Tichys Einblick
IS-Terrorgefahr in Europa

Hat Russland die aktuelle Terrorgefahr unterschätzt?

Mit dem blutigen Anschlag in Moskau erwacht erneut der Terror des sogenannten Islamischen Staates in Europa. Trotz der Warnungen ausländischer Geheimdienste hat Russland in der Terrorabwehr versagt. Vier mit Maschinengewehren und Brandsätzen bewaffnete Männer töteten mindestens 137 Menschen und verletzten ebenso viele der friedlichen Konzertbesucher.

IMAGO / ITAR-TASS

Die mittlerweile von den russischen Behörden gefassten vier flüchtigen tadschikischen Attentäter wollten sich nach russischen Angaben in die Ukraine absetzen, was bestehende Kontakte in das verminte Kriegsgebiet voraussetzt. Die bei dem Terrorakt im Moskauer Veranstaltungscenter Crocus City Hall verwendeten Kalaschnikow-Maschinengewehre sind russische AK 12 mit einem Kaliber 5.45, die letzte Generation der AK 100. Diese gehören zu einer Serie, die nicht mehr hergestellt wird, und die bisher nur in der Ukraine eingesetzt wurde. Da noch weitere Waffen und Munition im Fluchtauto gefunden wurden, lässt sich die Herkunft weiter konkretisieren.

Einer der Attentäter sagte aus, er sei über den Telegram Messenger anonym kontaktiert worden und ihm seien umgerechnet rund 10.000 Euro geboten worden. Die Hälfte vorab, die Hälfte nach erfolgreichem Anschlag, weswegen die islamistischen Attentäter versucht hatten, lebendig zu fliehen. Der russische Präsident Wladimir Putin vermutete eine False-Flag-Aktion der Ukraine, bzw. der USA, die diese Anschuldigung umgehend zurückwiesen. Allerdings ist die Ukraine im Kampf gegen das russische Militär in Bedrängnis, der Waffen- und Munitionsnachschub ist ins Stocken geraten. Es käme ihr zumindest gelegen, wenn Russland einen harten Schlag gegen den IS ausführen und dafür Teile seines Sicherheitsapparates aus dem Ukraine-Krieg abziehen müsste. Aber es fehlen weitere Puzzle-Steine zu einem Gesamtbild.

Warum ist der Islamische Staat wieder so stark?

Offiziell beansprucht die afghanische Untergruppe Islamischer Staat Provinz Khorasan (IS-PK) den Anschlag in Moskau für sich. Diese Region Khorasan umfasst neben Afghanistan und Pakistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan und den Iran. Die Fotos der vermummten Terroristen veröffentlichte die Amaq News Agency, der Nachrichtenkanal der Terrormiliz, auf Telegram. Doch die IS-PK ist nicht die einzige an den umfassenden Anschlagsplänen beteiligte IS-Gruppe. Der plötzliche Abzug des westlichen Militärs aus Afghanistan führte gerade in den ländlichen Gebieten zum Erstarken einer ganzen Reihe islamistischer Gruppierungen.

Islamischer Staat sagt, es sei sein Anschlag
USA warnten Russland vor Anschlag
Dazu gehört auch IS-IL, eine Gruppe von islamistischen Hardlinern, die den Irak und die Levante kontrollieren. Ihr gehörte der bereits getötete Abu Bakr al-Baghdadi an, der die Finanzierung und den Transport von Selbstmordattentätern auf eine neue organisatorische Stufe gehoben hat. Diese Strukturen bestehen noch heute. Das Einflussgebiet des IS-IL erstreckt sich weit über den Irak und Syrien hinaus, nach Afghanistan, Pakistan, aber auch in den Kaukasus, nach Westafrika, Algerien, Ägypten, Libyen, sowie Saudi Arabien und den Jemen. Sie geben an, ebenfalls an der Anschlagsplanung in Moskau beteiligt zu sein.

In Russland aktiv sind zudem Tschetschenische Islamisten. Sie stellen mit ihrer geografischen Nähe einen weiteren Baustein im weltweiten IS-Terrornetzwerk dar. Einige Quellen schließen ihre Beteiligung an den Anschlagsplänen in Moskau nicht aus. Wesentlichster Faktor bleibt jedoch die Terrorfinanzierung.

Aktuell läuft die Finanzierung des IS über die afghanische Untergruppe in Khorasan, die davon profitiert, dass die im Grundsatz ebenfalls radikale Taliban-Regierung in Kabul weit entfernt ist. Der IS-PK bessert durch eigene Goldgräbertrupps seine Kriegskassen auf, aber auch durch den Verkauf des Erdöls im Süden Afghanistans und den noch immer einträglichen Drogenhandel.

Das derzeitige Vorgehen Israels gegen die muslimische Palästinensische Zivilbevölkerung schafft zudem einen antisemitischen Nährboden für die Rekrutierung von gewaltbereiten Islamisten und für die nicht versiegende finanzielle Unterstützung aus internationalen Geldquellen. Der IS-PK, der dafür bekannt ist, besseren Sold als andere Gruppierungen zu zahlen, versammelt nach Schätzungen eines UNO-Berichts mittlerweile 6.000 aktive Kämpfer hinter sich. Keine geringe Zahl.

Haben russische Geheimdienste einen Maulwurf in den eigenen Reihen?

Der russische FSB-Geheimdienstchef Alexandr Bortnikow warnte im Herbst des vergangenen Jahres davor, dass der IS-Khorasan an Kraft gewinne und bald zu Anschlägen im Ausland in der Lage sei. Gelang es den russischen Behörden am 7. März diesen Jahres noch eine Gruppe von IS-Kämpfern, die mit Schusswaffen eine Moskauer Synagoge erstürmen wollten, rechtzeitig unschädlich zu machen, so war der Anschlag zwei Wochen später offenbar nicht mehr zu verhindern.

Neben den vier vermutlichen Attentätern sind von den russischen Behörden nach offiziellen Angaben bisher 11 weitere Personen festgenommen worden, die im Zusammenhang mit der Tat stehen sollen. Einer von ihnen soll in Moskau bei der Post gearbeitet haben. Das bedeutet, dass zumindest ein Teil der Anschlagsplanung innerhalb Russlands stattgefunden haben muss – und das angeblich unbemerkt von den russischen Geheimdiensten.

Die USA haben Anfang März Russland gewarnt, dass Informationen auf einen größeren Anschlag vorlägen. Das wurde jedoch so kurz vor den Wahlen auf russischer Seite als Panikmache abgetan. Eine krasse Fehleinschätzung, wie sich heute zeigt. Oder, es wurde absichtlich auf diese Entscheidung hingearbeitet. Die russischen Behörden müssen zumindest in Erwägung ziehen, dass auch in den eigenen Reihen Sympathisanten für den islamistischen Terror zu finden sind.

Wird die Fußball-EM in Deutschland das nächste Anschlagsziel?

In den letzten zwei Jahren fokussierten sich die Aktivitäten des IS-Provinz Khorasan zumeist auf Russland. Das belegen eine ganze Reihe von Anschlägen. Doch das bedeutet nicht, dass nicht parallel dazu bereits Anschlagspläne in angrenzenden EU-Ländern entstehen. Vor wenigen Tagen, am 19.03., wurden beispielsweise im beschaulichen Thüringischen Gera zwei Afghanen festgenommen, die einen Anschlag auf das Schwedische Parlament geplant haben. Sie sind mutmaßlich Angehörige des IS-Provinz Khorasan.

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Die Kriegswaffen, die aus der Ukraine in die EU gelangen, stellen ein Sicherheitsrisiko nicht nur durch die organisierte Kriminalität, sondern vor allem auch durch den islamistischen Terror dar. Vor zwei Jahren warnte Europol bereits, dass bis zu 70 Prozent der Nato-Waffen auf dem Schwarzmarkt versickern. Entlang der EU-Grenze wurden seitdem auf ukrainischem Gebiet diverse Munitionslager ausfindig gemacht. Kriegswaffen, die bei Bedarf kurzfristig über die grüne Grenze geschmuggelt werden könnten.

Neben möglichen Anschlagszielen stellt sich aber auch die Frage, ob es vielleicht eine neue Kategorie geben wird, also zum Beispiel einen Anschlag mit Chemikalien, wie es im vergangenen Jahr der Rizin- und Cyanid-Fund bei einem mutmaßlichen Islamisten in Castrop-Rauxel befürchten lässt. Große ungeordnete innerstädtische Menschenmengen, wie sie bei Demonstrationen der letzten Wochen oft zu beobachten waren, wären ebenso ein ideales Ziel wie die anstehende Fußball-Europameisterschaft, die bereits im Juni in München beginnt.

Wie oft werden die Terrorfahnder des deutschen BKA oder die Geheimdienste noch den Wettlauf gegen die Zeit gewinnen und die Vorbereitungen zu Terroranschlägen rechtzeitig durchkreuzen? Im Antisemitismus und dem Hass gegen die westliche Lebensart vereinen sich kampfbereite Islamisten und ihre Sympathisanten in Europa zu einem flächendeckenden Netzwerk. Frankreich hat soeben die höchste Terrorwarnstufe ausgerufen. Die Bedrohungslage für den gesamten Schengen-Raum und insbesondere auch für den EM-Gastgeber Deutschland ist dramatisch.

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