Tichys Einblick
Fördermittelkürzung

Wie die EU Orbán bezwingen und die Visegrád-Gruppe spalten will

Erstmals setzt die Europäische Union den neuen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ein – gegen Ungarn. Polen bleibt vorerst ungeschoren, wohl weil es sich im Ukraine-Konflikt EU-konform verhält.

IMAGO / TT

Wenn die EU-Maschinerie Nachrichten gebärt, so geschieht dies meist nach langen Wehen und ohne jede Überraschung. Der Ultraschall hat ja längst gezeigt, was da im Werden ist. Trotzdem ist dann die Aufregung groß: Es ist ein Rechtsstaatlichkeitsmechanismus!

Dieses neue Instrument der Brüsseler Bürokratie wurde am Mittwoch erstmals von der EU-Kommission aktiviert, gegen Ungarn. Genauer gesagt, die Kommission ermächtigte den zuständigen Kommissar, Johannes Hahn, den Mechanismus zu aktivieren.

Der grüne Europa-Abgeordnete und eifrige Orbán-Bekämpfer Daniel Freund geriet ganz außer Rand und Band auf Twitter: „Endlich! (…) Bald wird es keine EU-Gelder mehr für Orbans Autokraten-Kurs mehr geben.“

Freilich wird heißer gekocht als gegessen. Das gilt auch hier. Der neue Mechanismus wird irgendwann, in Jahren, vielleicht zu begrenzten Sanktionen führen – wie es sowieso auch schon bisher, ganz ohne den „Mechanismus“ immer der Fall war. Die Antikorruptionsbehörde OLAF untersucht regelmäßig, ob EU-Gelder sachgerecht verwendet wurden, und empfiehlt gegebenenfalls die Rückzahlung bereits gewährter EU-Zuschüsse. Das passiert jedes Jahr. Der neue Mechanismus führt nur eine weitere Ebene der finanziellen Kontrolle ein. Doppelt gemoppelt, könnte man sagen, oder etwas positiver: Doppelt hält besser.

„EU-Gelder für Orbáns Autokraten-Kurs“ hat es nie gegeben, die EU unterstützt keine Autokraten und gerade erst fanden freie Wahlen in Ungarn statt, die Orbán gewann. Selbst die geschlagene Opposition erkannte öffentlich an, dass das nichts mit „Autokratie“ zu tun hatte, sondern dass sie selbst versagt hatte.

Genauso wenig hat der neue Mechanismus zum Ziel, demokratische Strukturen zu stärken oder einer imaginären „Autokratie“ den Geldhahn abzudrehen. Das sagt schon die Amtsbezeichnung des zuständigen Kommissars: Johannes Hahn kümmert sich um „Haushalt und Verwaltung“, nicht etwa um „Werte und Transparenz“ (das macht Vera Jourova).

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Der „Mechanismus“ ermöglicht Mittelkürzungen, wenn hinreichend und präzise und quantifizierbar nachgewiesen werden kann, dass Unzulänglichkeiten im Justizsystem eines Landes zur regelwidrigen Verwendung von EU-Geldern führen. Das ist mühsam. Es geht theoretisch also nicht darum, dem Land sämtliche EU-Gelder zu streichen, sondern nur solche und oft nur zum Teil, bei deren Verwendung nachgewiesen werden kann, dass Schwachstellen im Justizsystem Korruption ermöglichte, erleichterte oder gar förderte.

Auf ungarischer Seite zeichnet sich ab, dass man dem Vorwurf unzulänglicher Korruptionsbekämpfung durch die Einrichtung einer neuen Behörde zur Bekämpfung von Korruption begegnen will. Ob das reicht, bleibt abzuwarten. Der EU wäre es natürlich am liebsten, wenn Ungarn der neuen Europäischen Staatsanwaltschaft beitritt. Das ist freilich ausgeschlossen, da man in Budapest der EU genauso wenig traut wie die EU Budapest. Die Sorge in Ungarn ist, dass die EU-Staatsanwaltschaft irgendwann auch als Instrument politischer Druckausübung missbraucht werden könnte.

Anders als OLAF, eine unpolitische Ermittlungsbehörde, führt der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus eine politische und daher auch politisierbare Dimension ein. Mittel können gesperrt werden, wenn sich, nach einer langwierigen Prozedur, im Rat der Staats- und Regierungschefs eine qualifizierte Mehrheit dafür findet – 55 Prozent der Mitgliedsländer mit 65 Prozent der Bevölkerung der EU. In Kräfteverhältnisse übersetzt bedeutet das wahrscheinlich, dass Ungarn bestraft wird, falls Deutschland und Frankreich sich darauf einigen und in der übrigen EU darauf hinwirken.

Werden sie das? Bundeskanzler Olaf Scholz ist Pragmatiker und hat dazu bislang nichts gesagt. Die deutsche Industrie hat erhebliche Interessen in Ungarn. Viele deutsche Unternehmen genießen dort große Steuervorteile und direkte Subventionen des ungarischen Staates (gekoppelt mit der Bedingung, möglichst keine Arbeitskräfte zu entlassen). Denkbar, dass in bilateralen Gesprächen die ungarische Seite bedauernd anmerken wird, dass diese Leistungen für deutsche Unternehmen nicht zuletzt dank der EU-Gelder finanzierbar sind, und nicht aufrechterhalten werden können, wenn diese fehlen. Österreichische Unternehmen haben ihrer Botschaft/Regierung bereits solche Befürchtungen mitgeteilt.

Olaf Scholz’ Regierungskoalition ist aber deutlich ideologischer gepolt als der Kanzler und dürfte Sanktionen unterstützen. Zudem ist Deutschland das Land in der EU, in dem die Regierung sich am ehesten dem Druck der Medien beugt, wenn diese ein Thema intensiv aufgreifen – was zum Thema Rechtsstaatlichkeit und Ungarn durchaus zu erwarten ist.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron versteht sich gut mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und ist ebenfalls kein Ideologe. Er hat in dieser Frage bislang eher vorsichtig formuliert, was eine enge Auslegung des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus durch Frankreich nahelegt (also höchstens begrenzte Sanktionen). Andererseits spielt er sich als Vorkämpfer für eine integriertere EU auf. Es wäre keine Überraschung, wenn er Sanktionen zustimmt.

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Ein „Rechtsstaatsmechanismus“ als Mechanismus der Macht
Bei einer Abstimmung im Rat der Staats- und Regierungschefs konnte sich Ungarn bisher auf die Unterstützung der sogenannten Visegrád-Gruppe und derer mitteleuropäischen Verbündeten verlassen. Also Polen, Tschechien und die Slowakei, sowie Slowenien. Neue, liberalere Regierungen in Tschechien, Slowenien und der Slowakei und eine tiefe Spaltung der V4 in der Frage der Haltung gegenüber Russland lassen dies momentan jedoch als eher unwahrscheinlich erscheinen. Ungarn steht in dieser Frage gegenwärtig mehr oder minder allein.

Bemerkenswerterweise hat die EU-Kommission den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus bislang nicht gegen Polen aktiviert. Immerhin wird dem Land vorgeworfen, die Unabhängigkeit der Justiz völlig ausgehebelt zu haben; zudem hat das polnische Verfassungsgericht die Gültigkeit mancher Teile des Lissabonner Vertrags in Bezug auf Polen in Zweifel gezogen.

Denkbar, dass die EU Polen für seine scharfe Haltung gegenüber Russland im Konflikt mit der Ukraine belohnen will und Rechtsstaatlichkeitsvorwürfe gegenüber Warschau vorerst nicht weiter betont. Das hätte den politischen Vorteil, die Spannungen zwischen Polen und Ungarn zu vertiefen.

Ungarn versucht hingegen, seinen bisherigen Verbündeten klarzumachen, dass sie die nächsten „Opfer“ werden könnten, dass es daher wichtig ist, gegenüber der EU in dieser Frage eine gemeinsame Haltung zu bewahren.

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