Tichys Einblick
Eiskalter Krieg um die "polare Seidenstraße"

Im Kampf um die Arktis rüsten Nato und Russland auf

Nato und Russland rüsten in der Arktis auf. Militärisch, wirtschaftlich, infrastrukturell. Der Grund: Das Eis schmilzt und offenbart neue Schiffswege und Rohstoffquellen. Ein Fotograf hat die Aktivität am Nordpol beobachtet.

North Warning System, Tuktoyaktuk, Northwest Territories, Canada, 2020 © Gregor Sailer

Ein dimensionsloser Raum aus unendlichem Weiß. Kilometerweit, meterdick: Eis und Schnee. Dazu bittere Kälte. Die Arktis besteht aus einem ewigen, ruhigen Nichts. Und dann doch: Mitten im endlosen Weiß der Arktis ragen kleine zivilisierte Orte empor. Zivilisiert durch Soldaten und Wissenschaftler.

Gregor Sailer, ein österreichischer Investigativ-Fotograf, hat sich auf eine Reise durch einige Arktisländer begeben. Bei Temperaturen von bis zu minus 55 Grad Celsius stapfte er mit seiner 30 Kilogramm schweren Analog-Kamera durch den Schnee, um den Mythos der „polaren Seidenstraße“ abzulichten.

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2018 veröffentlichte China das „Arctic White Paper“, in dem es den Begriff „polare Seidenstraße“ erstmalig verwendete. Die Chinesen bezeichneten damit die Nordostpassage durch das nördliche Polarmeer, die ein Teil der „neuen Seidenstraße“ werden solle. Diese Veröffentlichung veranlasste Sailer, sich auf seine Projektreise in die Arktis zu begeben.

Die Planung und Durchführung habe insgesamt fünf Jahre gedauert, sagt er im Gespräch mit TE. Der Grund sei, dass dieses Projekt „finanziell und logistisch aufwendig“ war: Die meisten der Gebiete, die er fotografiert hat, seien komplett abgesperrt. Besucher bräuchten eine spezielle Zugangsgenehmigung. Die klimatischen Bedingungen und die fehlende Infrastruktur kommen erschwerend hinzu. Teilweise sei Sailer gezwungen gewesen, mit Flugzeugen der United States Air Force zu den geheimnisvollen Standorten zu fliegen, um auch nur irgendwie Zugang zu bekommen. Dabei seien aber alle Gebäude, die er fotografierte, aktiv und bewohnt gewesen.

Sailer nennt diese Gebiete „hochsensibel“: Das Eis am Nordpol schmilzt. Schnell. Dadurch ergeben sich neue Handelsrouten – vor allem die polare Seidenstraße. Wissenschaftler prognostizieren, dass sie eine Abkürzung zwischen Pazifik und Atlantik entlang Sibiriens darstellen könnte. Laut Bundeszentrale für Politische Bildung sei die polare Seidenstraße ein Fünftel kürzer als die Standardroute über den Suezkanal. Dadurch sparen die Containerschiffe Geld, Zeit, Treibstoff und verursachen obendrein weniger Emissionen. Ab 2050 werde die polare Seidenstraße ganzjährig ohne Eisbrecher befahrbar sein und könne spätestens dann eine Alternative zum Suezkanal darstellen, schätzen Wissenschaftler.

Unter den dicken Eisschichten liegen auch viele Rohstoffe verborgen, die erschließbar werden, wenn das Eis weiter zurückgeht: Dazu zählen hauptsächlich Öl und Gas. Laut Schätzungen des United States Geological Survey liegen etwa 16 Prozent der weltweiten Erdöl- und knapp 30 Prozent der weltweiten Erdgasreserven in arktischen Gebieten. Doch nicht nur fossile Rohstoffe, auch seltene Erden sollen laut Umweltbundesamt erschließbar werden: „Die Palette reicht von Metallen jeglicher Art über Edelsteine bis hin zu Industriemineralen und Naturwerksteinen.“

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Sailer hat außerdem dokumentiert, aus Geheimdienstquellen wie er sagt, dass es in der Arktis ein großes Gebiet gebe, in dem die Grenzen nicht klar sind, aber mehrere – wenn nicht alle – Anrainerstaaten Anspruch auf diese Gebiete erheben.

Das alles führe zu geopolitischen Spannungen, sagt Universitätsprofessor Peter Schweitzer. Spannungen, die sich durch den Krieg in der Ukraine zusätzlich verstärken würden. Die Folge: Aufrüstungen, Investitionen sowie Reaktivierung stillgelegter Werke – aus Zeiten des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges. Aufgerüstet wird vor allem militärisch.

Sailer teilt im Gespräch mit TE seine Wahrnehmungen: „Bis vor kurzem waren es die Russen, die am meisten aufgerüstet haben. Nun hat die Nato aber stark aufgeholt, besonders an den Außengrenzen.“

Schweitzer sagt, dass Russland spätestens mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 die Aufrüstung gestartet habe. „Relativ neu“ sei, dass der Westen sich im Eis remilitarisiert. Dieser habe nach dem Kalten Krieg eigentlich die meisten Stützpunkte stillgelegt. So gab die amerikanische Armee 1992 zum Beispiel den Luftwaffenstützpunkt „Bluie West-Eight“ in Grönland auf, auf dem sie während des Zweiten Weltkrieges ihre Flugzeuge tankte. Obwohl er also offiziell stillgelegt ist, stellt Sailer auf seiner Projektreise fest, dass das „Blödsinn“ sei: „Dort gibt es definitiv Militärpräsenz.“ Auch werde der Flughafen noch immer angeflogen.

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Zum anderen werde die Arktis mit dem Krieg in der Ukraine auch hinsichtlich der Rohstoffe bedeutsamer, so Schweitzer: Die Europäische Union (EU) möchte unabhängig werden von russischem Öl und Gas. Also rüstet die Nato auch die Forschung und Wirtschaft in der Arktis auf. Russland sowieso. Damit einhergehend investieren Nato und Russland zunehmend in die Infrastruktur der Arktisregion. Und auch China. China „will etwas vom Kuchen abhaben“, sagt Schweitzer. So kaufe sich China Förderlizenzen für zukünftige Rohstoffzugänge und starte Infrastrukturprojekte in der Arktis, in der EU und in Russland.

Sailer kritisiert all diese Investitionen: Stets sei die Rede vom Klimawandel und, dass sich die Welt von fossilen Rohstoffen abwenden solle, und dann investieren die Länder genau dort in fossile Rohstoffe, wo die Folgen der ökologischen Ausnutzung am sichtbarsten seien – dem Nordpol.

Universitätsprofessor Schweitzer stellt noch etwas fest: Eine „mentale Aufrüstung“, einen „Schulterschluss gegen Russland“. Wenn nach Finnland nun auch noch Schweden der Nato beitritt, dann gehören sieben von acht Arktisländern der Nato an. Die Spannungen zwischen Ost und West hat Sailer bereits während seines Projekts gespürt: Es gebe immer mehr gegenseitige Provokationen. Beispielsweise würden beide Seiten die Wasserhoheit oder die Luftrechte durch vermehrte Militärmanöver verletzen. „In Zukunft werden diese Spannungen durch das Schmelzen und die stärkere Frequentierung der Routen zunehmen“, da sind sich Sailer und Schweitzer einig. Sie gehen außerdem davon aus, dass Projekte wie das von Sailer schon heute nicht mehr möglich wären: Die Militärpräsenz sei einfach zu stark und die jeweiligen Staaten würden direkte Spionage befürchten, schätzen sie.

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