Tichys Einblick
Benehmen Sie sich!

Politik ohne Kultur

Der 2. Juli 2018 wird dermaleinst als Wegmarke für Stil und Anstand gelten. Nichts ist mehr so wie vorher. Merkels Regentschaft hat die politische Kultur zerstört. 

John MacDougall/AFP/Getty Images

Was ist eigentlich politische Kultur, was ist politischer Stil? Braucht eine erwachsene Demokratie solch vermeintlich antiquiertes Handwerkszeug, sollte eine emanzipierte und selbstbewusste Gesellschaft den Anstand der sie Regierenden zum Maßstab für den gesenkten oder gehobenen Daumen machen? Wir sollten uns alle den 2. Juli 2018 als Landmark einprägen, als Wasserscheide für den Begriff von politischer Kultur. Nichts ist mehr so wie vor diesem Tag und wir alle haben es jetzt in der Hand zu entscheiden, ob es ein endgültiger Abschied ist, ob Politik nur noch ohne Kultur, Stil und Anstand möglich ist.

Gewissenserforschung ist ja eigentlich etwas für geweihte Räume der Kirchen und wie diese eher aus der Mode gefallen. Sie kann aber hilfreich sein bei der Bewertung außergewöhnlicher Vorgänge. Als denn: Wie sehr haben wir das politische Gemetzel der vergangenen Tage zwischen „Schwesterparteien“ mit klammheimlichen Voyeurismus verfolgt? Wie sehr haben wir dem aberwitzigen Treiben insgeheim oder gar offen eine Verlängerung gewünscht, es suhlt sich so schön, wenn die Dolche zwischen den Gewändern blitzen. Wie sehr haben wir unsere politische Kultur zum Teufel gejagt, weil es hier um ja um Größeres ging: den politischen Mord an einer inzwischen derart verhassten Kanzlerin, dass dafür auch jedes auch noch so stümperhafte Mittel recht ist. Wie sehr zählt für uns nur noch genau dieses Ergebnis: Merkel muss weg?

Der 2. Juli 2018 ist auch deswegen ein denkwürdiges Datum, weil er in aller Brutalität zeigt, wie unter unseren Politikern dieses Land kulturell und stilistisch verlottert ist. Gebrochene Worte, absurde Versprechen, Rücktritte von Rücktritten, Verwechslung von Amt und Person („Ich lasse mich nicht von einer Kanzlerin entlassen, die nur wegen mir Kanzlerin ist“), Großmannssucht der kleinen Geister, schamlose Geiselhaft staatlicher Institutionen für randständige Parteiinteressen: auf der nach unten offenen Benimm- und Stilskala gibt es keine Halten mehr, jede Benchmark wird geschlagen, das Niveau sinkt ins Bodenlose. Und wir sinken frei nach Max Liebermann mit: „ick kann ja nich so viel fressen wie ick kotzen möcht“.

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Was für eine verheerende Bilanz von 12 Jahren Angela Merkel auch in dieser Kategorie. Denn selbstredend ist ein Regierungschef immer auch verantwortlich für politische Kultur, für das Niveau und den Stil von Debatten und Auseinandersetzungen, ja auch für das Entwickeln von Visionen, auch wenn der chronisch überschätzte Staatsbeamte Helmut Schmidt lieber zum Arzt ging. Wenn nur die „Sache“ zählt und alles vom „Ende her gedacht“ wird, verkommt Politik zu kalter Technokratie, zum emotionslosen Abarbeiten von Vorgängen. Politik ohne jede Empathie lässt die Handelnden wie Wolfsrudel zurück, Politik ohne jede Empathie zerstört schleichend jede demokratische Kultur und dann auch demokratische Struktur.

Der 2. Juli 2018 wird eines Tages den Zeitgeschichtlern herhalten müssen, wenn sie einen Zeitpunkt für Politik ohne Kultur in diesem Land ausmachen werden. Für den endgültigen Zerfall von gewohnten Strukturen, von Parteien, von Tabus. Ab jetzt darf jeder, wie er will, keine Rücksicht, keine Kollegialität, kein Worthalten, ach ja, auch keine ausgefeilte Strategie für weiter fällige politische Auseinandersetzungen mehr: alles kann in Minuten wieder abgeräumt und „entschuldigt“ werden. Der Holzhammer hat das Florett endgültig abgelöst.

Und es wundere sich bitte niemand, wenn die Konkurrenz nun wacker einsteigt ins stillose Geschäft. Die SPD, für die hier sogar eine Chance läge, sich als Gralshüter politischer Kultur abzusetzen von den christlich-demokratischen und christlich-sozialen Totengräbern, wird über alles springen, was mal ein Stöckchen werden will. Die politische Kultur der Sozialdemokraten ruht schon seit langem am Denkmal des unbekannten Parteisoldaten.

Die AfD wird sich rühmen und preisen („Jetzt sehen Sie, wie Jagd geht“), dass sie eine neue Variante von politischer Kulturlosigkeit ersonnen hat (Frau Weidel, ist das denn wirklich schon „Jagen“, wenn man nur anderen beim Kesseltreiben zuschaut?), die Grünen werden sich noch schamloser als bisher für eine gepflegte Öko-Gesinnungsdiktatur empfehlen, die FDP jede Zurückhaltung fahren lassen und sich wieder zur Klientelpartei degradieren.

„Wir müssen auch auf unsere Umgangsformen achten“, erfrecht sich der bayerische Ministerpräsident Söder am Tag darauf zu mahnen. Wer ist wir, Herr Söder? Sie nicht mehr, Sie und Ihre stillosen Truppen haben in dieser Kategorie jede Unschuld verloren, Sie sind raus!

Wir sind wir! Wir haben eine Verantwortung, dass der 2. Juli 2018 nicht der Abschied von politischer Kultur war. Wir müssen auf unsere Umgangsformen achten!