Tichys Einblick
Proteste in Frankreich gehen in nächste Runde

Macron wegen Gelbwesten nicht nach Marrakesch

Macron setzte indes die umstrittene Besteuerung für Benzin und Diesel für das kommende Jahr aus. Er will Gesprächsgruppen in den Regionen einrichten, um im Dialog mit den Menschen die Wogen zu glätten. Ob das reicht? Ein Bericht von Kai Horstmeier aus Lyon.

ROMAIN LAFABREGUE/AFP/Getty Images

“Macron démission!” Das ist die Forderung, die man dieser Tage am häufigsten auf den Straßen der größeren Städte Frankreichs hört. “Macron – Rücktritt!” fordern Tausende Demonstranten der “Gilets Jaunes”, der sogenannten Gelbwesten, bereits am vierten Samstag in Folge. Auch in Lyon. Dabei ist es augenscheinlich ein ganz normaler vorweihnachtlicher Samstagnachmittag in der Geschäftsstraße in der Innenstadt, der Rue de la République. Erst wenn man die Place Bellecour erreicht, einen der größten Plätze Frankreichs, dann sieht und hört man sie. Einige hundert Gelbwesten haben sich hier versammelt, um gegen den Sozialabbau der Regierung von Präsident Emmanuel Macron zu protestieren. Friedlich. Von Gewaltbereitschaft keine Spur. Die Lage eskaliert erst am frühen Abend, als eine Gruppe Jugendlicher randaliert. 23 Festnahmen, keine Verletzten. Landesweit waren es nach Angaben des Innenministeriums 1.723 Gelbwesten, die vorübergehend festgenommen wurden, 1.220 von ihnen wurden in Polizeigewahrsam behalten, ein Teil von ihnen muss sich nun in einem Schnellverfahren vor der Justiz verantworten.

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Es ging weitaus friedlicher zu an diesem Wochenende in Frankreich als noch eine Woche zuvor. Da hatten Randalierer in Paris das Allerheiligeste des Landes im Museum des Triumphbogens, die Büste der “Marianne”, das Symbol der Republik schlechthin, zerstört und den museumseigenen Souvenierladen geplündert. Auch an diesem Wochenende kam es zu Sachschäden in Paris, in Lyon, in Bordeaux; gut 200 Verletzte zählt das Innenministerium. Patrick H. studiert Politikwissenschaften im zweiten Jahr und sieht in vor allem im Vandalismus die Schwäche der Bewegung: “Wenn es die Gelbwesten nicht schaffen, die Aufmerksamkeit auf ihre Forderungen anstatt auf Randale zu fokussieren und Gewalt zu verurteilen, dann wird die Bewegung trotz ihres Potentials als diejenige in Erinnerung bleiben, die Marianne den Kopf eingeschlagen hat”, meint er.

Auf der Place Bellecour in Lyon zeigen sich die Gelbwesten friedlich. Sie ziehen weiter zur naheliegenden Brücke “Pont Guillotière” über die Rhône, um dort den Verkehr lahmzulegen. Die Aktion verläuft friedlich, immer wieder hupen Autofahrer, um so ihre Solidarität mit der Bewegung zu zeigen. Die Stimmung: eher festlich als gewaltbereit. “Macron muss zurücktreten”, sagt Lionel, wie er sich nennt, einer der Veranwortlichen der Gelbwesten in Lyon. “Entweder Macron und die Regierung treten zurück, oder sie ändern komplett ihren Kurs. Die Franzosen leiden, die Rentner leiden”, sagt er, “die Menschen leiden unter ihrer Armut. In dieser wirtschaftlichen Lage die ISF, die sogannte Reichensteuer, abzuschaffen, ist vollkommen haltlos. Sie muss umgehend wieder eingeführt werden, sie hat vier Milliarden Euro in die Staatskasse gespült. Der Mindestlohn muss erhöht werden”, fordert Lionel. “Das ist Macrons letzte Chance, er muss sich endlich äußern. Die Menschen können nicht mehr in Würde leben. Macron muss ein starkes Zeichen setzen. Er muss die Steuern senken und darf die Energiepreise nicht weiter erhöhen. Wir demonstrieren hier friedlich. Es gab zwar eine Gruppe Gewaltbereiter, von denen haben wir uns aber getrennt.” Lionel ergreift die Initiative und regelt den Verkehr, die meisten Autofahrer zeigen sich weiter hupend solidarisch, die Stimmung bleibt friedlich.

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Dabei verliert man leicht den Überblick an diesem Samstag in Lyon. Bis zu 15.000, 7.000 nach Angaben der Präfektur, haben nach Zählungen der Veranstalter am Morgen auf den Straßen gegen den Klimawandel protestiert, dazu kommen mehrere Hunderttausend Touristen, die das traditionelle Lichterfest in der Stadt besuchen. Präsident Macron hält sich bedeckt, seine Reise nach Marrakesch an diesem Montag hat er abgesagt und schickt stattdessen Staatssekretär Jean-Baptiste Lemoyne zur Unterzeichnung des Migrationsabkommens der Vereinten Nationen nach Marokko. Viele Gelbwesten lehnen das Abkommen ab, weil sie eine Flüchtlingsflut nach Frankreich befürchten. Und überhaupt: Wer sind sie eigentlich, die Gelbwesten?

Zu Beginn demonstrierten sie gegen Steuererhöhungen auf Benzin und Diesel und gegen die Reformpolitik der Regierung. Das hat sich längst ausgeweitet auf Proteste gegen die gesamte Sozialpolitik der Regierung von Emmanuel Macron. Die Gelbwesten organisieren sich selbst und wollen sich von keiner politischen Partei vereinnahmen lassen. Das ist aber schon längst geschehen. Sowohl von ganz links, als auch von ganz rechts versucht man die Bewegung zu vereinnahmen. Von Jean-Luc Mélonchons “France Insoumise” bis zu Marine Le Pens “Rassemblement National”, dem ehemaligen “Front National“, beanspruchen die Parteien, die Ziele der Bewegung zu vertreten. Dabei ist inzwischen klar, dass ein Teil der Gelbwesten dem rechtsextremen Lager entspringt. So hat kürzlich einer ihrer Wortführer, Christophe Calenćon aus dem Département Vaucluse, gefordert, Premierminister Édouard Philippe durch den ehemaligen Generalstabschef der französischen Armee, Pierre de Villiers, zu ersetzen.

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Das schreckt viele Franzosen ab. “Usprünglich war es eine unpolitische Bewegung”, meint etwa Olivier R., der Ersatzteile für Lastwagen von Renault ausliefert. “Sie ist aber rasch von Extremisten von rechts und links unterwandert worden.” Ähnlich sieht das auch Khalid F., ebenfalls Auslieferer: “Geboren wurden die Gelbwesten aus einem guten und nachvollziehbaren Grundsatz heraus. Sie setzten sich für angemessene Lebenshaltungskosten ein. Inzwischen haben sie sich aber in einem undemokratischen Wahn verloren.” Karim H. hat in diesem Jahr sein Abitur gemacht. Er meint, die Gelbwesten seien ebenso beeindruckend wie chaotisch. “Ihre Forderungen sind verständlich, aber ihre Methoden uneffizient. Sie behindern vor allem die anderen, die unbeteiligten Franzosen. Er kritisiert auch den Vandalismus in der Bewegung, der seit einer Woche auch vor den Schulen nicht mehr Halt macht. Bestraft würden durch die Blockaden vor allem Unbeteiligte. “Da hat sich ein Dialog unter Tauben herausgebildet, der auf beiden Seiten dazu führt, dass sie die Lage nicht mehr beherrschen.”

Tränengas, Gummigeschosse, brennende Autos und Barrikaden, vandalierte Geschäfte und Restaurants. In der vergangenen Woche hat ein Abgeordneter der Regierungspartei “La République en Marche“ per Post eine Pistolenkugel mit der Warnung erhalten, die nächste werde zwischen seinen Augen landen. Die Schäden gehen in zweistellige Millionenhöhe, vielen Einzelhändlern wurde damit das Weihnachtsgeschäft vermasselt. Wohin das führen wird? Auch im Stadtzentrum von Bordeaux wurden an diesem Samstag Vitrinen eingeschlagen und Restaurants in Brand gesetzt. Der Bürgermeister, Alain Juppé, ehemaliger Premierminister unter Jacques Chirac, hat Präsident Macron aufgefordert, nun endlich sein Schweigen zu brechen und zu den Franzoszen zu sprechen. Das Image Frankreichs sei bereits international beschädigt, man brauche nun einen starken und autoritären Diskurs des Präsidenten, der aber auch Verständnis und Empathie für die Menschen zeigen müsse. Viele der Forderungen der Gelbwesten seien schließlich verständlich und verdienten es, gehört zu werden. Macron setzte indes die umstrittene Besteuerung für Benzin und Diesel für das kommende Jahr aus. Er will Gesprächsgruppen in den Regionen einrichten, um im Dialog mit den Menschen die Wogen zu glätten. Ob das reicht? Ein Anfang ist es allemal. In den sozialen Medien haben die Gelbwesten indes zu einem fünften Akt aufgefordert, mehrere Tausend Demonstranten kündigten an, daran teilnehmen zu wollen. Auch am kommenden Wochenende wird dann wieder vor allem eine Farbe die Straßen der größeren Städte Frankreichs kennzeichnen: ein leuchtendes Gelb.


“Macron – Rücktritt! Rücktritt der gesamten Regierung, oder eine komplette Kursänderung der Regierung.Macron und die Regierung müssen komplett die Richtung ändern. Die Franzosen leiden, die Rentner leiden. Die Menschen leiden unter ihrer Armut. Das ist nicht mehr möglich. Wie kann man in der derzeitigen Wirtschaftslage die ISF (Reichen- oder Vermögenssteuer) abschaffen? Die hat Frankreich vier Milliarden Euro eingebracht. Das ist absolut unkohärent. Man gibt den Reichen und den großen Unternehmen sämtliche Vorteile, man erhöht die Steuern. Die Franzosen können nicht mehr ihren Bedürfnissen entsprechend leben. Am 25. des Monats haben sie nichts mehr in der Tasche. Die Leute haben nichts mehr im Kühlschrank. Das ist unmöglich. Es muss unbedingt sein, dass der Präsident sich darüber klar wird und seine Richtung ändert. Er muss umgehend die ISF wieder einführen und den Mindestlohn erhöhen, das soziale Minimum erhöhen. Das ist die letzte Chance für Präsident Macron. Er muss am Montag zu den Menschen sprechen. Er muss sich darüber klar sein, dass die Menschen leiden; das Volk kann nicht mehr in Würde leben. Das Volk kann nicht seinen Hunger stillen. Das ist seine letzte Chance. Er muss unbedingt ein starkes Signal senden und die Vermögenssteuer wieder einführen und alle Steuererhöhungen zurücknehmen, die Strompreissteigerungen verhindern und bessere Dienstleistungen für behinderte Menschen anbieten. Die Franzosen halten alle zusammen und demonstrieren friedlich. Vor allem friedlich. Wir haben uns von den anderen getrennt, erst war eine Gruppe Gewaltbereiter unter uns. Wir haben uns dafür entschieden, uns von ihnen zu trennen. Wir sind pazifistisch. Wie Sie hier sehen, blockieren wir hier friedlich.”

“Zusammen für das Volk und den Planeten, gemeinsam gegen Neoliberalismus”