesem Begriff vielleicht nicht einverstanden, denn die Anbeter der freien Liebe halten ihre „Erfindung“ ja gerade für die Befreiung von den ideologischen Konventionen, die in der Menschheitsgeschichte in fast allen Kulturen die Sexualität mit destruktiven Fesseln in Gestalt zum Beispiel der Ehe, der Monogamie, des Verbotes der Homosexualität, des Inzestverbotes und des Verbots von Sex mit Kindern usw. geknebelt hätten. Und tatsächlich meinte Freie Liebe als Bewegung keineswegs in erster Linie, dass Menschen, endogen gesteuert, frei der Liebe und der Sexualität frönen sollten, sondern mit Freier Liebe war immer eine Rezeptur gemeint, ein Handlungsschema, vermittels dessen die von den Konventionen verklemmten Menschen befreit würden und den wahren Sex entdecken könnten. Freie Liebe war also immer ein manipulativer Eingriff der Besserwisser, der Sexgurus, in das Leben und das Gefühlsleben der noch nicht bekehrten sogenannten Sexspießer. Will sagen: Wenn Menschen früher von sich aus eine unkonventionelle sexuelle Beziehung unterhielten, war das eine individuelle, im besten Falle freie Entscheidung, die überall und zu allen Zeiten von Menschen getroffen wurde. Diese faktisch frei gelebte Sexualität / Liebe war ohne größere gesellschaftliche Relevanz. Man muss also unterscheiden zwischen frei gelebter Sexualität/Liebe unter Individuen und dem gesellschaftsrelevanten Phänomen der Freien Liebe, die gesellschaftliche Zwangsneurosen nach sich zog. Letzteres nenne ich Ideologie, eine Ideologie, die in ihren Exzessen, um es vorweg zu nehmen, diktatorische Züge annahm und die Individuen und die Gesellschaften von innen zersetzte.

Das Faszinosum Sex

Das Faszinosum Sex, der Orgasmus als kurzer Blick ins Paradies und die natürliche Scham und die Angst, vordergründig vor ungewollter Schwangerschaft oder vor Ansteckung mit oft nicht ungefährlichen Krankheiten, erzeugten in der Menschheitsgeschichte, ohne dass Scham, Ängste vor Schwangerschaft und Krankheit auch nur in irgendeiner Weise vergleichbar wären, immer schon eine schwierige Gemengelage. Und noch viel schwieriger wurde und wird es, wenn man ins Eingemachte geht, wenn man sozusagen an das Unaussprechliche, an die Sehnsüchte, die Phantasien, die Versagensängste und die Leidenschaften denkt, die den Menschen mit den widersprüchlichsten Bildern durch den Kopf jagen. Wenn man an die Besitzansprüche, Eifersüchte, Allmachtsphantasien und Minderwertigkeitskomplexe denkt, wenn man also die volle Komplexität des Themas, der Kategorie des Genres Sex und Liebe in den Focus nimmt.

Wem es in der subjektiven Wahrnehmung eines anderen Menschen gelingt als lässiger Sexkönner- und wisser, also als Sexriese dazustehen, der hat sehr viel Macht über den anderen, der sich im sexuellen Bereich automatisch unterlegen fühlt. Die Freie Liebe produzierte so von Anfang an ihre Gewinner und ihre sehr vielen Verlierer. Dachten eben die meisten Menschen noch, meist vollkommen zu recht, sie seien sexmäßig guter Durchschnitt, wurden sie in den sechziger Jahren von dem Tsunami der Freien Liebe überspült und angefixt und fanden sich plötzlich im Stadium einer großen Verunsicherung wieder, nämlich in dem Stadium zwischen dem Willen nach Freier Liebe und der Angst vor Freier Liebe. Das war der Anfang vom Ende. Und gleich am Anfang wurde deutlich, dass die Freie Liebe vor allem eine männlich dominierte Sekte war, die allerdings das Leben von Frauen und Männern gleichermaßen tangierte und oft genug beschädigte. Freiheit in der freien Liebe hieß de facto immer Freiheit für den wilden Rammler oder, wie es in einem berühmten Schlager hieß: Macho, Macho kannst net lernen, Macho Macho musst halt sein. Freie Liebe ist eine Macho-Sekte.

Der durchschnittlich begabte Mann erlitt schnell viele Traumata. Entweder machte seine Freundin dieselben Sexexperimente, hatte Sex mit dem Macker in der Clique oder irgendeinem anderen, und verließ ihn oder er konnte, auch wenn sie ihn nicht verließ, darüber nicht hinweg kommen oder sie verzehrte sich in Eifersucht und beidseitiger Frust führte zum Zerstreiten. Auch wer eine ganz große Lovestory hatte, wurde von der Freien Liebe, deren Karussel sich unerbittlich weiterdrehte und jede Liebesgeschichte wieder zerstörte, wieder rausgerissen.

Die Freie Liebe führte also zu einer großen allgemeinen Desorientierung und war der erste große Treibsatz zur Versingelung der Gesellschaft durch den hemmungslos beziehungszerstörenden Zeitgeist, der der Freien Liebe huldigte, und ohne dass es den Menschen bewusst ist, bis heute huldigt. Sexueller Leistungsdruck vor allen Dingen für Männer gehört zur Freien Liebe, ebenso wie die Verunsicherung vieler Männer durch nicht so viele, aber auch nicht so wenige Frauen, die plötzlich sexuell fordernd auftraten und Leistungsdruck bei den Männern erzeugten. Der wahrscheinlich nicht seltene Traum vieler Männer von der jederzeitigen Verfügbarkeit einer Frau hat viele Männer in die Falle der Freien Liebe gelockt. Und allzuviele Frauen machten aktiv mit, weil sie die Freie Liebe für absolut angesagt hielten und auf keinen Fall als Spielverderberin dastehen wollten. Freie Liebe suggeriert die Abwesenheit von Eifersucht.

Wenn man einigermaßen distanziert und fair auf das Phänomen freie Liebe blickt, wird man kaum umhin kommen, dass die freie Liebe ein primär männlicher Wunschtraum ist und das folgerichtig der anti-maskuline Feminismus (Alice Schwarzer) den endgültigen Sieg der sexuellen Revolution, der freien Liebe, verhindert hat. Wenn man von der maskulinen Dominanz spricht, muss man auf eine Tatsache hinweisen, die auch schon für die Beurteilung der Avantgarden der letzten 150 Jahre und auch etwa der berühmten Paare Anais Nin und Henry Miller, Simone de Beauvoir und Jean Paul Satre galt: Männerdominanz heißt immer Dominanz weniger Platzhirsche, die nicht nur die Frauen dominieren, sondern auch ihre männlichen Artgenossen und letztere oft noch viel mehr. Schließlich, was will ein Platzhirsch? Er will, dass alle anderen Hirsche demütig abhauen. Das will er womöglich noch viel mehr, als dass er alle Hirschkühe für sich alleine haben möchte. Insofern sind sehr viele Frauen, aber auch genauso viele Männer frustriert, verletzt, traumatisiert von ihren Erfahrungen mit der Freien Liebe. Und den meisten Männern fällt es noch schwerer das zuzugeben.

Eine sexuelle Geschichte zwischen Menschen erzeugt eine besondere Geschichte
Freie Liebe postuliert, dass sie Eifersucht abschaffen könnte. Eifersucht darf nicht sein, jeder ist gehalten keine Eifersucht zu haben. Dies ist allerdings etwas, was die freie Liebe weder theoretisch noch praktisch zu leisten in der Lage ist. Trotzdem wird jeder, der eifersüchtig ist als unfähig, als nervig, als Zerstörer und als Sexversager verurteilt und ausgegrenzt. Von wem? Vom Diktat der Freien Liebe. Es gibt bekanntlich nicht nur die positive Affinität zum Beispiel zwischen einem Mann und einer Frau, Es gibt auch negative, aggressive Abstoßungsmomente. Und es gibt sehr häufig den Fall, dass ein Mann eine Frau begehrt, die Frau den Mann aber nicht. Oder umgekehrt. Es gibt mehrere antagonistisch einander widerstrebende Gefühlslagen gleichzeitig in jedem Menschen. So kann man einen anderen gleichzeitig attraktiv und unattraktiv finden. In jedem Fall gilt: Wenn zwei Menschen sich begegnen und Zeit miteinander verbringen, haben sie eine Geschichte. Und dieser Geschichte kann jeder nur in Grenzen entrinnen. Auch wenn sich zwei Menschen, die eine Geschichte haben, trennen, trägt jeder diese Geschichte weiter in sich. Das heißt, je intensiver die Geschichte zwischen Menschen, desto prägender ist sie und desto dynamischer ist ihr Einfluss auf die Sehnsüchte und die Phantasien. Gefällt Jemandem ein Mensch will er auf diese Weise mehr von ihm. Bekommt er mehr, gefällt er ihm besser oder im negativen Fall schlechter. Wer Intimität und Sexualität als die in Wahrheit wichtigsten Bereiche des Menschen begreift, was zu tun recht plausibel erscheint, der wird nicht darüber hinweg täuschen können, dass eine sexuelle Geschichte zwischen Menschen eine besondere Geschichte erzeugt. Und diese Geschichte, die Existenz einer solchen Geschichte, wird von den Propagandisten der Freien Liebe – oder vielleicht sollte ich sagen, von den Propheten – immer wieder verkannt bzw. geleugnet.

 

Freie Liebe ist ein tückischer Begriff. Einerseits wird vorgegaukelt, man könne Sex und Liebe vollkommen trennen, andererseits wird vorgegaukelt, als erreichte man auf der höchsten Glücksebene die Vereinigung von Sex und Liebe. Im realen Leben wird es in der Regel allerdings so sein, dass eine exzessiv gelebte freie Liebe eine Liebe im Haifischbecken ist, in dem es am Ende nur Jäger und Gejagte, Leidende, Herrschende, Triumphierende, regelrecht Auffressende und Gefressene gibt. Das jedenfalls ist die zu beobachtende Phänomenologie der Freie-Liebe-Sekten, die es in den letzten Jahrzehnten gab, in kleinen Kommune-Zirkeln der 68er-Bewegung, in vielen WGs, in der Otto-Mühl-Kommune, an der 15000 Menschen als Gast oder fester Bewohner teilnahmen oder auch, muss man heute wohl sagen, in Institutionen wie der Odenwaldschule, wo die „freie Liebe“ zwanghaft wurde, zum System wurde. Auch hier war das Diktat der Freien Liebe, der wortlose Druck, dass jeder, der nicht mitmacht, ein freudloser Spielverderber sei, mit dem irgendetwas nicht stimmte, also die Ideologie der Grund, weshalb es für die Opfer so schwer war und anhaltend ist sich zu wehren und in der Öffentlichkeit überhaupt auf Sympathie zu stoßen.

Und da der Begriff der freien Liebe auch suggeriert, dass es keinerlei Tabus in Sachen Liebespraktiken gibt, dass erlaubt ist, was gefällt, ohne die Antwort darauf zu geben, wem denn nun was gefällt, werden die Gewinnertypen, die Liebesgurus, die Möchtegern-Sexprotze nach mehr greifen, als ihnen zusteht. Und sie werden ihre Opfer womöglich mitreißen, wenn die sich selber unter das Diktat der freien Liebe stellen. Freie Liebe kippt schnell in das diametrale Gegenteil. Von Sex, Peace and Love war der Schritt in der jüngeren Geschichte regelmäßig nicht weit zu Drogen, Missbrauch, sexuellem Missbrauch an Kindern, Mord, zur Versektung und zu Sklaverei. Hört sich dramatisch an, ist aber in der noch jungen Geschichte der Freie Liebe keine seltene Entwicklung. Auch frustrierte, gebrochene, vereinzelte Menschen, die ein paar Exzesse freier Liebe mit ihrem Lebensglück bezahlten, waren und sind keine Seltenheit in dieser Gesellschaft. Menschen, die im Intimbereich, körperlich, aber auch ganz unblutig seelisch traumatisiert wurden, haben allzu oft Verletzungen, die sie nicht auf die Freie Liebe zurück führen, weil sie sich immer noch dem Diktat beugen nicht der Spießer, nicht der Spielverderber gewesen zu sein. Das wäre der unsichtbare große Frust der Freien Liebe, der große Frust, den die Freie Liebe in viel zu viele Gesichter geschrieben hat. Die freie Liebe ist einerseits ein Gebot manch einer Sekte gewesen und andererseits ist die freie Liebe auch in der Empfindungslage des Mainstream mitten in der Gesellschaft angekommen. Und das hat auch einen Grund: Menschen sind, wie gesagt, an kaum einer anderen Valenz so leicht und so intensiv berührbar, anfixbar und verletzbar wie an ihrer sexuellen Valenz. Dort sind sie anschaltbar und abschaltbar. Und dort sind sie manipulierbar.

Liebe zieht nicht mehr. Sexualität verbindet nicht mehr

Die nachfolgenden Generationen, altersmäßig herunter bis zu den heute Zwanzigjährigen haben sich in der durchversingelten Welt eingerichtet und leben in der Überzeugung den Spieß umgedreht zu haben. Für sie, besonders auch für die jüngeren Frauen, ist das höchste Glück eine geradezu verabsolutierte Form von Autonomie, in der sie die Glückseligkeit zu finden glauben. Autonomie vom Partner und selbst Autonomie, von den noch nicht einmal gezeugten potenziell eigenen Kindern, von den eigenen Eltern sowieso, und Autonomie vom anderen Elternteil des eigenen Kindes ohnehin und ein, auch wirtschaftlich gesehen, individuell verantwortlich geführtes Leben. Das sind die ideologischen Fallen der Zeit. Eine Gesellschaft, die die individuelle, die familiäre Bindung unter Generalverdacht stellt, eine Gesellschaft, die sich in Wahrheit entsexualisiert, eine Gesellschaft, in der immer mehr Menschen mit immer mehr Menschen sexuelle Kontakte haben, in der aber gleichzeitig die Sexfrequenz zurück geht, verliert den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das ist ganz aktuell von entscheidender Bedeutung.

Die Freie Liebe hat die Menschen stumpf gemacht. In der wunderschönen bunten Welt ist Beliebigkeit eingekehrt. Die Liebe zieht nicht mehr. Sexualität verbindet nicht mehr. Eine absolute Coolnis ist angesagt, aber sie ist als Schutz auch nötig. Niemand traut sich Wünsche oder gar Forderungen zu erheben. Und offenbar ist Niemandem bewusst, dass dies immer noch ein Diktat der freien Liebe ist, ein Diktat der Ideologie, die die Gesellschaft in den sechziger Jahren eroberte. Es wird geredet und geredet und geredet, und die Menschen steigern sich gleichzeitig in das Gefühl hinein, dass sie sich perfekt in ihrem auf Nichts-und Niemanden-Angewiesensein eingerichtet hätten. Die große Traumprinz/Traumprinzessin-Sucherei ist zu einem nervösen Volkssport geworden, der in grauenvollsten TV-Shows zelebriert wird, und der die Konten der Datingagenturen füllt. Allerdings steht von vorne herein fest, dass auf dem Parkett der Freien Liebe kein Date eine realistische Chance hat. Jeder Datingpartner erscheint mit seiner Datingfassade zum Treffen 1, während er weiß, dass er noch zwanzig weitere Dates abzuarbeiten hat. Jeder Dater wartet auf den großen Knall, den er selber verunmöglicht und den er auch selber nicht mehr hören könnte. Diese innere Auflösung der Gesellschaft macht sie unfähig sich mit den Herausforderungen von außen auseinander zu setzen.