Tichys Einblick
Teil 2: Global und Local Player

Grenzen der EU und der Nato: Zurück zum Westen

Nach seiner Überdehnung droht dem Westen die Selbstauflösung. Unsere Selbstbehauptung erfordert vor allem Selbstbegrenzung. Ein Beitrag von Heinz Theisen in drei Teilen. In Teil 2: Der Kulturkampf zwischen Global und Local Playern hat den alten Klassenkampf abgelöst.

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Die prekäre physische Lage der Europäischen Union resultiert auch aus der Ungeklärtheit ihrer Grenzen nach Osten, Westen und Süden. Nach Osten sind sie bis in die Ukraine und den Kaukasus hinein überdehnt, nach Westen sind sie aufgrund der einseitigen Abhängigkeit von den USA nahezu aufgelöst, nach Süden schützen sie uns nicht vor Islamismus und Völkerwanderung.

Indem die EU den Herrschaftsansprüchen der USA bis in die Ukraine hinein gefolgt ist, hat sie den Energie- und Wirtschaftspartner Russland verloren. Die Sprengung der North-Stream-Pipeline besiegelt ihre Beförderung vom Partner zum Vasallen der USA, die ihre Interessen auch gegenüber Verbündeten robust durchzusetzen pflegen. Die EU ist gegenüber den USA nicht mehr in der Lage, ihre spezifischen eigenen Interessen zur Geltung zu bringen. Dies ist in hohem Maße selbstverschuldet, denn durch ihre – kosmopolitisch konsequente – Abrüstungspolitik ist sie ohne die USA wehruntauglich und durch jede Atommacht erpressbar. Die von der EU – nach den schon lange geplanten sechs Balkan-Kleinstaaten – angedachte Erweiterung in den russischen Kulturraum Ukraine, Moldawien und Georgien wird sie bis zur Zahlungs- und Handlungsfähigkeit überdehnen.

Indem sich die EU unter Missachtung aller kulturellen Grenzen mit Europa gleichsetzte, bereitete sie ihre eigene Überdehnung vor. Europas politische Eliten verfügen über keine historisch vertiefte Idee von ihrem besonderen Raum. Die Erweiterung auf die orthodoxen Balkanländer mag noch verkraftbar sein. Mit dem Ausgreifen in den russisch-orthodoxen Kulturraum und damit auf die Vorfeldansprüche Russlands hat sie eine rote Linie überschritten.

Grenzen der EU und der Nato

Das Denken in Kulturkreisen unterscheidet zwischen dem westlich-okzidentalen, lateinischen und dem orthodoxen Kulturkreis. Die osteuropäische Orthodoxie verdankt schon ihre Gründung ihrer Abwehrhaltung gegenüber den westlich-globalen Machtansprüchen des Papsttums. Das West-Christentum birgt in sich Grundvoraussetzungen der Gewaltenteilung von Religion und Politik.

Aus dieser Ur-Ausdifferenzierung gingen in der Neuzeit weitere Ausdifferenzierungen von Funktionssystemen hervor, vor allem von Wissenschaft und Wirtschaft, die mit ihrer Eigenlogik auch ihre Eigendynamik entfalten konnten. Der Mangel an Ausdifferenzierung macht zumal islamische Staaten für unsere Bündnissysteme inkompatibel. Aber auch die notorische Nähe der Kirchen zum jeweiligen Nationalstaat in der Orthodoxie ist ein Hindernis für gesellschaftliche Entwicklungen.
Die mangelnde Grenzziehung erweist sich auch als das große Problem der Nato, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von einem Defensivbündnis des Westens zu einem Instrument des Werte-Universalismus und des liberalen Imperialismus entwickelt hat. Über den drohenden Bedeutungsverlust verwandelte sie ihren ausschließlich defensiven Auftrag einer Verteidigung der westlichen Hemisphäre und mutierte zum globalen Player.

Über die Volte vorwärts von der Abwehr des Übels in die Gestaltung einer neuen, „regelgebunden Weltordnung” vergrößerte sich die Nato auf nunmehr 31 Mitgliedsländer. Hinzu kommen heute 41 „Nato-Partnerländer“ und „Dialogpartner“. Durch die Ausweitung der Nato-Aktivitäten in den Mittelmeerraum, den Mittleren Osten und nach Asien ist eine Partnerschaftsindustrie entstanden, die eine fast unüberschaubare Zahl an Foren, Räten und Gruppen nach sich gezogen hat.

Zu den wichtigsten zählen der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat, der Mittelmeerdialog, die Istanbuler Kooperationsinitiative und die „Partners Across the Globe Initiative“. Nato-Partnerstaaten wie Pakistan oder Kolumbien, „Mittelmeerdialogpartner“ wie Algerien und Ägypten bereichern ihren globalen Regenbogen. Die Ukraine ist seit 2020 eine der sechs Partnerstaaten, die zwar keine Mitglieder sind, aber Mitwirkungsmöglichkeiten haben. Rechnet man zu den Militärausgaben der Nato die wichtigen Verbündeten wie Australien, Japan und Südkorea hinzu, entfallen zwei Drittel der globalen Militärausgaben auf „den Westen“.

Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern und ihren Partnerstaaten werden – so Johannes Varwick – immer größer, die Agenda immer heterogener und die von der Allianz verfolgte Zielsetzung immer diffuser.

Zur „Nato-Partnerschaft für den Frieden“ gehören auch Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan. Russland fühlt sich dementsprechend von Nato-Mitgliedern im Westen und von Nato-Partnerländern im Süden umringt. Aus russischer Perspektive handelt es sich bei ihren Aggressionen im Kaukasus und dem Angriffskrieg auf die Ukraine um einen Kampf gegen die westliche Umklammerung. Auch Chinas Dominanzgebaren im Südchinesischen Meer versucht sich aus der von ihr empfundenen Einkreisung durch die USA und ihren Verbündeten Süd-Korea, Japan, Taiwan und die Philippinen zu befreien.

Die Kosten des Weltpolizisten waren in den USA von jeher umstritten. Heute wachsen dort im Zuge eines neuen Isolationismus Ausstiegsmotive selbst aus der Nato, womit der Globalismus in Nationalismus umschlagen würde. Schon der Begriff des „Westens“ wäre dahin, die Europäische Union stünde allein zu Hause.

Sofern sich diese nicht zu einem Schutzbündnis entwickelt, droht eine Renationalisierung der Verteidigungspolitik. Die meist kleinen europäischen Nationalstaaten müssten dann unter den Schirmen der Nationalimperien USA, Russland und China ihren Platz suchen. Um eine politische Gemeinschaft der EU wäre es geschehen.

Eine oft diskutierte Alternative dazu läge in einer „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ mit eigener strategischen Autonomie in oder auch neben der Nato. Bis dahin ist der Weg weit und so sollte an einer gemeinsamen strategischen Neuausrichtung der Nato mit den USA gearbeitet werden. Diese Strategie müsste den Weg vom globalisierten Bündnis zurück zu einem defensiven Verteidigungsbündnis weisen. Auf den Schutz der USA können die Europäer nur in dem Maße verzichten, wie sie über eine eigene Grenz- und Sicherheitspolitik verfügen.

Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung als Strategie für den Westen

Im Lichte dieser Fragen braucht der Westen nicht weniger als eine neue Strategie der Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung. Mit ihr könnten Überdehnungen nach außen und Auflösungserscheinungen nach innen zugleich aufgehoben werden. Der Rückzug aus kulturfremden Regionen, zuletzt der kläglichen EU-Militärmissionen in der Sahelzone, setzt Kapazitäten frei für den Ausbau des Grenzschutzes. Dieser bedarf längst auch militärischer Unterstützung. Wie in Australien wird die Marine eine Rolle bei der Rückführung von Migrantenbooten zu spielen haben.

Definieren heißt bekanntlich begrenzen. Die äußere Begrenzung muss mit einer Selbstverständigung über die zu schützende Leitkultur einhergehen. Aus der doppelten physischen und geistigen Selbstbegrenzung könnten erst dritte Wege zwischen den Möglichkeiten von Offenheit und den Notwendigkeiten der Abgrenzung erwachsen.

Um die innergesellschaftlichen Spaltungen zwischen Globalisten und Protektionisten aufzuheben, bedarf es nicht sodann weniger als eines sozialen Modells, in dem globale, internationale und nationale Interessen nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in eine Beziehung gesetzt werden.

Aufstand der Local Player

Das „Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ versteht sich als „Transformationsministerium“, das weltweit den Umbau hin zu einer nachhaltigen, klima- und naturverträglichen Wirtschaftsweise voranbringen und zugleich Frieden, Freiheit und Menschenrechte stärken will.

Diese globale und denkbar unbescheidene Zielsetzung erfordert Unsummen der Steuerzahler im Rahmen der zur „wirtschaftlichen Zusammenarbeit“ erhobenen Entwicklungshilfe. Die Vorhaben werden in alle Himmelsrichtungen (109 Länder) verstreut. Sie folgen einer in der Praxis längst widerlegten Theorie, wonach es ärmeren Ländern vor allem an Kapital und Fertigkeiten fehlt.

Doch ohne die entsprechenden kulturelle Voraussetzungen werden weder Werte für ein Nation-Building und das Gemeinwohl noch die Strukturen des Rechtsstaates und ein soziales Eigentumsverständnis aufgebaut. Mit dem Desaster des Westens in Afghanistan nach 20 Jahren Hilfe sollte klar geworden sein, dass eine rechtsstaatliche Demokratie dauerhaft auf jene Regionen beschränkt bleibt, welche die kulturellen Voraussetzungen dafür mitbringen.

Solange die universalistisch motivierte Hilfe durch partikularistische Stammes- und Clankulturen unterlaufen wird, ist die viel beklagte Korruption systemisch. Auch der islamistische Totalitarismus steht den Eigenlogiken von Wissenschaft und Wirtschaft soweit entgegen, dass er ausdifferenzierten Entwicklungen entgegensteht. Ein erheblicher Teil der Hilfsgelder sollte besser zum Ausbau der EU-Staaten oder für Schutzfunktionen in ihre Nachbarstaaten vergeben werden.

Auf der weltpolitischen Bühne sind die USA längst an die Grenzen ihrer Macht gestoßen. Ihre tiefe innere Zerstrittenheit rankt sich – wie auch der Kampf zwischen Globalisten und Protektionisten in europäischen Gesellschaften – meist um die eigene Rolle in der Globalisierung. Der Globalsozialismus erzeugt mehr Ungleichheit in der eigenen Gesellschaft, sodass die Local Player nach „rechts“ überlaufen, also zu denjenigen, die das Eigeninteresse behaupten und beschützen wollen.

Mittels der Halbwahrheiten „postkolonialer Theorien“, die den Kolonialismus der anderen wie etwa der Osmanen ausblenden, wird die Macht des Westens auch noch moralisch unterminiert. In einem umgekehrten Universalismus wird nun alle Schuld auf Erden dem Westen zugewiesen.

Der Kulturkampf zwischen Global und Local Playern, zwischen denjenigen, die entgrenzen und denjenigen, die begrenzen wollen, hat längst den alten Klassenkampf abgelöst. Das Aufbegehren zunächst der Bauern, Inbegriffe von Local Player, ist kein Zufall. Anders als andere Mittelständler können sie ihre Gegenwehr zu Kürzungen oder globalen Reinheitsgeboten in Szene setzen.

Ihr Kampf für eigene Interessen lässt sich aufgrund des lokal gebundenen Charakters nicht in gleicher Weise als rassistisch oder nationalistisch diffamieren, wie dies im Streit der Begriffe zu geschehen pflegt. Darin wird vielmehr der defensive Charakter einer bloßen Selbstbehauptung des Eigenen, ob des eigenen Hofes, aber auch der eigenen Nation und Kultur deutlich. Er hat mit jenem, andere Nationen überfallenden Nationalsozialismus und Rassismus von einst nichts zu tun.

Auch in den USA fragen sich immer weitere Kreise: „Wie kann es sein, dass wir die Grenzsicherung anderer Länder mit Milliarden finanzieren, aber unsere eigene Grenze völlig ungesichert lassen?“ Die neuen Rechten sind insoweit auch links, wie sie sich an den schwachen Teilen der Gesellschaft orientieren, die weder einem weltweiten Wettbewerb noch den Kosten eines globalen Moralismus gewachsen sind. Sie sind europaweit und auch atlantisch vernetzt, weil seit langem deutlich ist, dass sich hinter „America First“ oder „Ungarn First“ ein neues Paradigma der Selbstbehauptung des Eigenen steckt, welches mutmaßlich das globalistische und kosmopolitische Paradigma ablösen wird.

Im Gegensatz zur abgewählten polnischen Regierung geht es Viktor Orbán immer auch darum, seine Botschaft von einem „Ungarn First“ in engem Kontakt mit befreundeten Geistern und mit Hilfe einer philosophischen Fundierung zu setzen. Dieser aufgeklärte Nationalismus vernetzt sich international. Er verbindet den „Sozialen Patriotismus“ mit einer konnektiven Handelspolitik. Ungarn hatte 2015 die Weichen in den Grenz- und Migrationspolitik richtig gestellt, und mit der Sicherung seiner Landesgrenzen der Europäischen Union einen wenig gewürdigten Dienst erwiesen.

Erst über kontrollfähige Grenzen kann der innere Verfall in den europäischen Ländern – bis in Bildung, Infrastruktur und innere Sicherheit – gebremst werden. Ungarn lehrt auch, dass es ohne die Leitplanken einer christlichen Leitkultur keine nachhaltige Sozial- und Familienpolitik gibt. Dritte lokale Wege jenseits einer zentralistischen oder nationalistischen Europapolitik fänden sich im Subsidiaritätsprinzip der christlichen Soziallehre.

Es ist möglich, die Grenzen zu sichern, wie Australien, Kanada oder Ungarn beweisen. Die bevorstehenden Wahlen zum EU-Parlament könnten ein dezentraleres Europa der Vielfalt nach innen und der Stärke gegenüber außen hervorbringen. Die bloße Polarisierung zwischen Weltoffenheit und Nationalismus führt in geistige Sackgassen. Die Nationalstaaten der EU sind alleine weder dem globalen Wettbewerb noch Konflikten mit den drei Weltmächten und der islamischen Welt gewachsen. Die EU braucht starke Nationalstaaten und die Nationalstaaten brauchen eine starke Europäische Union, um sich gegenseitig behaupten zu können.

Teil 3 handelt vom Kampf der Kulturen zum Kampf um Zivilisation und die gemeinsame Sicherheit von Israel, Europa und moderatem Islam. Teil 1 begann mit Überdehnung nach außen und Polarisierung nach innen.


Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft. Zuletzt erschien von ihm: