Tichys Einblick
Statt Ruanda-Plan: Millionen an Frankreich

Suella Braverman will „Invasion an Südküste“ stoppen – erster Schritt: mehr Geld für französische Gendarmen

Die neu-alte britische Innenministerin geriet in die Defensive und verteidigte sich mit dem Hinweis auf eine „Invasion“. Doch ein Patentrezept dagegen hat sie noch nicht. Zunächst einmal gibt es mehr Geld für Macrons Gendarmeriedienste.

Die britische Innenministerin Suella Braverman, London, 13. November 2022

IMAGO / ZUMA Wire

Hic sunt leones – hier hausen Löwen, hieß es früher da, wo das Landkartenwissen Europas in einem Ozean endete. Und neben Löwen konnte man auf diesen Karten vor allem Seeungeheuer erkennen, die jede Weiterfahrt unmöglich zu machen schienen. Zwischen Calais und Dover gibt es heute nur wenige solche Hindernisse. Die illegalen Einreisen, die an der französischen Küste starten und meist in schwarzen Schlauchbooten in britische Gewässer führen, sind auf einem Höchststand angelangt. Die britischen Behörden berichten eine Zahl knapp über 40.000.

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Dagegen wusste die EU-Grenzschutzagentur Frontex bereits Ende September von 52.000 Ausreisen über den Kanal. Die Wahrheit liegt vielleicht irgendwo in der Mitte. Andererseits könnte die Differenz eine wahrhaft verborgene, klandestine Immigration nach Großbritannien neben der offiziell bekannten illegalen Einwanderung bedeuten, die dann zu Landesbewohnern führen würde, welche keiner Behörde bekannt sind.

Wenn also den Migranten an dieser Seegrenze nichts droht, dann der Amtsinhaberin im britischen Home-Office sehr wohl. Nach Priti Patel hat Suella Braverman den Job übernommen und vom neuen Premier Rishi Sunak erneut bekommen – zwei konservative Politikerinnen mit indischen Wurzeln, die dennoch zu den Hardlinern in ihrer Partei in Sachen Immigration gehören. Und so begann Bravermans neue Amtszeit so, wie die alte endete: mit Vorwürfen.

Sieben Millionen Pfund für Hotels und eine lachhafte Zahl

Die britischen Aufnahmezentren in Manston und Dover sind durch den andauernden Ansturm überfüllt. Es war am ersten Weihnachtstag 2018, dass der damalige Innenminister Sajid Javid an die Küste eilte, weil 40 Migranten auf einen Schwung angekommen waren. Heute kommen an manchen Tagen und Wochenenden mehr als tausend Migranten an. Das Zentrum in Manston soll laut BBC-Informationen ein eigenes Krankenhaus erhalten, um nicht mehr auf die umliegenden Hospitäler angewiesen zu sein. Auch darin drückt sich ein neuer Dauerzustand aus. Derweil sind 96 Prozent der Asylanträge von 2021 noch unentschieden. Ein Abgeordneter sprach von einer „lachhaften Zahl“.

Braverman wurde vorgeworfen, sie habe zu wenig dafür getan, dass Migranten aus Manston in Hotels überführt wurden, und so absichtlich einen Notstand herbeigeführt. Die Ministerin erwiderte, es sei „praktisch unmöglich, kurzfristig 1000 Betten zu organisieren“. Sieben Millionen Pfund kosten die Hotels den britischen Staat schon heute jeden Tag. Manche Zimmer rangieren um die 150 Pfund pro Nacht. Nigel Farage postete ein vernichtendes Video mit einem „Einzelschicksal“.

Inzwischen ist ein Viertel der Migranten albanischer Herkunft. Ein bis zwei Prozent der männlichen, erwachsenen Albaner sollen so ihr durchaus sicheres und friedliches Heimatland verlassen haben, um in Britannien Asyl zu suchen, was ihnen in 53 Prozent der Fälle sogar gewährt wird. Nicht, dass es den restlichen 47 Prozent sehr viel anders erginge. Auch Großbritannien tut sich immer schwerer mit Abschiebungen. Deren Zahl ist während der Pandemie auf ein Viertel der einstigen Kapazität gesunken (von einst mehr als 40.000 auf nur noch 10.000 Abschiebungen im Jahr) und macht noch keine Anstalten, wieder zu steigen.

„Mehrheit der Briten aller Schichten will sichere Grenzen“

Für besonderen Unmut sorgte nun Bravermans andere Erwiderung auf die Vorwürfe. Im Parlament erklärte sie, es handele sich um eine „Invasion an unserer Südküste“, und nur ihrer Partei sei es ernst mit diesem Problem. Die Migranten würden in vielen Fällen „von kriminellen Banden unterstützt“. Einige von ihnen seien sogar Mitglieder in solchen Banden. „Lassen Sie uns also aufhören, so zu tun, als seien das alles Flüchtlinge in Not. Das ganze Land weiß, dass das nicht wahr ist.“

Man müsse sich ehrlich machen: „Das System ist kaputt. Die illegale Einwanderung ist außer Kontrolle, und zu viele Menschen sind an politischen Spielchen interessiert und wollen die Wahrheit vertuschen, anstatt das Problem zu lösen.“ Die „anständige, gesetzestreue und patriotische Mehrheit der Briten aller Schichten“ wünsche sich sichere Grenzen. Solche Äußerungen gelten heute als höchst kontrovers, obwohl sie es vielleicht nicht wirklich sind, wenn man auf die angesprochene Mehrheit der Briten schaut. Das Wort von der Invasion polarisierte allerdings – vor allem in Westminster.

Nun hat Großbritannien schon mehrere feindliche Übernahmen an seiner Südküste erlebt. Die letzte gelang 1066 mit der normannischen Eroberung Englands und sollte für lange Zeit zu einem Nebeneinander von frankophoner Oberschicht und britisch-angelsächsischem Volk führen. Zuvor hatten die angelsächsischen Siedler das Land eingenommen und die ansässigen Kelten teils in die Berge verdrängt. Die Angst vor einer Eroberung vom Kontinent her bleibt eine Urangst der Briten, aber nicht alle Eroberungen geschahen auf kriegerischem Wege.

Frankreich: Im Süden „EU-Solidarität“, im Norden Grenzgeschacher

Insofern traf Braverman vielleicht einfach einen nationalen Nerv mit ihrer kleinen Rede. Sogar Tory-Abgeordnete sprachen von einer „explosiven Sprache“. Alliierte von Patel beeilten sich, die Wortwahl „verheerend“ zu finden. Und auf den Straßen Londons versammelten sich protestierende Albaner, die sich weder als kriminell noch als Invasion bezeichnen lassen wollten.

Im Bemühen um praktische Schritte hat Braverman sich nun dem französischen Innenminister Gérald Darmanin auf ein neues Kanalabkommen geeinigt, das den Franzosen 63 Millionen Pfund (mehr als 74 Millionen Euro) zusichert im Austausch für 40 Prozent mehr Gendarmen an der südlichen Kanalküste. Zu dumm, dass die Schlepper schon eine neue Methode gefunden haben, um die französischen Gendarmen zu umgehen: Sie fahren den Strand bei Calais einfach als Taxi-Boot an. Die Migranten müssen ins Wasser laufen und werden in die Boote hineingezogen. Die französischen Gendarmen bleiben am Strand zurück, wie ein Video bei Sky News zeigt. Es ist übrigens derselbe Darmanin, der eben noch etwas von funktionierender Solidarität schwafelte, wo es darum ging, ein weiteres Migrantenschiff in der EU aufzunehmen und die Migranten nach Deutschland weiterzuleiten. Bis jetzt löst Frankreich einen Teil seines Migrantenproblems an der Kanalküste.

Und so wird das Abkommen von einigen Insel-Kommentatoren als Niederlage schon im Moment seiner Unterzeichnung kritisiert: Zum einen erhalte Präsident Macron dadurch einen Verhandlungstrumpf, falls die Briten noch einmal „Probleme“ bei den offenen Fragen zwischen UK und EU machen. Zum anderen zeigt das Abkommen, dass es Sunak und mit ihm Braverman an Entschiedenheit in der Sache selbst mangelt, zum Beispiel für eine Regelung, die endlich die Themen „illegale Einreise“ und „Asyl“ entwirrt. Das wäre beispielsweise in der Form möglich, dass niemand Asyl erhalten kann, der illegal in ein Land einreist, zumal wenn dasselbe von lauter sicheren Staaten umgeben ist wie Großbritannien und … Deutschland. Braverman hat freilich hervorgehoben, dass das Frankreich-Abkommen nur ein erster Schritt sei, und mehr eigene Maßnahmen folgen müssten.

Die Genfer Flüchtlingskonvention im Zeitalter des Massentourismus

Auch die Abkehr vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dessen Urteile notorisch sind für ihre Migrationsfreundlichkeit, wird Sunak nicht durchweg zugetraut. Sunak sagt heute, es gebe nicht „die eine Sache, die man tun muss“, um die illegale Bootsmigration auf die Insel zu beenden. Letztlich ist Patrick O’Flynn zuzustimmen, der eine Reform der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 anmahnt, die nicht zum Zeitalter des Massentourismus passe.

Im Sommer, als er sich zum ersten Mal um das Amt des Premierministers bemühte, hatte auch Sunak sein Verständnis für die Sorgen vieler Briten angesichts einer sich ausweitenden illegalen Zuwanderung ausgedrückt: „Gesetzestreue Bürger sind verständlicherweise schockiert, wenn sie sehen, wie Boote voller illegaler Einwanderer an unsere Küsten kommen und unsere Grenzschutzbehörden anscheinend nichts unternehmen, um sie aufzuhalten.“ Zuvor hatte er sich hinter das Johnson-Patel-Projekt der Verbringung von Asylbewerbern nach Ruanda gestellt – so wie praktisch das gesamte damalige Kabinett.

Der Ruanda-Plan, für den vor allem Braverman brennt, hat das Königreich allerdings bisher 140 Millionen Pfund gekostet, ohne einen einzigen Asylbewerber von der Insel verschwinden zu lassen. Das Abkommen scheint insofern gescheitert zu sein, auch weil britische Gerichte – ob vom EGMR beeinflusst oder nicht – die Abschiebungen in letzter Minute verhinderten. Und doch bleibt es dabei, dass auch die neue Londoner Regierung dazu verurteilt ist, eine Lösung für die „Krise der kleinen Boote“ am Ärmelkanal zu suchen. Nun soll es also ein zweiter Versuch mit Frankreich sein. Man wird sehen, wie weit und wohin man damit kommt.

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