Tichys Einblick
Kontinuität oder Totalausfall?

Polen: Das Rennen Trzaskowski gegen Duda ist nicht entschieden

Bei den Präsidentschaftswahlen in Polen lässt der konservative Amtsinhaber Andrzej Duda seinen links-liberalen Konkurrenten Rafał Trzaskowski klar hinter sich. Dennoch ist seine Wiederwahl in Gefahr. Von Wojciech Osiński.

imago Images/Zuma Wire

Bereits wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale am Sonntagabend konnten sich einige Korrespondenten der größten deutschen Tageszeitungen nicht verkneifen, altbekannte Angriffslieder gegen Polens Staatschef Andrzej Duda einzustimmen. „Schlappe für konservative PiS“, titelte etwa die Süddeutsche Zeitung und versah ihre „Analyse“ der polnischen Präsidentschaftswahl mit einem Bild des vermeintlich siegreichen Kandidaten Rafał Trzaskowski. Auch auf dem Nachrichtenportal eines bekannten Wochenblatts, das im letzten Jahr vornehmlich durch seine Neigung zum Fabulieren Schlagzeilen machte, heißt es: „Niederlage für Duda“. Und im Tagesspiegel lesen wir, der aktuelle Amtsinhaber sei „tief gefallen“. Die Wucht dieser verkürzten Titel will unmissverständlich suggerieren, dass der Kandidat der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) offenbar zu den Verlierern des Wahlabends gehörte. Die Realität ist aber eine andere: Duda hat den ersten Durchgang klar gewonnen und im Vergleich zu 2015 in der Wählergunst zugelegt. Als die letzten Stimmen ausgezählt wurden, ist sein Vorsprung auf Trzaskowski sogar auf 13 Prozent angewachsen. Die meisten deutschen Leser konnten dies vermutlich nicht mehr verifizieren. Fakt ist aber auch: Duda verpasste im ersten Durchgang die für eine Wiederwahl nötige absolute Mehrheit von 50 Prozent und muss sich in zwei Wochen einer Stichwahl gegen seinen ärgsten Konkurrenten stellen.

Suche nach Identität

Nach den Angaben der Staatlichen Wahlkommission (PKW) kommt der konservative Amtsinhaber auf 43,7 Prozent, der links-liberale Trzaskowski auf 30,3 Prozent. Dudas Vorsprung erscheint also recht komfortabel, trotzdem rechnen die polnischen Medien mit einem knappen Ausgang der Stichwahl. Der stellvertretende Chef der Bürgerplattform (PO) hatte zwar mit seinen Bekenntnissen zur Homo-Ehe anderen linken Kandidaten den politischen Sauerstoff entzogen, darf sich aber in der zweiten Runde zweifelsfrei deren Unterstützung gewiss sein. Dazu gehören insbesondere der Sozialdemokrat Robert Biedroń sowie der parteilose Publizist Szymon Hołownia, der mit 13,9 Prozent den dritten Platz belegte. Obgleich sich der erfahrene Fernsehjournalist Hołownia im Wahlkampf medienwirksam als politischer Neuling inszenierte, der jeder „systemrelevanten“ Partei den Krieg erklärt habe, so versammelt er hinter sich einflussreiche Personen, die den PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński längst zum Staatsfeind erklärt haben.

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Als Zünglein an der Waage könnten sich zudem die Wähler der Bauernpartei PSL erweisen, wobei hier die politischen Sympathien nicht endgültig auszumachen sind. Die Partei von Władysław Kosiniak-Kamysz war zwar in den Jahren 2007-2015 Koalitionspartner der PO, doch deren allmählicher Linksruck hat viele traditionelle PSL-Anhänger verstört. Die heutige Bürgerplattform hat inzwischen ein völlig anderes Gesicht. Vor den letzten Parlamentswahlen musste sie u.a. eine ungewollte Ehe mit den Grünen sowie der linksextremen Inicjatywa Polska eingehen, um ein einigermaßen respektables Wahlergebnis einzufahren. Und Trzaskowski, der mit dieser seltsamen Wandlung assoziiert wird, hätte ohne die Unterstützung der linken Juniorpartner aus der „Koalicja Obywatelska“ am Sonntag kaum die zweite Wahlrunde erreicht.

Die von dem früheren EU-Ratspräsidenten Donald Tusk mitbegründete PO ist zwar immer noch in der Europäischen Volkspartei vertreten, hat jedoch nur noch wenig mit authentischer Christdemokratie zu tun. Wobei noch im Mai die Lage zugegebenermaßen weitaus prekärer erschien. Trzaskowski ist es immerhin gelungen, seine Partei aus einem schier endlosen Umfragetief zu hieven. Warschaus Stadtpräsident ist eigentlich erst im Wahlkampf-Endspurt ins Rennen eingestiegen, nachdem er die weitgehend programm- und erfolglose Kandidatin Małgorzata Kidawa-Błońska ersetzte. Bereits zuvor war es an der Parteispitze zu personellen Rochaden gekommen. Der 41-jährige Borys Budka löste den jahrelangen Vorsitzenden Grzegorz Schetyna ab, der nach zahlreichen ideologischen Volten miterleben musste, wie die Geduld seiner Wähler zur Neige ging. Der Verdruss war flügelübergreifend, woraufhin einige Abgeordnete sogar zur PiS konvertierten. Jedoch ändert die zuletzt verabreichte Verjüngungskur nichts daran, dass die PO auch weiterhin fieberhaft nach einer neuen Identität sucht.

Amtsmüde und überfordert

Erst drei Tage vor der Präsidentschaftswahl hat Trzaskowski ein eklektisches Programm vorgelegt, das von Politologen mit mehr als einem Fragezeichen versehen wurde. Zudem halten sehr viele Warschauer ihrem Bürgermeister vor, dass er nach nur einem Jahr sein Amt aufgebe, ohne die zahlreichen Versprechen aus dem Wahlkampf 2018 eingelöst zu haben. In der Tat wirkte der ansonsten energische Trzaskowski bei den in der Hauptstadt anfallenden praktischen Aufgaben oft überfordert und schon nach wenigen Monaten von Amtsmüdigkeit gezeichnet. Bei einem überschaubaren Defekt des Abwassersystems im September 2019 musste die PiS-Regierung aushelfen. Dann ist der PO-Kandidat zu Beginn der Corona-Pandemie plötzlich untergetaucht. Die von seiner Lokalregierung angekündigten infrastrukturellen Großprojekte wurden bislang kaum realisiert. Der Vorwurf, Trzaskowski nutze das Warschauer Rathaus lediglich als politisches Sprungbrett, wollte nicht verhallen und scheint heute – nimmt man das Wahlkampfgetöse heraus – mehr als berechtigt. Der frühere EU-Abgeordnete beherrscht zwar mehrere Fremdsprachen sowie sämtliche Regeln des politischen Marketings, mit denen er sich die Akzeptanz der sog. „Proeuropäer“ erschlich, aber in nationalen Belangen waren bei ihm wiederholt Totalausfälle zu beobachten. Es ist daher anzunehmen, dass Trzaskowski spätestens bei einem der mit Spannung erwarteten TV-Duelle mit Andrzej Duda endlich „entzaubert“ wird, weil er sich dann einer Diskussion über wirkliche Inhalte nicht mehr zu entziehen vermag. Was aber dennoch nicht zwangsläufig seine Niederlage besiegeln muss.

Nichts ist in Stein gehauen
Abschied vom Gestern – Nachdenken über Europa
Wenn der oppositionelle Politiker in den Präsidentenpalast am Krakowskie Przedmieście einzieht, werden wir mindestens bis 2023 eine Exekutive erleben, in welcher der Ministerpräsident und das Staatsoberhaupt zwei grundsätzlich zerstrittenen Lagern angehören. Das konfliktreiche Verhältnis zwischen Donald Tusk und dem 2010 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen Lech Kaczyński hatte schon mehrfach bewiesen, dass sich diese Konstellation zumindest in der polnischen Politik auf Dauer nicht bewährt. In Polen erfreut sich das Amt des Präsidenten einer weitaus größeren Machtfülle als beispielsweise in Deutschland, wenngleich sie auch nicht derart ausgeprägt ist wie in den USA oder Frankreich. In mancherlei Hinsicht sind dem polnischen Staatsoberhaupt die Hände gebunden und dessen Vollmachten nicht abschließend geklärt (weshalb Duda auch mehrmals mit der Durchführung eines Verfassungsreferendums liebäugelte).

Trotzdem könnte ein Präsident aus der Opposition teilweise ungebremsten Einfluss auf die Arbeit der Regierung nehmen. Er darf Richter ernennen, sein Veto einlegen und selbst Gesetzesinitiativen anstoßen. Wobei Trzaskowski bereits versprochen hat, die Justizreform der PiS zu blockieren sowie „einschneidende“ Veränderungen in den öffentlich-rechtlichen Medien vorzunehmen. Wenn folglich Duda mit einer zweiten Amtszeit den bisherigen Kurs der PiS-Regierung untermauern bzw. korrigieren will (es mag für den deutschen Leser verwunderlich sein, aber als Staatschef machte er von dem ihm zustehenden Vetorecht häufiger Gebrauch als alle seine bisherigen Vorgänger), ist er noch auf die Unterstützung des Nationaldemokraten Krzysztof Bosak angewiesen, der bei der letzten Wahl mit fast 7 Prozent einen hervorragenden vierten Platz erreicht hat. In den westlichen Zeitungen bereits als „rechtsradikal“ verschmäht, bestach er im Wahlkampf insbesondere durch seine ruhige Art und sachkundige Kompetenz. Neben dem 38-jährigen Konfederacja-Abgeordneten wirkten sogar ältere Kandidaten wie Biedroń oder Trzaskowski wie gedemütigte Schuljungen. Bosak will zwar keine eindeutige Wahlempfehlung aussprechen, doch seine Anhänger dürfen ohnehin selbst entscheiden. Denn die polnische Demokratie lebt. Trotz Corona-Pandemie ist die Wahlbeteiligung mit 63 Prozent erneut stark gestiegen.

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