Tichys Einblick
Noch keine Regierung – aber schon Streit

Wilders: Die Niederlande sind nicht mehr die Niederlande

Demokratie beunruhigt die Regierenden. Das zeigt sich gerade in Berlin und anderswo. Kaum kleiner ist das Erschrecken vor Wahl- und Umfrageergebnissen in den Niederlanden, wo Geert Wilders’ Partei weiter in der Wählergunst steigt. Nun wird die Regierungsbildung durch ein neues Verteilungsgesetz für Asylbewerber gefährdet.

IMAGO / ANP

2024 wird das Jahr vieler Wahlen. Angeblich wird die Hälfte der Weltbevölkerung – mehr als 60 Länder mit vier Milliarden Bürgern – dieses Jahr zu den Urnen gerufen. Und natürlich fehlen nicht die Unkenrufe der unberufenen Wahlbeobachter, dass die Demokratie bei diesen Wahlen auf dem Spiel stünde. Ausgerechnet bei den Wahlen?

So warnt die Washington Post natürlich schon heute vor den US-Präsidentschaftswahlen im kommenden November, bei denen es vermutlich zur Neuauflage Trump vs. Biden kommen wird. Fast im gleichen Atemzug warnt das Blatt auch vor den Wahlen zum EU-Parlament, die von einem ähnlichen „Gefühl der Krise“ begleitet würden. Beklagt wird, wie die „extreme Rechte“ den politischen Mainstream beständig in Beschlag nehme. Die „public angst“ wegen der zunehmenden illegalen Migration oder auch einer drohenden Wirtschaftsstagnation kann man in der Washingtoner Redaktion gar nicht verstehen. Dabei ist Deutschland längst in der Wirtschaftsschrumpfung angekommen.

Auch das aktuell in Davos stattfindende World Economic Forum warnt in einem „Global Risks Report 2024“ vor Wahlen und ihren chaotischen Folgen. „Polarisierende Narrative“ spielen angeblich eine Hauptrolle, wo geopolitische Spannungen sich in „schwindendes Vertrauen“ übersetzen. Wir wissen es von deutschen Regierenden, also konkret von Robert Habeck: Wo Protest gegen die Regierung aufkeimt, gilt es sich „unterzuhaken“ und gefälligst im Team zu spielen. Ansonsten droht „politische Instabilität“, die man sich auf der stark abfallenden rot-grünen Resterampe nicht wünschen kann. Auch in dem WEF-Bericht ist von „gewaltsamen Protesten, Unruhen und Streiks“ die Rede. All das kann ein global denkender Grüner nicht wollen.

Inzwischen sind noch ein paar gefährliche Urnengänge hinzugekommen, die ja eigentlich dazu gedacht sind, einen gewaltsamen Umsturz überflüssig zu machen, weil die Regierung in Harmonie mit dem Volk handelt. Zu Parlamentswahlen in Pakistan, Indonesien, Südkorea, Belgien und Österreich sind zuletzt Neuwahlen in Portugal gekommen, nachdem der sozialistische Regierungschef António Costa wegen Korruptionsermittlungen zurücktrat. Es geht um Abbaulizenzen für Lithium und die Produktion von „grünem“ Wasserstoff, typische Lieblingsprojekte der neuen ökosozialistischen Führungselite.

Derweil führen aber auch erfolgreich durchgeführte Wahlen nicht immer umgehend zu dem vom Wähler gewünschten Ziel. Und das ist trotz allem meist eine funktionierende Regierung. In den Niederlanden kommt nun die Zersplitterung des Parteiensystems hinzu, die die Mehrheitsfindung in dem Land notorisch erschwert. Seit dem 22. November versuchen vier bis fünf Parteien, sich auf ein Regierungsprogramm zu einigen, und scheinen diesem Ziel noch nicht viel näher zu ein. Die größte Fraktion im Repräsentantenhaus stellt Geert Wilders’ EU-kritische und ziemlich anti-islamische Partij voor de Vrijheid (PVV) mit 23,5 Prozent der Stimmen und 37 Sitzen. Bei den Wahlen im November war das Land zum größten Teil dunkelblau – die Farbe der PVV – geworden, was auch die Verankerung von Wilders’ Partei auf dem Land zeigt. Doch für eine Mehrheit braucht Wilders mehr als doppelt so viele Stimmen, er gerät also ohne ähnliche Partner so gut in die Minderheit in der Regierung wie Olaf Scholz’ SPD in Deutschland.

Wilders zieht Vorschläge zurück – andere setzen ihr Werk fort

In Den Haag müsste sich Wilders theoretisch nur mit der alten Regierungsführerin, der rechtsliberal-zentristischen VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie) und dem neu gegründeten christlich-demokratischen NSC (Nieuw Sociaal Contract) einigen. Dann hätte er schon eine Mehrheit. Die Bürger-und-Bauern-Bewegung (BoerBurgerBeweging) erreichte zu wenige Stimmen (sieben Sitze), um hier alleine eine Rolle zu spielen. Aber auch Caroline van der Plas ist in die Gespräche eingebunden, ebenso die rechtskonservative Abspaltung JA21 von Thierry Baudets Forum voor Democratie (FvD), die allerdings nur einen Sitz gewinnen konnte. Baudets Partei (mit selbst noch drei Sitzen) gilt nach Antisemitismus-Vorwürfen als nicht mehr satisfaktionsfähig.

Und nun gibt es also Probleme mit der Mehrheit. Aus diesem Grund zog Geert Wilders einige seiner Kernvorhaben zurück, drei schon ältere Vorschläge, die aber auch dem Parteichef besonders am Herzen liegen. Darunter ist der Antrag für ein Verbot des Korans, von Moscheen, Islamschulen und islamischer Kleidung. Der Vorschlag war ein weitgehender, deshalb stellt ihn Wilders nun zur Disposition. Ebenso – und das mag mancher bedauern – den Vorschlag zur Präventivhaft für Dschihad-Sympathisanten, mithin Terrorverdächtige, oder auch den Entzug des Wahlrechts für Doppelstaatler. All dies sind Vorhaben, die zur PVV gehören, deshalb aber noch nicht in einem gemeinsamen Regierungsprogramm vorkommen müssen. Wer wollte diesen Grundsatz der parlamentarischen Regierungsform bestreiten.

Dennoch scheinen die Verhandlungen zäh zu bleiben. Nun will die VVD am kommenden Dienstag gar noch einem Gesetz zur Verteilung von Asylbewerbern im ganzen Land zustimmen und hat damit scharfen Widerspruch von Wilders geerntet. Auf der Plattform X, die er gelegentlich für ihre Offenheit im Gegensatz zu traditionellen Medien gelobt hat, schrieb Wilders zunächst: „Wir sollten Gemeinden niemals dazu zwingen, Asylbewerber unterzubringen. Die Niederlande sind voll, proppenvoll. Genug ist genug. Weg mit dem Gesetz.“ Später dann: „Die Niederlande sind nicht mehr die Niederlande, und das muss sich schnell ändern.“ Als dann die Entscheidung der Liberalen feststand, ließ er ein „MIJN HEMEL“ („Meine Güte“) folgen. Er und seine Partei sprechen von einem „Zwangsgesetz“. Wilders sieht in der Abstimmung – mitten in den Koalitionsverhandlungen – zudem „ein Problem“. Die Niederlande verzeichneten im vergangenen Jahr mehr als 100.000 neue Asylanträge. Auch das christdemokratische NSC will diese Zahl mindestens halbieren. Die Rechtsliberalen vom VVD wollen das Asylsystem „an andere EU-Mitgliedstaaten angleichen“, was auch immer das heißen mag. Aber erst mal wollen sie alle bis dahin Ankommenden verteilen.

Auch der Telegraaf mahnt in einem aktuellen Artikel zur Eile bei der Regierungsbildung, unter anderem mit den Worten: „Aufgrund einer alternden Bevölkerung, stark sinkender Geburtenraten und mangelnder Steuerung der Migration droht unser Land in den kommenden Jahren viel Wohlstand zu verlieren.“ Gestoppt werden muss demnach vor allem ein „rasantes Bevölkerungswachstum“ durch die Migration, das man im gesamtwirtschaftlichen Interesse verhindern müsse. 20 Millionen Niederländer seien die Obergrenze.

In Umfragen erklimmt Wilders neue Gipfelpunkte

Trotzdem und trotz vieler eigener Einwände gegen das Asylsystem rechtfertigte der amtierende Staatssekretär für Asyl und Migration, Eric van der Burg, das Gesetz. Seine Chefin, die Ministerin für Justiz und Sicherheit Dilan Yesilgöz (zugleich neue Vorsitzende der VVD), hatte selbst den Beschlussantrag gestellt. Yesilgöz, die kurdischer Herkunft ist und in Ankara geboren wurde, gab sich im Wahlkampf kritisch bei den Themen und Islam und Terrorismus und schloss eine Koalition mit Wilders nicht aus.

Übrigens muss es in den dichtbesiedelten Niederlanden nicht nur um die illegale Migration gehen. Viele haben dort auch mit weiterer legaler Einwanderung ein Problem. Auch wenn die Asylzuwanderung auf 50.000 oder auch darunter gedrückt werden kann, blieben immer noch 125.000 Auslandsstudenten die Regel, die ihrerseits Familienanhang mitbringen dürfen. Auch die Niederlande haben 100.000 Ukrainer aufgenommen und müssen eventuell mit mehr Neuankömmlingen rechnen. Hinzu kommen eventuell benötigte Arbeitskräfte, die man aktuell bei einer Million beziffern mag. Für alle diese Zuwanderer müssen Häuser bereitgestellt werden, was nicht immer leicht ist und die Preise am Miet- und Immobilienmarkt beeinflusst. Die illegal einreisenden Asylbewerber kommen dazu. Und all das ist natürlich sozialer Zündstoff, ohne dass irgendein Politiker die Lunte daran gelegt hätte.

Während sich die Koalitionspartner in Den Haag sich noch verhaken oder auch Fingerhakeln miteinander spielen, vergrößert sich laut Meldungen der Abstand der PVV zu ihren Verfolgern. Laut neuesten Umfragen könnte die PVV schon 48 Sitze erringen (bei 29 Prozent der Stimmen), die liberale VVD-Fraktion würde sich momentan bei Neuwahlen knapp halbieren (von 24 auf 13 Sitze). Ebenso würden die neugegründete christdemokratische Partei NSC an Zustimmung verlieren. Das kann man durchaus so lesen, dass die Niederländer ungeduldig auf eine Regierungsbildung unter Geert Wilders warten.

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