Tichys Einblick
Reisen bildet – wenn man etwas dafür tut

Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt

Nimmt mir jemand die Vorfahrt, bin ich erbost, weil ich ja Recht habe. In Asien geht es ganz anders darum, die Lücke, also die Chance im Chaos zu finden. In Asien herrscht Flexibilität zur Erreichung der Ziele, in Deutschland Ordnung. Beides hat Vor- und Nachteile – sicher von Vorteil ist, das andere auszuprobieren.

Künstlervorort der Stadt Malang, Jawa Timur, Ost Java, Indonesien, Asien

IMAGO / imagebroker

Wer reist, reist meist in den Urlaub und möchte im Zielland seine wohlverdiente Ruhe haben und ausspannen. Es gibt aber Reisende, seien es Gruppen- oder Individualreisende, denen auch daran liegt, die Kultur, die Mentalität, das Denken und Fühlen der Bewohner des Reiselandes kennenzulernen.

„Toren bereisen in fremden Ländern die Museen,
Weise gehen in die Tavernen.“
Erich Kästner

Das stellt sich als gar nicht so einfach heraus, wenn man mehr wissen möchte, als der obligate Reiseführer erzählt. Letztlich schwimmt die Reisegruppe wie ein Fettauge auf der Suppe, ein wirklicher Kontakt mit der einheimischen Kultur ist selten möglich. Wer sich also für die bereiste Kultur interessiert und auch ein Gefühl für sie bekommen möchte, für den ist dieser Artikel geschrieben.

Vom Kennenlernen von Land und Leuten

Nicht jeder hat den Zugang zu einer Familie, deren Leben ihm über längere Zeit die Kultur erklärt. Man kann aber trotzdem Zugang zur Alltagskultur finden – und das ausgerechnet über die Medien. Eine große Hilfe kann Netflix sein. Reise ich beispielsweise in Thailand, dann schaue ich mir im Hotel nur noch Thai-Filme an. Allerdings kann ich gerne auf westlich inspirierte aufgesetzte Art-Filme verzichten; das beste Ergebnis bringen ganz normale Soap-Operas, die Wohl und Wehe, Wünsche und Abneigungen ganz normaler Familien zeigen.

Im Fernsehen ist die Werbung besonders wichtig, denn sie transportiert die Wünsche und Träume der Leute, hier werden Formen und Farben und besonders Verhaltensweisen abgebildet, die die Menschen dieser Kultur schätzen. Auch sollte man nicht mehr seine ausgelatschte Lieblingsmusik hören, sondern die Musik, die in dieser Kultur populär ist.

Viele Länder haben englischsprachige Zeitungen, die man online lesen kann. Die Übersetzungsfunktion von Google leistet aber in jeder Sprache sehr gute Dienste. Auf diese Weise bekomme ich Zugang zu den aktuell wichtigen Themen des Landes. Zusätzlich kann ich auch noch sehen, wie über meine eigene Kultur berichtet wird.

Das Gehirn braucht Zeit, sich umzustellen und neue Bahnen zu formen. Wechselt man Medien der eigenen Kultur mit Medien der fremden Kultur ab, so ist das Hirn buchstäblich hin- und hergerissen und am Ende kommt nur Irritation und Kraut-und-Rüben-Salat heraus.

Übersetzungshilfen nutzen

Google Translator im Smartphone ist ein Muss. Es lassen sich hier sogar kurze Gespräche in der Landessprache führen. Die üblichen Gruß- und Dankesphrasen lassen sich auch für Unbegabte leicht erlernen. Immer wieder bei Google anhören und auf die Lautformung achten hilft ungemein, und die Einheimischen fühlen sich wertgeschätzt. Dies ist insbesondere bei Einheimischen wichtig, da der Gast ja aus dem Westen kommt und dessen Kultur als überwältigend überlegen wahrgenommen wird.

Google Translator ist zweifellos eine große Hilfe. Das Problem ist allerdings oft die Antwort des Einheimischen. Wer nicht langsam und genau spricht, wer hektisch nuschelt, den versteht Google nicht. Ich habe in China schon Chinesen auf dem Flughafen angesprochen und gefragt, ob ich sie bei Verständnisproblemen anrufen könnte. In Deutschland wäre man da schnell misstrauisch, in China sind alle begeistert.

Und das geht so: Mein Taxifahrer versteht mich nicht. Also rufe ich den chinesischen Flughafen-Bekannten an und erkläre ihm auf Englisch, was mein Problem ist. Daraufhin gebe ich dem Taxifahrer mein Handy. Der hört sich die chinesische Übersetzung an und antwortet, daraufhin gibt er mir mein Handy zurück und der chinesische Kurzbekannte übersetzt mir die Antwort. Wenn das Problem noch nicht gelöst ist, geht es so weiter hin und her. Klappt immer und die Einheimischen freuen sich, helfen zu können.

Letztlich ist man auf Reisen natürlich auf Englischkenntnisse der Einheimischen angewiesen. Diese findet man vorzüglich im Bereich des Touristenbusiness. Aber es lohnt sich noch mehr, Englisch Sprechende außerhalb dieses Bereiches zu suchen. Es hat sich bewährt, eine Buchhandlung zu besuchen, dort Leute anzusprechen. Sie sind in der Regel gebildet. Eine Einladung zu einem Kaffee kann neue Verbindungen schaffen. Gibt es eine Universität oder ein College vor Ort, einfach im Sekretariat um ein Gespräch mit dem Rektor oder einem entsprechenden Lehrer bitten. Man wird über das Interesse erfreut sein und gerne weiterhelfen.

Die Lücke im Chaos finden

Nun kommen wir zum Casus Knacktus: Je mehr sich Menschen auf Fremdes einlassen können, desto erfolgreicher ist diese Strategie. Ich höre schon alle rufen: „Ja klar, das kann ich!“ Nun ist Empathie heutzutage eine angesagte Eigenschaft, von der jeder sagt: Ich auch! Me too! Ob dies aber wirklich der Fall ist, kann man daran überprüfen, inwieweit einem das bisher in fremden Ländern gelang. Wer, egal wo, die immer gleiche Lieblings-Musik hört, die immer gleichen Filme schaut und Gespräche nur mit anderen Touristen führt, der kennt bereits das Ergebnis. Derjenige hat sein Zuhause geistig nie verlassen, er bewegt sich nur in einem anderen 3-D-Film, den er auch nahezu ergebnislos bald wieder verlässt.

Was aus westlicher Sicht Hitze und Dreck ist und wo wilder Durcheinanderverkehr wütet, ist in anderen Kulturen normal. Man sollte auch dazu seine eigene Vorstellung überwinden und versuchen eine einheimische Haltung einzunehmen. Gerade im Verkehr lässt sich viel über die eigene und die fremde Kultur lernen. In Deutschland gilt Recht und Ordnung. Nimmt mir jemand die Vorfahrt, bin ich erbost, weil ich ja Recht habe. In Asien gibt es einen ganz anderen Wertekanon: Es geht darum, die Lücke, also die Chance im Chaos zu finden. Fährt jemand 10 Zentimeter vor meinem Moped quer, empöre ich mich nicht. Er hat eine Lücke gefunden, und ich werde die nächste finden. In Asien herrscht Flexibilität zur Erreichung der Ziele, in Deutschland Ordnung. Beides hat seine Vor- und Nachteile, sicher von Vorteil ist es allerdings, das andere auszuprobieren.

Wenn man mit Menschen redet, sollte man Diskussionen komplett vermeiden. Die meisten Kulturen sind nicht diskussionsorientiert, aber selbst im Westen schaffen kontroverse Diskussion mehr Gräben, als sie Gräben zuschütten. Fragen nach dem Leben der Familie werden gerne beantwortet, signalisieren sie doch Interesse an der eigenen Welt.

Moralische und ökologistische Überheblichkeiten entfernen nur beide Seiten voneinander. In unserer werteorientierten (an unseren Werten orientierten) Zeit, ist die Gefahr, dass Empathie nur geheuchelt wird, besonders groß. Was in den 70er Jahren noch echtes Interesse der Reisenden war, verkommt heute immer mehr zur Missionierung von angeblich universellen aber eigentlich nur eigenen Wertekanon. Dies schiebt die Einheimischen in eine Konfliktsituation. Einerseits erkennen sie klar die totale Überlegenheit der westlichen Kultur, andererseits sind sie stolz auf ihr eigenes Wertesystem, das ihre Vorfahren aufgebaut haben.

China und Indien – ein interessanter Gegensatz

Anders als im Westen, indem die Vorfahren inzwischen vor allem verachtet werden, sind in der 3. Welt die Vorfahren hoch angesehen. Dies spiegelt sich auch im fast überall herrschenden Ahnenkult wieder. Dieser ist selbst in Resten im Westen noch zu finden, denn ein Friedhofsbesuch ist genau eine solche Erinnerung und Kontaktaufnahme mit den Toten.

Die Vorfahren haben nicht nur das Wertesystem geschaffen, auf dem ihre Nachkommen heute stehen, sie haben ihre Gene und über die Erziehung auch ihren Geist weitergegeben. Mit anderen Worten, die Vorfahren leben in den Menschen heute weiter. Werden diese nicht hoch geehrt oder gar verachtet, verachtet man sich gleichzeitig selbst. Diese seltsame Wendung ist aber nur in der westlichen Kultur zu finden. Die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ und der westliche Schuldkult um die Kolonialisierung wird deshalb meist mit Befremden wahrgenommen.

So befindet sich die Dritte Welt in dem Dilemma, die ganz offensichtliche Überlegenheit des Westens nicht verleugnen zu können, andererseits ihrer eigenen Kultur und damit ihrem eigenen Wertesystem nicht abzuschwören. Geht dies über Bord, fehlen auch alle spirituellen Leitplanken und besonders die jungen Leute der Länder ergeben sich einer haltlosen Konsumfixiertheit. Das Ergebnis ist bereits mannigfaltig zu beobachten. Hier bilden zwei große Länder einen interessanten Gegensatz:

  • In China hat Mao durch die Kulturrevolution in China die gesamte Jahrtausende alte Kultur zerstört. 2 Generationen haben genügt, die kulturellen und spirituellen Grundlagen der chinesischen Gesellschaft in Vergessenheit geraten zu lassen.
  • In Indien lebt die Jahrtausende alte Kultur weiter. Die westliche Technik wurde dort eingebettet. Der Ingenieur lässt sein Auto durch einen Priester segnen. Nun hat natürlich auch dies seine Nachteile, aber diese tradierten kulturellen Leitplanken machen aber die Gesellschaft insgesamt stabiler und die Menschen zufriedener.

Wer also nach China reist, hat Mühe traditionelle chinesische Kultur zu finden. Er ist mit Taiwan besser bedient. Die chinesische Kultur lebt aber in allen Ländern Südostasiens, in die Chinesen ausgewandert sind.

Wer individuell durch Indien reist, dessen westliche Nerven werden mit der indischen Kultur auf eine harte Probe gestellt. Aber es lohnt sich. Indien ist sicher das interessanteste Reiseland. Hier erlebt man, ob man möchte oder nicht, Dinge, die man vorher nicht für möglich gehalten hätte.

Trau dich: Abenteuer ohne Risiko ist Disneyland (Doug Coupland).

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