Tichys Einblick
"The Lockdown Files":

Wie der Lockdown außer Kontrolle geriet

Die absurden Seiten an der britischen Lockdown-Politik reißen nicht ab. Die Regierenden berauschten sich an einer perfekten Kontrolle des britischen Sozialverhaltens. Ein zweifelhafter Affekt. Wer all das entschied, geriet darüber in Vergessenheit. Hauptsache, es sah nach außen gut aus.

IMAGO / Cover-Images

Im Februar 2021 ging es im zweiten britischen Lockdown darum, unter welchen Bedingungen Menschen aus ihrem Urlaub zurückkehren konnten. Es ist an sich schon lächerlich, dass man auf die dann gewählte Maßnahme – Zwangsquarantäne in abgedichteten Hotelanlagen – erst ein Jahr nach Beginn der Pandemie kam, während im Frühjahr 2020 die Flüge zwischen Wuhan und Europa weiterliefen, als wäre nichts passiert. Gesundheitsminister Hancock unterhielt sich über die Lage mit dem Cabinet Secretary Simon Case, zuständig für die Koordinierung der Regierungsarbeit. Am 16. Februar fragte Case den Minister: „Haben Sie eine Ahnung, wieviele Menschen wir gestern in Hotels eingesperrt haben?“ Hancock: „Nicht die geringste, aber 149 haben sich dafür entschieden einzureisen und leben nun freiwillig in Quarantäne-Hotels!“ Case’ Replik ließ keine Minute auf sich warten: „Zum Totlachen, köstlich“ („Hilarious“).

"The Lockdown Files"
Das komplette Chaos der Pandemiepolitik – erstmals in London enthüllt
Die Eingesperrten sahen es anders. Eine Frau, die zehn Tage in einem solchen Regierungshotel verbringen musste, sagte dem Telegraph: „Es fühlt sich an, als ob ich in Guantanamo Bay wäre.“ Sie glaube, dass „diese Erfahrung die seelische Gesundheit der meisten Menschen beeinträchtigen würde“. Es war ein Missbrauch der Rechte, die eine Regierung von ihren Bürgern zugestanden bekommt, so wie die 2G- und 3G-Regeln, die ebenfalls dank der Unwirksamkeit von „Impfungen“ und Tests keinen wirklichen Effekt haben konnten. Aber das wurde natürlich auch nie evaluiert.

Natürlich war nicht alles Zufall an diesen Lockdown-Maßnahmen. Man blickte einigermaßen gespannt auf die Länder Kontinentaleuropas, wo sich die Fallzahlen zu häufen schienen. Das zentralistisch regierte Frankreich ist eine alte Quelle uneingestandener Faszination für britische Politiker, die gelegentlich von der Allmacht des Präsidenten im Élysée-Palast träumen. Im August 2020 waren die offiziellen Fallzahlen im gallischen Hexagon auf 7.400 am Tag gestiegen. Simon Case erkundigte sich nach der Möglichkeit, die britischen Lockdown-Maßnahmen staatlich zu überwachen und zu kontrollieren. Hancock zögerte nicht: „Ich denke, wir müssen die Polizei einsetzen.“

Das Reisen war illegal geworden

Hancock und auch Boris Johnson gaben sich dabei nicht zufrieden mit kleinen Erfolgen. Der Gesundheitsminister forderte Haftstrafen für Menschen, die das Passagier-Lokalisierungsformular falsch ausfüllten. Johnson zeigte sich erfreut über 10.000 Pfund Strafe für einen Bruch der Quarantäne-Regeln durch ein Paar, das im März 2021 aus Dubai zurückkehrte. Der Wahnsinn hatte die britische Regierung erfasst. Die Polizei erhielt das Recht, Reisende an Flughafen anzuhalten, um die Wichtigkeit ihres Reiseanlasses zu prüfen. Reisen ins Ausland waren illegal geworden. Hancocks Kommentar dazu: „BRILLIANT“.

Die freie Debatte als Gefahr
Twitter-Files decken auf: Pfizer-Vorstand ließ Kritik an Corona-Impfung unterdrücken
Auch das Grenzmanagement für einheimische Briten wollten die Lockdowner verbessern. Hancock beklagte das Zuständigkeitswirrwarr in Sachen Grenzschutz „von innen“ (am 5. Februar 2021). Fluglinien und Flughäfen seien vollkommen abwesend in diesen Fragen: „Sie kapieren nicht, dass wir im Krieg sind. Und natürlich ist es hart für sie, weil sie bankrott gehen.“ Weitaus mehr als das Debakel der Reisewirtschaft interessierte Hancock, wie seine Politik auf andere wirkte: „… ich will, dass es gut AUSSIEHT, was aber nahezu unmöglich sein dürfte.“ Kabinettssekretär Case entgegnete: „Lass es nicht zu gut aussehen, sonst werden die Leute denken, es sei in Ordnung zu reisen!“ Worauf Hancock erwiderte: „Es soll nicht einladend aussehen – sondern kompetent!“ Hancock träumte davon, eine weiterreichende Karriere auf sein gelungenes Pandemiemanagement aufzubauen. Sein Ausscheiden aus der Politik zeigt, wie sehr dieses Vorhaben gescheitert ist.

Hancock, der zwischenzeitig das britische Dschungelcamp besucht hat, interessierte sich damals auch für vermischte Meldungen. Eine Britin beklagte sich, gerade ohne jede Kontrolle aus Südafrika eingereist zu sein: „Ich könnte das Virus tragen.“ Für den Minister kein Problem: „Es sollte einfach für Priti [Patel] sein, sie aufzuspüren.“ Innenministerin Priti Patel als Erfüllungsgehilfin des Gesundheitsministers. Die stimmte in den Jubel ein, schrieb: „Recht und Ordnung!“, als Hancock vom Arrest für eine hustende Frau berichtete (vier Monate und 75 Pfund Schmerzensgeld für das absichtliche Anhusten von Polizeibeamten). Hier kam so etwas wie ein alter Revanchismus der Regierenden gegenüber den Regierten zum Ausdruck, als der alte britische Klassenkonflikt – in neuem Gewand – erneut wirkmächtig geworden wäre.

„Sie wollen es so.“ – „Sind wir sie?“

Bei alledem konnte man natürlich keine Aussage darüber treffen, ob die Maßnahmen überhaupt wirkten. Denn „die Wirkungen einer einzelnen Intervention zu isolieren“, erwies sich als schwierig, wie das Cabinet Office unter Simon Case im vergangenen April vor dem Verkehrsausschuss im Unterhaus mitteilte. Man hatte ja alles gleichzeitig in Gang gesetzt! Ob die knapp 500 Millionen Pfund, die für Pandemie-Maßnahmen in einem bestimmten Zeitrahmen ausgegeben wurden, einen greifbaren Vorteil hatten, kann folglich niemand mehr sagen. Das gilt vor allem für die Hotelquarantäne-Regel für Einreisende.

Evaluierung ohne Effekt
Corona-Politiker wissen auch ohne Sachverständige, was sie glauben
Der Grund für viele Entscheidungen: Sie waren einfacher zu kommunizieren. Das galt etwa für die sogenannte „rule of six“, die ein Treffen von mehr als sechs Personen (in Innen- und Außenräumen) verbot. Sie sollte auch für Familien mit Kindern gelten, einfach um keine Differenzierungen zu schaffen. Die Regel bedeutete, dass viele Familien in einer effektiven Isolation zu leben hatten, während sich Singles und Paare leichter mit anderen Haushalten treffen konnten. Eine fünfköpfige Familie konnte sich mit dem Großelternpaar nur einzeln treffen. Man mag sich kaum noch darab erinnern: In Deutschland waren zeitweise sogar Treffen von drei Personen – soweit sie drei Haushalten angehörten – illegal.

Wieder trat Social-Care-Ministerin Helen Whately als Stimme der Vernunft auf und wünschte sich eine Lockerung für Kinder unter zwölf Jahren zumindest in den am wenigsten von Corona betroffenen Landesteilen (Tier 1). Kinder galten schon seit September 2020 nicht mehr als starke Virus-Überträger, einfach weil sie viel seltener erkrankten. Auf der anderen Seite hatten Lockdown und Isolation eine starke, negative Wirkung auf die mentale Gesundheit von Kindern. Hancock antwortete Whately: „Sie wollen daran nichts ändern.“ Worauf Whately verdutzt nachfragte: „Sind wir sie?!“ Hancock verneinte: Es sei Number 10, also das Büro des Premierministers, das hier nicht flexibel sei, ebensowenig bei den Ausgangsbeschränkungen. Hier wie in anderen Fällen ging es bei den Regeln um deren Kommunikation, nicht um die Wissenschaft. Ausnahmen hätten die Regierungsmaschine in den Augen der Presse lahmen lassen.

Katzen töten?

Eine vermischte Meldung, die nichts mit den eigentlichen „Lockdown Files“ rund um Matt Hancock zu tun hat, illustriert den Wahnsinn des Corona-Jahres 2020. Im Sommer 2020 erwog die britische Regierung die Tötung aller Katzen des idyllischen Königreichs. Mutmaßlich konnten auch Feliden Corona bekommen und es vielleicht sogar auf ihre menschlichen Hausgenossen rückübertragen. Zudem ist die Keulung ein bei Tierseuchen durchaus übliches Mittel. In Dänemark traf es Millionen Zucht-Nerze – aber Katzen?! Die potentielle Entscheidung zeigt, wie alle Abwägungsprozesse im Angesicht Coronas zu kollabieren drohten. Anscheinend konnte kein Gut der Welt die Gefahr durch dieses Atemwegsvirus aufwiegen. Jedes Maß hätte verloren gehen können.

Anzeige