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Türkei

Erdogan und die EU: Bilanz einer Entfremdung

Der türkische Präsident Erdogan soll die Umwandlung der Hagia Sophia zur Moschee rückgängig machen, fordert nun das Europäische Parlament.

IMAGO / Xinhua

Die Türkei soll die vor einem Jahr vollzogene Umwandlung der Hagia Sophia von Istanbul in eine Moschee „überdenken und rückgängig machen“. Das fordert das Parlament der EU jetzt in einer betont kritischen Entschließung zu den europäisch-türkischen Beziehungen. Die Umnutzung der Hagia Sophia verstoße gegen das UNESCO-Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt, darum müsse die UNESCO „geeignete Maßnahmen zum Schutz dieser Welterbestätte treffen“. Die Hagia Sophia müsse allen Religionen offen stehen, heißt es in dem Text, der ebenso die Umwandlung der Istanbuler Chora-Kirche in eine Moschee rügt.

Was das EU-Parlament von der Türkei fordert

Das Parlament der EU fordert die türkischen Behörden auf, „positive und wirksame Reformen im Bereich der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit voranzutreiben, indem den Religionsgemeinschaften ermöglicht wird, Rechtspersönlichkeit zu erlangen“. Ausdrücklich bedauert das EU-Parlament die Maßnahmen türkischer Behörden und Gerichte gegen die Mönche von Mor Gabriel und andere christliche Klöster im Südosten der Türkei.

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Die Türkei wird hier zudem aufgefordert, „die Bedeutung des Ökumenischen Patriarchats für orthodoxe Christen auf der ganzen Welt, dessen Rechtspersönlichkeit sowie die öffentliche Verwendung des geistlichen Titels des Ökumenischen Patriarchats anzuerkennen“. Gleichzeitig verlangt das EU-Parlament, „dass die Beschränkung bei der Ausbildung, Ernennung und Nachfolge von Geistlichen aufgehoben werden müsse und dass die Wiedereröffnung des Seminars von Chalki erlaubt werden muss und alle Hindernisse für einen reibungslosen Seminarbetrieb beseitigt werden müssen“. Seit Jahrzehnten setzen sich die EU und die USA für eine Wiedereröffnung des seit 1971 geschlossenen orthodoxen Seminars ein.

In seiner Mahnung zum Schutz der Rechte von Minderheiten in der Türkei erwähnt der Text ausdrücklich „türkische Bürger griechischer und armenischer Herkunft und religiöse Minderheiten wie Christen“. Mit Blick auf die Armenier – die heute die größte christliche Minderheit in der Türkei bilden – erinnert das EU-Parlament an seine bereits 2015 erhobene Forderung nach Anerkennung des Genozids von 1915 und „fordert die Türkei erneut auf, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen und damit den Weg für eine echte Versöhnung zwischen dem türkischen und dem armenischen Volk zu ebnen“.

Besorgt über Religions- und Glaubensfreiheit

Die Türkei solle von jeglicher anti-armenischer Propaganda und Hetze absehen und ihren Verpflichtungen zum Schutz des armenischen Erbes nachkommen.
Besorgt äußern sich die EU-Abgeordneten nicht nur über die Lage der Minderheiten, insbesondere über die „Kurdenfrage“, sondern auch über die Religions- und Glaubensfreiheit in der Türkei. Ebenso „über die wachsende Schlagkraft des religiösen Konservatismus in der Politik“ Ankaras und über „die wachsende Rolle und die Ressourcen des Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) in allen Bereichen des öffentlichen Lebens in der Türkei, einschließlich der Bildung, und auch im Ausland, wie etwa eine spürbare Präsenz in Europa“. Detailliert listet die vom EU-Parlament verabschiedete Entschließung Übergriffe von Behörden und Gerichten gegen Minderheitenvertreter, Oppositionelle und Journalisten auf.

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In Summe bilanziert sie eine „anhaltende Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“, eine zunehmend „repressive Form der Machtausübung“, etwa gegen die kurdische und alevitische Bevölkerung. Dazu komme der Missbrauch von Antiterrormaßnahmen, die zur Unterdrückung jeglicher kritischer Stimmen im Lande verkommen seien. In diesem Zusammenhang spricht das EU-Parlament von einer „komplizenhaften Mitwirkung der Justiz“, in einem anderen Kontext von der „weit verbreiteten Korruption in der Türkei“.

Man rechnet zusammen: Rückschritte bei Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten, falsche institutionelle Reformen, und eine „konfrontative und feindselige Außenpolitik, einschließlich gegenüber der EU und ihren Mitgliedstaaten, insbesondere Griechenland und Zypern“. Das Ergebnis der Addition ist, dass das EU-Parlament „nachdrücklich darauf besteht“, dass die EU-Kommission „die Empfehlung aussprechen sollte, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei formell auszusetzen“. Beschließen können das nur die Regierungschefs der 27 EU-Staaten. Sie haben die Verhandlungen einst auch in Gang gebracht.


Dieser Beitrag von Stephan Baier erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

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