Tichys Einblick
Übergangsphase

Österreich: Nach der Wahl ist für Kurz schwerer als vorher

In Österreich rechnet niemand mit einer schnellen Regierungsbildung, sondern erst einmal mit langen Sondierungen.

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Das Wahlrecht in Österreich hat eine Besonderheit, die Deutschland nicht kennt: Mit Vorzugsstimmen können die Wähler die von den Parteien festgelegte Reihenfolge auf den Parteilisten ändern. Das Ergebnis dieser Vorzugsstimmen lässt einen interessanten Vergleich unter den Politikern auf den vorderen Rängen zu.

Sebastian Kurz hat mit 129.532 mehr Vorzugsstimmen als alle anderen Parteichefs zusammen; Herbert Kickl, FPÖ, 58.158 Stimmen; Norbert Hofer, FPÖ, 23.620; Werner Kogler, Grüne, 16.086; Pamela Rendi-Wagner 12.911; Beate Meinl-Reisinger, Neos, 8.576 Stimmen.

Unübersehbar und unüberhörbar stellen die Nachrichtenleute des ORF ihre Vorliebe für eine türkis-grüne Koalition ins TV-Schaufenster (ohne wie der WDR die Grünen zur zweitstärksten Partei zu ernennen). Aber sie stellten korrekt dar, dass es in praktisch allen wichtigen Fragen keine Übereinstimmung zwischen den Wahlprogrammen von Volkspartei und Grünen gibt.

Eine programmatische Basis hätten natürlich Volkspartei und FPÖ, sie müssten nur da anknüpfen, wo sie aufhören mussten. Aber zur Zeit ist nicht klar, mit wem Kurz verbindlich reden kann bei der FPÖ. Denn diese steckt mitten drin, Klarheit in den eigenen Reihen schaffen zu müssen. Nachdem Heinz-Christian Strache seine politische Karriere für beendet erklärte, ist nun der Stellvertreter-Streit im Gange, ob seine Ehefrau Philippa Strache dem FPÖ-Club (Fraktion) im Nationalrat angehören darf oder nicht. Die Kronenzeitung titelt: „FPÖ will mit den Straches nichts mehr zu tun haben“. In der FPÖ findet ein handfester Richtungsstreit statt. Wie Kurz mit wem verhandeln soll, während dieser Streit ausgetragen wird, kann ich mir nicht recht vorstellen. Eine Anmerkung für jene, die Kurz vorwerfen, er hätte die Koalition mit der FPÖ mutwillig oder leichtfertig beendet: Was um Strache herum nun in der FPÖ stattfindet, hat seine Ursache nicht in den Neuwahlen.

Auch in der SPÖ geht es drunter und drüber. Am kommenden Sonntag sind Landtagswahlen in Vorarlberg. Als Schicksalswahl für die Sozialdemokraten gilt die Steiermark am 24. No­vember. Ihr erster Platz scheint außer Reichweite. Im Burgenland drohen im Januar schwere Verluste. Begleitet wird die Binnendebatte der SPÖ von unangenehmen Gerüchten über Verwicklungen in die Ibiza-Affäre. Doch kommt es zu keiner Koalition der Volkspartei mit den Grünen, ist auch die Konstellation Volkspartei und SPÖ möglich – und sei es nur, um nach ihrem Scheitern Neuwahlen zu ermöglichen.

Mit den Neos käme Kurz wohl am besten klar, aber dafür hätten diese ein paar Prozent mehr holen müssen. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben.

Dazwischen ein Blick auf’s Wahlergebnis:

»Neos-Gründer Matthias Strolz ist skeptisch, ob es nach den Nationalratswahlen zu einer tragfähigen Regierungskonstellation kommt«, meldet die Kronenzeitung, »Er erwarte, egal in welcher Konstellation, keine „fünfjährige Regierung“«. Diese Einschätzung teile ich. Auch sein langfristiger Blick von „einer politischen Übergangsphase hin zu einer neuen Machtdynamik“ hat viel für sich.

In Österreich rechnet niemand mit einer schnellen Regierungsbildung, sondern erst einmal mit langen Sondierungen. In aller Ruhe entspricht dem Naturell von Sebastian Kurz. Doch er ist auch für jede Überraschung gut. Er weiß, nichts kann man leichter verspielen als einen großen Wahlsieg.

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