Tichys Einblick
Geopolitik

Die von Putin und Biden angestrebten Regimewechsel verlaufen weder in Kiew noch in Moskau plangemäß

Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und dem westlichen Wirtschaftskrieg gegen Russland rasen zwei Züge aufeinander zu, deren Zugführer offenkundig nicht in der Lage sind, ihre Fahrt zu drosseln, um ihre Lokomotiven rechtzeitig zum Stehen zu bringen, bevor sie mit einem lauten Knall aufeinanderprallen.

Bilder der Verwüstung aus Borodjanka bei Kiew, das seit dem russischen Rückzug wieder unter ukrainischer Kontrolle steht.

Wenn man den westlichen Berichten über den Verlauf des Ukraine-Krieges Glauben schenken darf, dann stechen neben seiner stetigen Brutalisierung vor allem zwei Sachverhalte ins Auge: zum einen der Rückzug der russischen Truppen aus der Region Kiew und zum anderen die wachsende Zustimmung für Putin in der russischen Bevölkerung. So titelt zum Beispiel die Neue Züricher Zeitung (NZZ) vom 03. April: „Russland hat in der Schlacht um Kiew eine verheerende Niederlage erlitten.“ Sie kann sich dabei unter anderem auf einen Bericht des in Washington angesiedelten Institute for the Study of War (ISW) berufen, das feststellt, dass das russische Militär sein Ziel einer Eroberung von Kiew und eines Austauschs der dort ansässigen ukrainischen Regierung aufgrund der erfolgreichen Gegenwehr des ukrainischen Militärs vorerst aufgeben musste.

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Gleichzeitig melden westliche Medien und (noch) in Russland tätige westliche Korrespondenten, dass sich die Stimmung in der russischen Bevölkerung seit Kriegsbeginn keineswegs mehrheitlich gegen Putin und seine Regierung gewendet hat, sondern das Gegenteil stattfindet. So titelt etwa der Spiegel vom 1. April unter Verweis auf eine Umfrage des als unabhängig geltenden russischen Lewada-Zentrums: „81 Prozent der Russen befürworten den Angriffskrieg auf die Ukraine“. Eine überraschende Meldung, nachdem nach Beginn des Krieges zunächst in der deutschen Presse der Eindruck erweckt wurde, die meisten Russen lehnten den Krieg ab.
Keine Hoffnung auf Ermüdung: 81 Prozent der Russen stehen hinter Putin

Sowohl der von Putin propagierte Regimewechsel in Kiew wie auch der von Biden angestrebte Regimewechsel in Moskau verläuft offenkundig nicht plangemäß. Stattdessen stabilisieren sich sowohl in der Ukraine wie auch in Russland die dort jeweils herrschenden Regierungen, begleitet von einer rassanten Ausbreitung einer chauvinistischen Stimmung unter den Ukrainern wie unter den Russen, die an die deutsch-französischen Beziehungen im 19. Jahrhundert erinnern.

Während für diesen Misserfolg auf russischer Seite offenkundig Fehleinschätzungen und Fehler in der militärischen Kriegsführung eine wesentliche Rolle spielen, gilt dies auf westlicher Seite ebenso für Fehleinschätzungen und Fehler in der Führung des von ihr erklärten und geführten Wirtschaftskriegs gegen Russland. So sagt der Historiker und Russlandkenner Jörg Baberowski in einem Interview mit der NZZ vom 4. April in diesem Zusammenhang: „Putin wird selbst dann an der Macht bleiben können, wenn es zu ökonomischen Engpässen kommen sollte.“ Er verweist darauf, dass diejenigen Russen, die aufgrund der Sanktionen um ihre Vermögen fürchten müssen, sich nach Armenien und Georgien oder andere nicht-westliche Länder absetzen, während der Rest der Bevölkerung nach anderen Auswegen sucht, „wie sie es stets getan haben“. Je länger der Krieg daure, desto mehr werde es Putin gelingen, „die Schuld für all das Elend dem Westen zuzuschreiben“.

Eine ernüchternde Prognose für all diejenigen, die, wie etwa der Vordenker grüner Politik, Claus Leggewie, in der taz vom 2. April ein „Zusammenwirken weiter verschärfter Sanktionen mit der Formierung einer inneren Eliten-Opposition und der Politisierung der in Russland seit mehr als einem Jahrzehnt gärenden lokalen Proteste“ fordert.

Die UNO bleibt ein stumpfes Schwert, China wird sich nicht einmischen

Der amerikanische Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer hat in einem Interview mit der WELT vom 30. Januar den USA und der Nato zum Vorwurf gemacht, sie hätten mit der schrittweisen Nato-Osterweiterung gegen Russland ein gefährliches Spiel mit dem Feuer betrieben, das nun durch Russlands Angriff auf die Ukraine offensichtlich außer Kontrolle geraten ist. Es steht zu befürchten, dass es sich mit dem Russland inzwischen erklärten Wirtschaftskrieg nicht anders verhält. Auch er wird aller Voraussicht nach nicht das bewirken, was sich seine Befürworter und Betreiber von ihm versprechen.

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Stattdessen ist, wie der US-Ökonom Jeffrey Sachs in einem Interview mit der WELT vom 1. April ausführte, damit zu rechnen, dass er nicht nur die russische Wirtschaft, sondern auch die Wirtschaft der EU massiv schädigt, was dann wohl auch zu einer Schädigung der Weltwirtschaft führen dürfte. Sachs empfiehlt daher den EU-Staaten, sie „sollten sich jetzt darauf konzentrieren, eine schnelle Verhandlungslösung zu fördern“, wonach es derzeit aber nicht aussieht.

Insofern rasen mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und dem westlichen Wirtschaftskrieg gegen Russland zwei Züge aufeinander zu, deren Zugführer offenkundig nicht in der Lage sind, ihre Fahrt zu drosseln, um so ihre Lokomotiven noch rechtzeitig zum Stehen zu bringen, bevor sie mit einem lauten Knall aufeinanderprallen. Die für die Eindämmung solcher geopolitischen Konflikte einmal eingerichtete UNO erweist sich erneut, trotz aller Resolutionen, als ein äußerst stumpfes Schwert, wenn dominierende Großmächte sich um die Aufteilung der Welt zu streiten beginnen. Die teils geäußerte Hoffnung, China könne die USA, die EU und Russland dazu bringen, ihren Konflikt beizulegen, ist auch eher auf Sand gebaut, dürften insbesondere die USA den Chinesen eine solche Vermittler- oder gar Weltpolizei-Rolle kaum zubilligen.

Möglicher Einsatz der Bundeswehr?

Von daher ist wohl mit einer längeren Fortsetzung und weiteren Brutalisierung des Kriegs in der Ukraine zu rechnen, von dem derzeit niemand weiß, ob er sich militärisch auf Dauer auf die Kämpfe zwischen Russen und Ukrainern auf dem Gebiet der Ukraine begrenzen lässt. In wirtschaftlicher Hinsicht hat er diese Grenzen dank des Westens schon längst überschritten. Die Stimmen, die die USA, die Nato und die EU dazu auffordern, dies auch in militärischer Hinsicht zu tun, werden inzwischen nicht nur aus der Ukraine, Polen und den baltischen Staaten, sondern auch in Deutschland immer lauter.

Möglicherweise stehen wir daher vor der nächsten, von Bundeskanzler Scholz im Bundestag unerwartet verkündeten Zeitenwende, wenn dieser dort demnächst erklärt, die Bundeswehr greife nun, wie einst im Jugoslawien-Krieg, mit eigenen Kräften zum Schutz der ukrainischen Zivilbevölkerung an der Seite der Nato in den Krieg in der Ukraine ein. Anders als beim Jugoslawien-Krieg wird dann allerdings aller Voraussicht nach auch die deutsche Zivilbevölkerung nicht mehr nur von den wirtschaftlichen, sondern auch den militärischen Folgen des neu entflammten Ost-West-Konflikts betroffen sein. Was sie dabei von einer Regierung erwarten kann, deren für Wirtschaft, Außenpolitik und Militär zuständigen Minister*innen bestenfalls fachpolitische Azubis sind, steht auf einem anderen Blatt.

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