Tichys Einblick
Attal und die Ohrfeige der Realität

Wie Macron seine neue Regierung behutsam auf rechts dreht

Am Dienstagabend lud Macron die Franzosen zu einer Fernsehansprache ein, was sie nicht ablehnen konnten. Mit seinem neuen Premier Attal und teils neuen Ministern versucht er einen Rechtskurs zu inszenieren, mit dem man deshalb noch nicht rechnen muss. Eines belegen aber auch diese Winkelzüge: Der politische Wind im Nachbarland hat sich gedreht.

Der französische Präsident Emmanuel Macron bei der Pressekonferenz im Elysée-Palast, Paris, 16. Januar 2024

IMAGO / MAXPPP

Das neue Kabinett Attal hat schon eine Woche nach der Vorstellung seinen ersten Skandal, oder auch zwei davon. Dabei hatte Emmanuel Macron eigens in einen etwas bescheidener wirkenden Arbeitsraum geladen, um die Amtszeit seines Vertrauten Gabriel Attal offiziell zu beginnen. In dem Raum sollen fortan alle gemeinsamen Kabinettssitzungen stattfinden, nicht mehr in dem alten, goldverzierten Kabinettssaal des Élysée. Doch feudalistisch könnte die neue Regierung dennoch organisiert sein. Es wird gemunkelt, dass der WEF-Mann Macron den blutjungen Attal auch deshalb zum Premier ernannt hat, weil auch Attal im Pandemie-Jahr 2020 eine Klasse der „Young Global Leaders“ beim World Economic Forum (WEF) von Klaus Schwab besucht hat. Attal rangierte damals noch auf den hinteren Plätzen. Die Scheinwerfer lagen ganz auf der ehemaligen finnischen Ministerpräsidentin Sanna Marin und der Black-Lives-Matter-Mitgründerin Alicia Garza. Inzwischen werden weder Garza noch Attal offiziell als Teil der „Community“ geführt – die Gründe mögen verschieden sein.

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Sicher ist, dass Attal zur selben Kaste zukunftsträchtiger Regenten gehören will wie vor ihm Macron. Und auch ein Dritter im Bunde gehört wohl dazu: der neue Außenminister Stéphane Séjourné, geboren in Versailles, Mitgründer der Parteijugend „Jeunes avec Macron“ und zufällig der ehemalige Lebensgefährte Attals. Diese Beziehung ist angeblich seit 2022 Geschichte. Die Konstellation ähnelt also derjenigen zwischen Ségolène Royal und ihrem Ex-Partner François Hollande, die ebenfalls gemeinsam regierten. Es ist jedenfalls keine frisch erblühte, heiße Lovestory wie 2024 in Berlin. Trotzdem zeigt sich hier, wie sehr sich auch das macronistische Lager schon zu einer Gesinnungsgenossenschaft, vielleicht einer politischen Kaste verfestigt hat, die nach außen dicht hält und so ein ganzes Land regieren will. Eine Abstimmung in der Nationalversammlung will der neue Premier nach neuesten Meldungen vermeiden – kein Wunder, die Mehrheit fehlt ihm so gut, wie sie seiner Vorgängerin fehlte.

Trotz dieser kreisförmigen Innenstruktur – Éric Zemmour sprach von einem Kreisel, der sich um sich selbst dreht – kann man das neue Kabinett Attal nicht verstehen, ohne die politische Lage in Frankreich zu sehen. Auch diese Lage zerfällt in zwei Teile: Die konkrete Situation im Land ist das eine, das die Regierenden interessiert, ihre Reflexion in der Pariser Blase das andere. In Deutschland zeigt sich diese Distanz gerade an den Bauernprotesten und der hilflos-angewiderten Reaktion der politischen Klasse. In Frankreich hat dieses Ungleichgewicht schon eine längere Geschichte, die sich etwa in den Gelbwesten-Protesten und der harten Reaktion des Staates zeigte.

Die neue Erziehungsministerin bevorzugt Privatschulen

Daneben spielt die Migration mit ihren über Jahrzehnte anhaltenden – manchmal um Jahrzehnte verzögerten – Folgen und „Integrationshemmnissen“ eine immer größer werdende Rolle. Die öffentliche Unsicherheit hat inzwischen ein Ausmaß erreicht, das viele Franzosen an ihrem Land zweifeln lässt. Messer werden wegen Petitessen gezogen und zu Mordinstrumenten gemacht, für ein Handy wird mitunter getötet. Der Drogenhandel ist fest in maghrebinischer Hand. Gleich ob in Nord oder Süd, Stadt oder Land vermischen sich Raub, Einbruch, körperliche Angriffe und sadistische Vergewaltigungen (ob in der Stadt oder zu Hause) zu einer schlimmen Melange.

Das betrifft besonders den öffentlichen Raum, zu dem auch die Schulen gehören. Und eben diese Schulen hatte der neue Premier und scheidende Erziehungsminister Attal bei seinem Amtsübergang als hochgradig belastet dargestellt. Sein Respekt vor Lehrern und Schulleitern sei grenzenlos („sans bornes“).

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Für die Schulen – wie auch für die kommenden Olympischen Sommerspiele in Paris – ist nun eine Ministerin zuständig, die prompt für einen weiteren kleinen Skandal gesorgt hat. Amélie Oudéa-Castéra hat sich sogleich in die Nesseln gesetzt, als sie zugeben musste, ihre Kinder auf eine private Schule zu schicken, und dann auch noch an das bekannte konservative Collège Stanislas. Die Ministerin wollte sich nun verteidigen und zugleich in die Offensive gehen und sagte der Presse, dass daran der häufige Unterrichtsausfall an der früheren öffentlichen Schule ihrer Kinder schuld gewesen sei. Aber das trifft an der einstigen Schule ihrer Kinder gar nicht zu, wie die linke Libération herausgefunden haben will. Oudéa-Castéra musste sich entschuldigen und bedauerte, dass ihre Äußerungen „einige Lehrer“ verletzt haben könnten.

Lange geplante Streiks wurden eilends umgewidmet und nun als Protest gegen die Ministerin etikettiert. Die Äußerungen waren sicher nicht sehr bedacht, wenn auch erfrischend ehrlich – jedenfalls was Frankreichs Schulen generell angeht. Sicher hätte Oudéa-Castéra noch mehr Probleme benennen können, die dazu führen, dass sie eine Privatschule vorzog. Am Dienstag zog sie unter Buhrufen nach Canossa und entschuldigte sich an der öffentlichen Schule, die ihr Sohn nur ein halbes Jahr besucht hatte.

„Wenige Monate können das Gesicht von Jahrzehnten verändern“

In dieser schon leicht heiklen Lage trat Präsident Macron am Dienstagabend vor die Nation, angeblich mit einer Fernsehansprache im XL-Format, übertragen auf sechs Kanälen plus einigen Radiosendern. „Es geht darum, den tieferen Sinn des Handelns für diese neue Regierung in einer Zeit festzulegen, in der wenige Monate das Gesicht von Jahrzehnten verändern können“, hieß es dazu rätselhaft bis ominös aus dem Élysée. Macron glaubt sich offenbar an einer Wegscheide, will vielleicht wirklich versuchen, das berühmte Heft des Handelns noch einmal zu greifen zu bekommen, um den politischen Wechsel und Wandel aufzuhalten, der in Frankreich mehr noch als in Deutschland zum Greifen nah ist.

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Die neue Regierung ist – neben anderem – auch ein Zeichen dafür: Attal, der junge Premier, der erst vor einem halben Jahr zum Minister geworden war, ist insofern ein Zeichen des Wandels innerhalb des vage „zentristischen“ Dritter-Weg-Macronismus. Nach den Borne-Wirren verrückt er die zweite Regierungszeit Macrons deutlich nach rechts. Und das ist eine Bewegung, mit der man – wie gesagt – den Nationalen um Marine Le Pen zuvorkommen, zumindest irgendwo im „rechten Lager“ zurückhaltend wildern will. Auch indem man vorwegnimmt, was die Nationalen und die ihnen nahestehenden Konservativen nach kommenden Wahlen ohnehin beschließen könnten.

Tatsächlich dürften fast alle Entscheidungen über das Kabinett von Macron gefällt worden sein. Es ist Emmanuel Macron, der mit der neuen Regierung Attal wiederum kraftvoll die Zügel des Regierens in die Hand nehmen will. Das entspricht so der französischen Halb-Präsidialverfassung, die im Zweifel auf den Streit (und die Mehrheiten) im Parlament verzichten kann, wenn der Präsident mit und dank einem populären Mandat das Land „von vorne“ führt. Nur ist das mit Macron freilich immer weniger der Fall, spätestens seit er das Land durch die Corona-Zeit wie durch einen „Krieg führen“ wollte (seine Worte).

Dati und Vautrin: Konservative Nebelkerzen?

Inzwischen steht seine Präsidentschaft freilich wegen noch ganz anderer Probleme im Feuer der Kritik. Vor allem die Spannungen zwischen den kontrastierenden Bevölkerungsteilen der einheimischen Franzosen und der zugewanderten Nordafrikaner, die sich zunehmend feindlich gegenüberstehen (siehe das Drama von Crépol und viele andere Beispiele), bilden den Hintergrund für eine hitzige Auseinandersetzung über die Zuwanderung heute und Maßnahmen gegen die fortschreitende Überfremdung Frankreichs, eine Veränderung, die der Großteil des Landes nicht will.

Zumal die Abwerbung von Rachida Dati, einst Ministerin unter Nicolas Sarkozy, gilt als Macrons Werk und Gedanke. Die Tochter eines Marokkaners und einer Algerierin, Schwester zweier verurteilter Drogendealer aus einer insgesamt elfköpfigen Kinderschar, gilt selbst als Muster der assimilierten Zuwanderertochter, die in ihrem Wahlkampf um das Pariser Rathaus für „Ruhe, Sicherheit und Sauberkeit“ in der Hauptstadt eintrat. Heute regiert dort die Ökosozialistin Hidalgo, die als „große Verkehrsbremse“ gilt. Dati ist dabei ein geschicktes und im Kulturkampf gemäßigtes Signal: Sie kann auch die Stimmen von konservativen Maghrebinern binden.

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Auch die neue Arbeits- und Gesundheitsministerin – hier hat man aus zwei Ministerien eins gemacht – Catherine Vautrin ist eine konservative Gaullistin und war einst Ministerin unter Jacques Chirac. Sie ersetzte damit auch den ex-sozialistischen (zuvor kommunistischen) Gesundheitsminister Aurélien Rousseau, der wegen des neuen Einwanderungsgesetzes zurückgetreten war. Vautrin stimmte 2013 gegen die „Ehe für alle“ und nahm an der „Manif pour tous“ (Demonstration für alle) teil, die sich für die klassische Ehe einsetzt. LGBT-Verbände kritisieren die Berufung Vautrins und wundern sich, wie Attal sie in sein Kabinett berufen konnte. Die Gewerkschaften gaben sich perplex angesichts der Benennung einer so „konservativen“ Ministerin. Doch Attal konnte, auch weil Macron es wollte und weil es dem größeren Gelingen der Regierung nützen soll. Man will erkennbar Stimmen von der Rechten abknapsen, die offenbar derzeit höher im Kurs stehen als andere.
Die neue Regierung als Sprecher der „arbeitenden Menschen“?

Auch die beiden Koalitionspartner von Macrons Renaissance – den alten Kämpen eines irgendwie mittigen Konservatismus François Bayrou (MoDem) und Ex-Premier Édouard Philippe (von der neuen Kleinpartei Horizons) – hat der vermeintliche Rechtsdrall auf dem falschen Fuß erwischt. Sie nennen die neue Regierung „sarkozystisch“, und das sei ein Skandal. Es mag ihnen aber vor allem um die Pfründe und Ministerien gehen, die nun an andere verteilt wurden.

Wie steht es aber mit Attal selbst und der Realität Frankreichs? Eindeutig rechtskonservative Medien wie Valeurs actuelles zeichnen ein ambivalentes Bild des Premiers. Zunächst sei er natürlich überaus ehrgeizig, ein echter Karrierist. Attal affektiere „die Leichtigkeit der Wohlgeborenen und die Gelassenheit jener, die ihren Erfolg zum Glaubenssatz erheben“, so heißt es in einem Porträt des Jungpolitikers (hinter der Paywall). Er wird auch mit dem Beschluss zitiert, seine „Beziehung zu den Franzosen zu vertiefen“ – was allerdings nach dem technokratischen Politikmodell seines Idols Macron klingt. Ein wirklich populärer Politiker hätte diese Verbindung von Anfang an.

Nun will sich Attal gar zum Sprecher der „arbeitenden Menschen“ machen, die „das Gefühl haben, ein Sozialmodell zu finanzieren, das es anderen Menschen ermöglicht, nicht zu arbeiten, und für öffentliche Dienstleistungen zu zahlen, die immer schlechter werden“. Ein verbreitetes Gefühl ist das, nicht nur in Frankreich. Und für das etatistische Frankreich wäre es vielleicht ein Zugewinn. Nur hatte schon Macron vor mehr als fünf Jahren mit ähnlichem für sich geworben und an der Stelle wenig geleistet. Nähme man das Programm ernst, müsste sich vieles in Frankreich ändern.

Attal und die Ohrfeige der Realität: Islamismus, Zuwanderung, innere Sicherheit

Zur Migrationspolitik sprach Attal vergleichsweise Klartext, damals im Gespräch mit den rechtskonservativen Valeurs actuelles: „Es gibt zu viel ungeordnete und ungewollte Einwanderung. Es gibt Orte in Frankreich, an denen sich die Menschen nicht mehr zu Hause fühlen.“ Allerdings glaubt auch Attal nicht an „eine Null-Einwanderung“. Das eigentliche Problem will er aber weniger in den neu ankommenden Migranten als in gewissen „Franzosen“ sehen, die „aus der zweiten oder dritten Generation stammen“. Diese Migranten(-kinder) „regen auf, belästigen, ärgern“ – „agacer“ ist das Wort, das Attal hier verwendet. Das politische Problem scheint nun zu sein, wie man diese „lästigen“ Migranten von den anderen trennt, die „ehrlich arbeiten, sich integrieren, unsere Werte respektieren und unsere Sprache sprechen“.

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Daneben gab Attal noch als Minister zu: „Es gibt Themen, bei denen ich dazugelernt habe oder eine Form von Naivität verloren habe. Das sind die Themen Islamismus, Zuwanderung und Sicherheit. Als ich Staatssekretär für Jugend war und die Regierung begann, sich des Themas Separatismus anzunehmen, wollte ich mir ein Bild davon machen, was es damit auf sich hat. Wir organisierten Reisen. Als ich in Maubeuge (unweit der belgischen Grenze, Anm.) ankam, bekam ich eine Ohrfeige. Wirklich.“

Es war die Ohrfeige der Realität – Attal, der sie bekam, ist damit ein klassischer Macronist, der aber die Realität fürs erste noch nicht ausblendet. Ähnlich wie auch sein politischer Mentor, als er dem „Separatismus“ – das heißt den Parallelgesellschaften und Ghettos in Frankreichs Vorstädten – den Kampf ansagte. In der aktuellen Zuwanderungspolitik hat diese Erkenntnis der Macron-Bewegung wenig verändert. Die Zahlen sind nach wie vor hoch, viele wandern illegal ein und bleiben illegal im Lande. Auch das neue Gesetz sieht zwar mehr Abschiebungen, dafür aber auch leichtere Legalisierungen vor. Es ist eine Wundertüte mit „rechts-konservativem“ Anstrich.

Auch Attal gibt sich als Steuerungsoptimist, wenn er feststellt, dass heute die Räume fehlten, wo sich Angehörige verschiedener Klassen vermischten, fraternisierten. Das erinnert direkt an jene staatliche Verordnung der „mixité“, der Vermischung, an der sein Vorgänger als Erziehungsminister gescheitert war. Wenn man sich an diesen Pap Ndiaye erinnert (der die „mixité“ zur Pflicht auch für Privatschulen machen wollte), dann bedeutet Attal doch einen kleinen Fortschritt. Macron hat sich nicht nur tendentiell vom Wokismus abgewandt, sondern den Gegenkandidaten Attal, der weder rechts noch links sein will, umgehend befördert.

Das Kabinett Attal gilt als „letzte Chance“ des Macronismus gegen Marine Le Pen. Der Philosoph Alain Finkielkraut hatte noch vor der Beförderung zum Premier von Attal als „letzter Hoffnung“ für das französische Schulwesen gesprochen. Das zeigt, dass mit oder ohne die neue Regierung ein wesentlicher Wandel bevorsteht. Der Premierminister hat rasche und „starke Maßnahmen“ angekündigt, die er am 30. Januar im Parlament vorstellen will.

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