Tichys Einblick
Putin spricht zur Nation

Putin: Prigoschin unternimmt „kriminelles Abenteuer“ gegen Russland

Der russische Staatschef Wladimir Putin hat den „militärischen Aufstand“ in Russland verurteilt. In seiner Rede bedient er nicht nur ein anti-westliches Narrativ, sondern zieht eine Parallele zu 1917 – mit allen möglichen, blutigen Konsequenzen.

IMAGO / SNA
Wladimir Putin hat sich am Samstagmorgen in einer Rede an die Nation gewandt. Hintergrund ist der derzeitige Vorstoß von Truppen unter dem Kommando von Jewgeni Prigoschin. Die Einordnung der Vorgänge in Russland ist derzeit kaum möglich. Nach aktuellem Stand soll der Anführer der paramilitärischen Gruppe Wagner die Stadt Rostow besetzt halten. Die Gerüchte, wie der Vorgang zu bewerten sei, reichen von einer von Putin inszenierten Operettendarbietung bis hin zu einer breit ausgeführten Rebellion mit aussichtsreichen Chancen.

Aufgrund der dünnen Nachrichtenlage – und weil TE nicht über Quellen aus erster Hand verfügt – soll eine weitere Bewertung dieser Vorgänge hier nicht erfolgen. Die Reaktion Putins dagegen war im russischen Fernsehen nachzuverfolgen. Der Staatschef wandte sich wenig überraschend gegen den abtrünnig gewordenen Prigoschin und dessen Rebellion. Er sprach von einem „kriminellen Abenteuer“, von einer „bewaffneten Rebellion“ und warnte davor, durch „Täuschung“ oder „Drohung“ Prigoschin auf diesem Weg zu folgen. Putin sprach von „Verrat“ und einem „Schlag in den Rücken unseres Landes“. Den Namen Prigoschin vermied er während der gesamten Rede.

Wie so häufig bemühte Putin die historische Dimension des Vorfalls. Es handele sich um einen Existenzkampf Russlands, eines Staates mit tausendjähriger Geschichte, so zu sein und so bleiben zu dürfen, wie es sei. „Wir kämpfen für das Leben und die Sicherheit unseres Volkes, für unsere Souveränität und Unabhängigkeit“, sagte Putin. Den Hauptfeind verortete er im Westen. „Praktisch die gesamte militärische, wirtschaftliche Informationsmaschine des Westens ist gegen uns gerichtet.“ Putin betonte neuerlich, dass in Kiew Neonazis regierten, von denen gemeinsam mit „ihren Herren“ die Aggressionen gegen Russland ausgingen.

Die Rhetorik erinnerte damit an die des Vaterländischen Krieges gegen Napoleon und die des Großen Vaterländischen Krieges gegen Hitler. Der Dreiklang war deutlich: Russland müsse sich nach dem französisch und deutsch dominierten Kontinent nun dem amerikanisch dominierten Kontinent widersetzen. Der „Spezialoperation“ in der Ukraine steht der weitaus größere Kampf ums Dasein entgegen. Bis dahin bekannte Vergleiche, die Putin schon zuvor bemüht hatte.

Neu dagegen erscheint das Narrativ, das Putin angesichts des „Wagner-Schlages“ aufführte: nämlich die Parallele zum Unglücksjahr 1917, als Russland im Ersten Weltkrieg kämpfte und die Revolution ausbrach: „Es war ein solcher Schlag für Russland im Jahr 1917, als das Land den Ersten Weltkrieg führte. Aber der Sieg wurde gestohlen. Intrigen, Politik hinter dem Rücken der Armee und der Menschen verwandelten sich in den größten Schock, die Zerstörung der Armee und der Zusammenbruch des Staates, der Verlust riesiger Gebiete. Infolgedessen war es eine Tragödie des Bürgerkriegs.“

Die Botschaft ist deutlich: Mit dem Aufstand der Wagner-Söldner steht nicht nur der Sieg Russlands gegen Kiew auf dem Spiel. Tatsächlich veranschlagt Putin das Risiko weitaus größer: Es steht die Integrität Russlands auf dem Spiel. Mit der vorherigen Nennung des Westens dürfte Putin auch gezielt das historische Gedächtnis der Russen aktivieren, die sich erinnern können, dass die „Weißen“ im Bürgerkrieg aus dem Ausland gestützt wurden – und Schützenhilfe aus Polen bekamen. Ganz offen nennt er die Gefahr eines Bürgerkrieges.

Putin dürfte sehr persönliche Absichten haben, sein Schicksal mit dem Russlands zu verknüpfen. Sollte er im Zuge des Aufstandes eliminiert werden, droht Russland eine Unsicherheit wie nach der Revolution oder wie damals in der Zeit der russischen Wirren. Allein die Gefahr des Bürgerkrieges nütze bereits dem Feind. „Die Russen töteten Russen, Brüder – Brüder, und egoistische Vorteile wurden von allen möglichen politischen Abenteurern und ausländischen Kräften abgeleitet, die das Land teilten und es auseinanderrissen“, führt Putin fort.

Aus dieser Gefahr heraus fordert Putin umso mehr die Einheit des russischen Volkes und droht seinen Gegnern oder jenen, die sich Prigoschin anschließen wollen, mit „unmittelbarer“ Bestrafung. Er nennt explizit die „Anti-Terror-Maßnahmen“ für Moskau, muss aber zugeben, dass die Zusammenarbeit mit der Front blockiert sei.

Und das ist womöglich der Knackpunkt: Er nennt damit Prigoschins großen Vorteil. Denn der Wagner-Chef erpresst Moskau damit, dass er einen Pflock zwischen die Hauptstadt und die Frontgebiete treibt. Das ist nicht nur eine Botschaft an Putin, sondern auch an das System dahinter. Söldner haben in der Frühen Neuzeit Städte als Geisel genommen, um die Stadtoberen zu erpressen, bevor man sich das holte, wovon man glaubte, dass es einem zustand. Hier nimmt der Wagner-Chef den Süden des Landes als Geisel, um den Moskauer Oligarchen vorzuführen, dass er den Sieg Russlands zunichtemacht, wenn man seinen Forderungen nicht entgegenkommt – und das wäre wohl die Entthronung Putins.

Der wirkte bei der Rede zwar erregt, aber auch müde. Putin dürfte wissen, dass seine Macht so lange sicher ist, wie der Geheimdienst hinter ihm steht. Man kann ein Land wie Russland nicht mit Panzern regieren und erst recht nicht mit 25.000 Mann. Worauf es ankommt, das ist die Loyalität der Spitzen. Dabei spielt der FSB eine zentrale Rolle. Er dürfte das Machtspiel Prigoschins durchschaut haben. Ob er möglicherweise Putin aufgibt, um den Ukraine-Krieg am Laufen und damit die Macht im Land zu erhalten – das dürfte die eigentlich entscheidende Frage sein. Putin hat in seiner Rede signalisiert, dass er auch dieses Mal nicht einknickt. Eine Rede an die Nation war es weniger denn eine an die eigenen Vertrauensleute.

Prigoschin hat mittlerweile geantwortet. Der Präsident irre sich schwer. „Wir sind Patrioten“, betonte er in einer Videobotschaft. Man werde vorrücken und „bis zum Ende“ kämpfen. Rurik, der Begründer der Kiewer Rus, und damit jener Begründer der tausendjährigen Staatlichkeit, auf die Putin hingewiesen hat, fing bekanntlich auch nur als Söldner an, den man herbeirief. Bleibt die Frage, ob die Russen Prigoschin rufen wollen.

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