Tichys Einblick
NEUE KRAFTWERKE IN POLEN

Polens Atompolitik – eine sinnvolle „Energiewende“

In Polen gehen in einigen Jahren die ersten Atomkraftwerke ans Netz. Dies ist eine unumstößliche Wahrheit. Die Regierung in Warschau hat eine kluge Entscheidung getroffen, obgleich sie unweigerlich die nächste Schlacht mit Brüssel eröffnen wird.

In Lubiatowo (früher Lübtow) an der Ostsee soll demnächst Polens erstes Kernkraft werk entstehen.

IMAGO / NurPhoto

In den deutschen Medien, die im November zunächst damit beschäftigt waren, dem Kapitän der DFB-Elf eine „One-Love“-Binde aufzuzwingen, um ihn dann nach dem Ausscheiden dafür zu rügen, dass er sich überhaupt zu politischen Gesten hinreißen ließ, ist eine wichtige Information etwas untergegangen. In Polen sollen bald die ersten drei Reaktoren des Landes gebaut werden. Die hierfür notwendige Resolution wurde bereits im Oktober verabschiedet. Für den Bau des ersten Atomkraftwerks erhielt der US-Konzern Westinghouse Electric Company den Zuschlag. Zwei weitere, ebenso unter internationaler Beteiligung, sollen folgen.

Der erste Atommeiler soll in ungefähr zehn Jahren in der Nähe der nordpolnischen Ortschaft Lubiatowo ans Netz gehen. Wenn die anderen beiden Standorte hinzukommen, sollen ca. 30 Prozent des polnischen Strombedarfs durch Kernenergie gedeckt werden. Nun könnte man fragen: Weshalb hat sich die Regierung in Warschau erst jetzt zu dieser Entscheidung durchgerungen? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Die Konservativen treiben ihre mutige Atompolitik seit Jahren voran, jedoch wurde sie häufig durch verschiedene innen- und außenpolitische Reflexe erschwert. Oder um es unverblümt zu sagen: In Brüssel begegnete man dem „atomaren“ Sinneswandel Polens nicht gerade mit frühlingshafter Heiterkeit. Außerdem wurde während der Tusk-Ära die Angst vor den rümpfenden Nasen einiger EU-Bürokraten regelrecht geschürt. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat das Thema Energiesicherheit an Dringlichkeit zugenommen. Und dennoch schlagen einige deutsch- und flämischsprachige Ökologen Alarm und behaupten, die Polen würden Europa in eine erneute „Klimakatastrophe“ führen. Allerdings haben wir es hier mit einem Sachverhalt zu tun, der als unlogisch zu entlarven ist.

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Versuchen wir einmal, der Logik einiger Klimaaktivisten zu folgen. Für die Rekordwerte bei Treibhaus-Emissionen sei insbesondere der Mensch verantwortlich. Doch scheint ihnen dabei entgangen zu sein, dass die Wasserstoffverbrennung dem „menschengemachten“ Klimawandel keinen Einhalt gebieten wird. Im Gegenteil: Der Übergang zur Klimaneutralität ist nur mit Kernenergie möglich. Dieser Umstand hat nicht nur mit den hohen technischen Anforderungen für den Wasserstoffantrieb zu tun, von den Anschaffungs- und Betriebskosten einmal ganz zu schweigen. Der Energieverlust bei der Wasserstoffherstellung ist enorm. Für eine nachhaltige Produktion bedarf es bekanntlich der Technologie der Elektrolyse. Allein dafür verliert man ca. 25% Energie, für einen ähnlich hohen Verlust sorgt die Kühlung sowie Druckherstellung für den Transport. Bei der Umwandlung von Wasserstoff zu Strom wird abermals die Hälfte an Energie in Wärme umgewandelt. Und solange die Infrastruktur für Wasserstoff nicht ausgebaut ist, entstehen ohnehin keine großen Märkte.

Die indoktrinierten Klima-Kleber begehen Verbrechen und sorgen für Chaos, tragen jedoch nicht die politische Verantwortung für diesen sozialistisch-grünen Wahnsinn. An deren „Erziehung“ sind raffiniert eingesetzte Think-Tanks beteiligt, die mit üppigen Zuschüssen versorgt werden, um die Abwicklung bestimmter Interessen abzusichern. Nur so lässt sich der gleichzeitige Abschied von Kern- und Kohleenergie zugunsten des Wasserstoffs erklären. Genauso wie die Tatsache, dass westliche Konzerne im Rahmen ihrer „Rettungsaktion“ die CO2-Belastung in die (für die Klimaaktivisten weniger sichtbare) asiatische Peripherie verlegen.

KEIN VETORECHT IN DER EU?
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Nach dem Einfall der russischen Armee in der Ukraine sind viele Illusionen der Deutschen zusammengebrochen, aber zuvor hatte Gas aus Russland für sie offenbar eine hohe „ökologische“ Wertigkeit. Und zwar nur jenes aus Russland. Notfalls sind wir lieber rot als tot. Das billige Gas aus dem Osten sollte aus deutscher Sicht den Atomausstieg vereinfachen, aber auch die kleineren EU-Länder kostengünstig in Schach halten. Deshalb hat man die Nord Stream-Pipelines zu einem völlig überhöhten Preis durch die Ostsee laufen lassen, anstatt zu weitaus niedrigeren Kosten jene Partner in das Projekt einzubeziehen, die laut Guy Verhofstadt und Konsorten immer noch nicht hinreichend „integriert“ seien. Daher hat man ebenso den aus Madrid hörbaren Vorschlag ignoriert, die Abhängigkeit von Russland durch Gaslieferungen aus Nordafrika zu verringern. War dieses Gas weniger ökologisch? Die köstliche Pointe ist in Reichweite: Im Bereich der auf Europa ausgerichteten Wasserstoffwirtschaft sollte Russland gleichfalls eine entscheidende Rolle spielen, wenn nicht gar die Führungsrolle übernehmen. Die hierzu erforderlichen Pilotprojekte lagen bereits auf den Schreibtisch im Kanzleramt.

Vielleicht ist diese mustergültige Lehrstunde in Sachen politische Dummheit notwendig gewesen, solange sie noch nicht die Weltherrschaft ergriffen hat. Manche Schwächen offenbaren sich erst jetzt, anderen Staaten blieben durch die egoistische Politik des Westens ironischerweise einige Probleme erspart, an denen sich die Russlandversteher aus Berlin, Paris und Brüssel derzeit die Zähne ausbeißen. Andere Prominente wiederum – wie etwa Alice Schwarzer – ziehen es vor, sie einfach konsequent zu ignorieren und auch die logischste Erklärung als „undemokratische Polemik“ zu diffamieren.

Unlängst sprach man noch von der Achse Paris-Berlin-Moskau. Einen faden Beigeschmack hat dieses von der SPD zum außenpolitischen Prestige-Projekt erhobene Ziel schon immer. Doch im Grunde genommen haben wir es seit vielen Jahren ausschließlich mit einer Achse Berlin-Moskau zu tun gehabt, die – via Brüssel – den restlichen EU-Mitgliedsstaaten ihren Stempel aufzudrücken gedachte. In energiepolitischen Fragen verliert mittlerweile auch Frankreich die Geduld. Der Élysée-Palast macht beim Bau neuer Atomkraftwerke mehr Tempo. Im Februar hatte Präsident Emmanuel Macron eine „Renaissance der französischen Atomkraft“ verkündet. Sechs neue Reaktoren sollen gebaut sowie die Errichtung von acht weiteren geprüft werden. Offenkundig war es an der Seine noch nicht zu spät, Vernunft walten zu lassen. Fünf Minuten vor zwölf war es allemal.

TUSK ZURÜCK NACH POLEN?
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Unterdessen versuchen die in Deutschland mitregierenden Grünen krampfhaft an ihren antiatomaren Dogmen festzuhalten, haben sich in dieser Hinsicht sogar für eine zeitweilige Rückkehr zur „schmutzigen“ Kohleenergie entschieden. Einige der seither unternommenen Erklärungsversuche, die wir allwöchentlich resümiert in den Presseerklärungen des deutschen Vizekanzlers vorfinden, entbehren jeglicher Logik. Wir haben es hier eindeutig mit jenem „semantischen Kollaps“ Westeuropas zu tun, den der polnische Lyriker Zbigniew Herbert vor vielen Jahren prophezeit hat.

Dabei belegen umfassende Studien, dass die Kernenergie zu den umweltfreundlichsten Energietechnologien gehört. Über den ganzen Lebenszyklus gerechnet verursacht sie nur die geringsten Emissionen von Luftschadstoffen und Treibhausgasen. Der Landverbrauch ist im Vergleich zu anderen Technologien gleichfalls überaus gering. Die Entsorgung von Atommüll nimmt derweil auf die Umwelt größte Rücksicht.Wenn man obendrein die Zahl der Todesfälle berücksichtigt, die der Kohlebergbau jährlich fordert und wieviel Energie für die Förderung und Transport von Flüssiggas sowie Erdöl notwendig ist, dann schrumpft die Liste mit den Gegenargumenten gewaltig. Die radioaktiven Abfälle sind im Vergleich zur erzeugten Menge Strom äußerst gering und werden ohnedies fachmännisch im Tiefenlager entsorgt, sodass sie keinerlei Auswirkungen auf die Umwelt haben. Auch wenn man sämtliche Prozesse und alle Material- und Energieflüsse der gesamten Energiekette analysiert, von der Urangewinnung bis zur Entsorgung der Abfälle, ist die Kernenergie eine der klimafreundlichsten Technologien. Zudem muss man kein begabter Wahrsager sein, um festzustellen, dass das Potenzial von Wind und Sonne den Ambitionen Robert Habecks auf absehbare Zeit nicht gerecht wird.

Nicht wenige linke Politiker meinen, bei dem von ihnen ersehnten Atomausstieg ginge es nicht nur um die Umwelt, sondern gleichermaßen um den Frieden. Jedes AKW wird als potenzielle „Bombe“ betrachtet. „Die Fluchtwege wurden gekappt, der Evakuierungsradius wird kürzer“ – witzelt man noch heute in den alten Volksrepubliken. Schließlich kam es in Tschernobyl zu einer Nuklearkatastrophe, nicht wahr? Und der Reaktor im ukrainischen Saporischschja ist derzeit ebenfalls unter Dauerbeschuss? Wer so argumentiert, verharrt noch in den Sowjetzeiten. Moskau war schon immer an einer Schwächung der westlichen Atommächte interessiert. Realitätsferner Pessimismus und effektvolle Panikmache erwiesen (und erweisen) sich dabei die wirkungsreichsten Mittel. Russland will den Ausbau der Kernenergie in Westen aus dem gleichen Grund verhindern, aus dem diverse EU-Politiker der aktuellen polnischen Atompolitik mit Misstrauen begegnen: Kleinere Staaten, die plötzlich kostengünstig ihre eigene Energie produzieren, lassen sich in vielerlei Hinsicht nicht mehr so leicht kontrollieren (genauer: beherrschen). Obgleich das EU-Parlament zuletzt die Erweiterung der Taxonomie beschlossen und der Kernkraft einen „Ökosiegel“ verpasst hat, funktioniert die im Kalten Krieg eingeübte Panikmache immer noch. Der in Deutschland praktisch schon vollzogene Atomausstieg muss Balsam für die russische Seele sein. Bisweilen erinnern die Pressekonferenzen am hauptstädtischen Platz vor dem Neuen Tor tatsächlich an Lenins Reden über den „unausweichlichen“ Klassenkampf.

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Wenngleich die Verwendung von Kernenergie künftig vielerorts zulässig bleibt, wird Warschau mit der Errichtung neuer Kernkraftwerke unaufhaltsam in eine neue Schlacht mit Brüssel geraten. Dass sich die Klimakrise als ein weiteres Instrument bei der Realisierung der von den Sozis angestoßenen Föderalisierungspläne eignet, wissen wir spätestens seit dem Konflikt um den Tagebau Turów. Die sich gegen die Schließung ihres Kohlekraftwerks wehrenden Polen wurden von der EU bereits mehrmals dafür bestraft. Der Streit mit den Tschechen wurde zwar beigelegt, doch einige zweifelhafte Institutionen wollen nicht klein beigeben. Deutsche (!) Umweltorganisationen sowie weitere „Betroffene“ aus Zittau haben schon Beschwerde eingelegt und wollen gegen die polnischen Kraftwerkbetreiber klagen. Die Bergleute in den nur unweit situierten Bundesländern Sachsen und Brandenburg dürfen aber erst einmal weiterarbeiten. Auf eine Fortsetzung des Dramas dürfen wir gespannt sein.

Es kann jedoch durchaus sein, dass die polnische Atompolitik – anders als die Causa Turów – künftig weniger Schlagzeilen machen wird. Die Erklärung ist simpel: In dieser Schlacht stünde Polen nicht allein da. Die EU müsste sie u.a. mit den USA austragen. Vielleicht gar mit Frankreich. Die AKW-Ausbaupläne der PiS-Regierung sind nicht zuletzt als ein Angebot für Macron zu interpretieren, zumal die Entscheidung über den Zuschlag im Zusammenhang mit dem dritten Reaktor noch nicht erfolgt ist. Der französische Staatschef ist zwar einem „föderalistischen“ Europa unter deutschen Auspizien (und der damit verbundenen Schuldenverteilung) nicht abgeneigt, doch er setzt wieder auf Kernkraft und ist hoffentlich kein energiepolitischer Selbstmörder. Eines steht fest: Zum Nulltarif kann jede Regierung Haltung zeigen. Sie unter Druck zu bewahren, erfordert Standhaftigkeit. Die hitzigen Reaktionen einiger Klimaaktivisten zeigen bereits jetzt schon, dass die konservative Regierung in Polen eine kluge Entscheidung getroffen hat.

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