Tichys Einblick
heimlicher "Held" Denunziant

Kanada, Paradies der Wokerati, rüstet zur neuen Offensive gegen „Hass“

Der Kampf für Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit ist anders als früher in großem Umfang konservatives Anliegen, einfach weil große Teile der Linken und vermeintlichen Liberalen den Kampf dafür aufgegeben haben - auch weil sie selbst an den Schalthebeln der medialen und politischen Macht sitzen.

IMAGO / ZUMA Press

Das kanadische Parlament berät zur Zeit ein Gesetz, das das Internet und die sozialen Medien einer stärkeren Kontrolle unterwerfen soll. Ein zentrales Anliegen ist es, Kinder und Jugendliche vor gefährlichen Inhalten, aber auch vor digitalem Mobbing zu schützen. Das ist sicherlich eine wichtige und gut begründbare politische Zielsetzung. Allerdings sollen auch „Hass“ und politischer „Radikalismus“ stärker eingedämmt werden. Auch das ist eine Politik, die auf den ersten Blick eine gewisse Plausibilität besitzt. In der Umsetzung drohen der Meinungsfreiheit aber ersichtlich Gefahren. So würde das Gesetz, wenn es ohne wesentliche Modifikationen angenommen wird, etwa die Aufforderung zum Völkermord mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe ahnden. Natürlich ist es im Prinzip richtig, eine Aufforderung zu Gewalt zu bestrafen und erst recht gilt das natürlich für eine Aufforderung zum Massenmord – bei uns würde Derartiges ja unter den Volksverhetzungsparagraphen fallen. Nur eine lebenslange Freiheitstrafe für bloße Worte, wenn auch in Kanada z. B. schwere Körperverletzung nur mit maximal 10 Jahren Haft bestraft wird, ist das tatsächlich angemessen? Hier wird eine allgemeine Tendenz unserer Zeit sichtbar.

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Man hält Worte für die gefährlichste Waffe überhaupt und glaubt, wenn man Sprache regulieren könne, dann werde auch die reale Welt besser, weil sie am Ende nicht mehr als eine sprachliche Konstruktion sei. Man muss überdies bedenken, dass mit Ausnahme des Holocaust‘ oft umstritten ist, was genau als Genozid zu klassifizieren ist und was nicht. Das gilt schon in historischer Perspektive, erst recht aber für die Gegenwart, man denke an die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten oder die Unterdrückung der Uighuren in China. Faktisch wird der Begriff Genozid in der gegenwärtigen politischen Diskussion jeden Tag vager und unbestimmter. Das muss man bedauern, es ist aber so.

Bedenklich ist auch eine Regelung, die es den Behörden in Kanada erlauben würde, gegen Personen, von denen man vermutet (!), dass sie in Zukunft ein Hass-Verbrechen begehen werden, Hausarrest zu verhängen, jedenfalls wenn die Gerichte mitspielen. Allein schon die Möglichkeit einer so drastischen Maßnahme kann genutzt werden, um politische Kritiker und oppositionelle Kräfte jeder Art dauerhaft einzuschüchtern, und darum geht es dann ja wohl auch.

Auch bei uns ist die Meinungsfreiheit massiv bedroht

Der kanadische Vorstoß zur immer strikteren Regulierung von Meinungsäußerungen im öffentlichen Raum ist ja kein Einzelfall. Ein ähnliches nicht ganz so scharfes Gesetz wird in Irland vorbereitet – das sich in diesem Fall auch implizit gegen Kritiker der Transgender-Ideologie richtet –, in Deutschland werden flächendeckende Meldestellen für „falsches Denken“ eingerichtet, und die EU hat eine Verordnung verabschiedet, die sich gegen „Desinformation“ im Netz richtet. Auf den ersten Blick ist diese EU-Maßnahme ja noch nachvollziehbar; sie wendet sich ja auch z. b. gegen russische Versuche, das westliche Bündnis durch Falschinformationen zu unterminieren. Wenn man näher hinblickt, wird es aber auch hier sehr problematisch. Wer bestimmt denn was „Desinformation“ ist?

Wenn unser Bundeskanzler verkündet, seine Politik werde ein großes Wirtschaftswunder einleiten, ist das nicht auch bewusste Desinformation? Oder wenn Herr Habeck sein Konzept der Energiewende als realistisch verteidigt? Aber dagegen wird wohl keine Behörde vorgehen. Die EU will freilich bewusst, so verkündet sie es, die „Fact-Checking-Community“ stärken. Aber die sogenannten „fact checker“, die sich als angebliche Hüter der Wahrheit betätigen, haben oft eine stark ideologisch gefärbte Agenda, das gilt für das famose Team von correctiv ebenso wie für viele andere. So einfach ist es also mit den Fakten nicht.

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Der Kampf gegen Hass, gegen Desinformation und gegen wirklichen und vermeintlichen Radikalismus im öffentlichen Raum – auch wenn all dies in Teilen zunächst nachvollziehbar sein mag – hat vor allem eine Nebenwirkung, die besonders unerfreulich ist: Er fördert einen Menschentypus, den wir sonst vor allem aus Diktaturen kennen, den Denunzianten. Denn wenn der Staat jede Meinungsäußerung im Netz oder im wirklichen Leben überwachen will, um unkorrektes Denken und Subversives zu sanktionieren, dann reichen reine Algorithmen dafür nicht, man braucht auch Zuträger, denen eine ähnliche Rolle zugedacht ist wie den sogenannten Familiaren der Inquisition im Spanien der frühen Neuzeit.

Diese Familiaren, informelle Mitarbeiter der vom König bestellten offiziellen Ketzerjäger und, wenn man so will, frühmoderne Blockwarte, beobachteten genau, ob jemand zum Beispiel vermied, Schweinefleisch zu essen, oder am Samstag nicht arbeitete. Wurde er in dieser Weise verhaltensauffällig, wurde er der „Suprema“ (der Inquisition) gemeldet. Er musst mit einem geheimen Verfahren rechnen, weil er in Verdacht geraten war, heimlich Jude zu sein, auch wenn er sich äußerlich zum Christentum bekannte. Anders als man oft annimmt, verhängte die Inquisition im Übrigen nach ihren wilden Anfangsjahren gegen erstmalige Ketzer nur selten ein Todesurteil – wurden sie, nachdem sie abgeschworen hatten, rückfällig, sah es natürlich anders aus. Aber in einem ersten Verfahren, wurden die Beschuldigten oft nur dazu verurteilt, Buße zu tun. Als Zeichen, dass sie ihre Irrtümer bereuten, müssten sie dann freilich in der Öffentlichkeit über längere Zeit, manchmal jahrelang ein gelbes Gewand tragen, auf dem ihre Vergehen vermerkt waren, den sacco benito. Damit wurde der Bestrafte zur sozialen Unperson, da alle Rechtgläubigen den Kontakt mit ihm tunlichst vermieden, um nicht selbst in die Fänge der Inquisition zu geraten. Wenn man dann eines Tages das Gewand ablegen durfte, wurde es in der Pfarrkirche aufgehängt, so dass jedes Gemeindemitglied sich überzeugen konnte, welcher Nachbar einmal wegen Häresie angeklagt worden war. Davon erholte sich die Reputation des Geächteten nie wieder.

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Gar so viel anders verhält es sich mit der heutigen woken Kultur, dem Meinungsdiktat der vermeintlich anständig Gesinnten, der Moralischen und Toleranten (tolerant natürlich nur gegenüber sorgfältig ausgesuchten diskriminierten Minderheiten, nicht gegenüber politisch Andersdenkenden), auch nicht.

Verbrannt wird natürlich niemand, aber die Strafe der sozialen Ächtung kann auch ohne solche radikalen Maßnahmen durchaus ihre Wirkung entfalten. Es reicht einen Gegner als rassistisch, transphob, islamophob, oder allgemein als rechtsradikal darzustellen. Ähnlich wie bei den Verfahren der Inquisition ist für die Einleitung eines Verfahrens ein recht geringer Anfangsverdacht ausreichend. So wie der Verzicht auf den Verzehr von Schweinefleisch in Spanien rasch gefährlich werden konnte, so heute die Mitgliedschaft in einem Verein in dem auch „kontroverse“ Personen Mitglied sind, oder auch eine Meinungsäußerung, die Beifall von der falschen Seite erhält, besonders natürlich von rechts. Es sei denn man sei ein SPD-Bundeskanzler dann kann einem natürlich auch der Beifall eines Herrn Höcke wenig anhaben, wenn man die Lieferung bestimmter Waffen an die Ukraine ablehnt. Aber das versteht man ja.

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Aber sonst reichen eben auch geringe Verdachtsmomente, um jemanden zum Häretiker zu stempeln. Das gilt leider auch für den Bereich der Wissenschaft und der Hochschulen, der in dem ganzen Kampf um Meinungsfreiheit eine zentrale Rolle spielt, zum Einen, weil die Hochschulen in den USA und in Großbritannien geradezu als Motor eines umfassenden woken Kulturkampfes wirken, zum anderen weil die Universitäten ihre Funktion als Orte rationaler Auseinandersetzung und Erkenntnis nicht mehr wahrnehmen können, wenn Andersdenkende dort bei jedem Dissens gegenüber der linken Mehrheitsmeinung mit Sanktionen rechnen müssen.

Wie weit die Dinge besonders in Großbritannien bereits fortgeschritten sind, macht ein Artikel deutlich, den der Philosophiedozent Edward Skidelsky von der Universität Exeter vor kurzem im Magazin The Critic publizierte. An englischen Universitäten kann es offenbar vorkommen, dass selbst Unterhaltungen unter vier Augen Dozenten oder Studenten zum Verhängnis werden können, wenn ein Dritter zufällig oder auch absichtlich sie mit anhört. Ein solcher „Informer“ kann sich dann an die Univerwaltung wenden, in der berechtigten Hoffnung, dass diese z. B. gegen einen persönlichen Gegner Sanktionen verhängt. So funktionieren Denunziationssysteme eben. Überdies nimmt der Druck auf Dozenten immer mehr zu, vermeintlich „eurozentrische“ Perspektiven in Lehre und Forschung aufzugeben. Der Kulturrelativismus wird zum verpflichtenden Glaubensbekenntnis.

Wir sind hier in Deutschland noch nicht ganz so weit, aber Tendenzen dieser Art sind etwa bei der Begutachtung von Drittmittelanträgen auch neuerdings sichtbar, wie man hört, auch wenn keiner das öffentlich zugeben würde. In jedem Fall hat die Kultur der Denunziation die Universitäten auch hier erreicht. Eine Professorin lädt z. B. einen Kommunalpolitiker, der gelegentlich durch provozierende Äußerungen zur Migrationspolitik und zu anderen Themen auffällt und dann auch wirklich aus der Rolle fällt, zu einer Tagung ein: Es muss sich um eine Ketzerin, eine Rassistin handeln! Nehmt ihr die Forschungsgelder weg, sorgt dafür, dass sie einen sacco benito tragen muss – so verlangten es im letzten Jahr namhafte Professoren/innen der Universität Bayreuth, als es darum ging, eine Rivalin, Frau Prof. Schröter in Frankfurt mundtot zu machen – wir erinnern uns daran.

Besonders groß wird die Wut der Gegenseite, der Meinungswarte, natürlich, wenn man wagt, sich offen gegen ihre kulturelle Hegemonie aufzulehnen. Dafür bieten die jüngsten Angriffe auf das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit ein Beispiel. Das Netzwerk hat sich zum Ziel gesetzt, für die Freiheit von Forschung und Lehre an den Universitäten zu kämpfen. In diesem Sinne hat es nach dem 7. Oktober und den Terrorakten der Hamas gewagt, die in bestimmten Disziplinen einflussreiche Richtung der postkolonialen Studien, die sich die Geschichte des Westens nur als eine Geschichte der Schuld und der Untaten vorstellen kann, zu kritisieren. Kritisch muss man solche Ansätze u. a. deshalb sehen, weil sie sich oft mit identitätspolitischen Prämissen verbinden, die implizit Weißen das Recht absprechen, zu bestimmten Themen überhaupt eine Meinung von Gewicht zu haben, wenn diese Meinung mit den Forderungen von selbst ernannten Vertretern des globalen Südens in Konflikt gerät. Hinzu kommt, und das war nach dem 7. Oktober zentral, die tatsächlich zu beobachtende Tendenz, dass im Namen der Forderung nach umfassender „Dekolonisierung“ von Politik, Kultur und Wissenschaft, die Existenz des Staates Israel als vermeintlich letzter westlicher Kolonie in Frage gestellt wird. In konfliktreichen Zeiten ist dann der Schritt vom Antizionismus zum Antisemitismus nicht immer groß, das können wir ja gerade an den US-Universitäten sehen.

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Diese Kritik am Postkolonialismus von Seiten des Netzwerkes, ja schon dessen bloße Existenz empfinden alldiejenigen als schlimmste Häresie, deren ganzes wissenschaftliches Geschäftsmodell ein identitätspolitisches ist und die auf politischen Aktivismus und die permanente anklägerische Kritik an der eigenen Nation, aber auch am ganzen „Westen“ als Grundlage ihrer wissenschaftlichen Arbeit setzen. Dass solche Kollegen wie etwa der Kolonialhistoriker Zimmerer in Hamburg sich lautstark wehren, ist durchaus ihr gutes Recht. Wer würde das nicht tun? Es geht ja um ihre Interessen. Dass aber diese Gegenoffensive als ein Kampf für die Demokratie gegen deren Feinde dargestellt wird, illustriert sehr gut, wie ein System, das Denunziationen belohnt, zum Verfall der Sitten und des Anstands führt.

Für manche ist die Versuchung, Konkurrenten und Andersdenkende sozial ächten zu lassen, indem man sie in die Nähe des Rechtsradikalismus rückt, einfach zu groß. Sie können ihr einfach nicht widerstehen. Dass sich dort dann auch eine veritable Universitätspräsidentin, Frau Rauch (nein, man muss sie eigentlich nicht kennen) von der TU Berlin durch einen diffamierenden Artikel im sog. Wiarda-Blog mit einreiht, ist freilich besonders bedenklich und wirft auch juristische Fragen auf.
Nun mögen Zimmerer und Rauch ideologisch sehr stark motiviert sein. Solche Leute hat es immer gegeben, auch und gerade an den Universitäten, sowohl links wie rechts. Bedenklicher, und das stellt eine Parallele zu den Entwicklungen in den USA und in Großbritannien dar, ist der Umstand, dass auch Personen, die man eher als bürgerliche Liberale einschätzen würde, lieber leugnen, dass es so etwas wie cancel culture überhaupt gibt, und dass es Zeit sei, etwas dagegen zu tun, als sich mit dem hegemonialen politischen Mainstream anzulegen. Sie schauen bewusst weg und schließen die Augen, weil sie eine panische Angst davor haben, irgendwie als konservativ oder gar als „rechts“ zu gelten, was sie dann ja selbst zur Zielscheibe werden lassen könnte. Das wollen sie natürlich nicht. Eine solche Indifferenz konstatiert Skidelsky auch in dem zitierten Artikel über die Einschränkung der Meinungsfreiheit an englischen Universitäten.

Das Problem liegt hier darin, dass der Kampf für Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit heute, ganz anders als früher, wirklich in großem Umfang zu einem konservativen Anliegen geworden ist, einfach deshalb, weil große Teile der Linken und auch der vermeintlichen Liberalen den Kampf für dieses Grundrecht aufgegeben haben. Sie tun das z. T., weil sie jetzt selbst an den Schalthebeln der medialen und politischen Macht sitzen, und diese nicht mehr abgeben möchten, teils aber auch, weil sie wirklich davor Angst haben, dass diese Freiheit von den falschen Leuten, z. B. echten Extremisten, genutzt werden könnte. Sie riskieren damit freilich, eine politische Kultur zu schaffen, deren heimlicher Held und dominierende Figur der Denunziant ist. Das ist eine hochgefährliche Entwicklung, die das gesamte gesellschaftliche Klima zu vergiften droht, und zum Teil schon vergiftet hat.

Es besteht allerdings noch eine residuale Hoffnung, dass sich dieser Gefahr eben nicht nur Konservative als die Hauptleidtragenden entgegenstellen werden, sondern auch klassische Liberale und jene moderaten Linken – ja es gibt sie – die sich nicht dem Streben nach einer umfassenden Sprach- und Gedankenpolizei verschrieben haben. Schon auch aus Eigeninteresse, denn wie jede Revolution wird auch diese ihre Kinder fressen. Heute mag es Personen treffen, die für Kontrolle von Migration eintreten oder die Transgender-Ideologie kritisieren, morgen trifft es dann die, die die Vernichtung des Staates Israel ablehnen und sich im Kontext des Nahost-Konfliktes gegen eine wachsende Judenfeindschaft in Europa wehren, oder jene, die Individualrechte vor einer übergriffigen Klimapolitik versuchen zu schützen. Die Beispiele dafür haben wir ja schon zur Genüge vor Augen.

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