Tichys Einblick
Nach Annecy ist vor der schmutzigen Bombe

Französische Experten: Offene Grenzen führen Terroristen nach Europa

Der IS ist nicht tot, weder im Nahen Osten und Afghanistan noch in Afrika und Europa, das berichten französische Sicherheitsexperten. Laufend sickern demnach Terroristen in die EU ein. Ihr hauptsächliches Zielland dürfte heute Deutschland sein.

IMAGO/PanoramiC
Nach dem Messerangriff von Annecy stellt man in Frankreich auch neue Fragen nach der Gefahr des dschihadistischen Terrorismus. Das wirkt zunächst paradox. Denn der Messertäter soll ja eben kein Muslim, sondern syrischer Christ gewesen sein. Aber daran gab es sofort einige Zweifel, auch aus Schweden, wo er einige Jahre gelebt hat. Prominente Kommentatoren wie der Parteiführer Éric Zemmour äußerten ihre Zweifel, denn wo es um Asylbewerber geht, „da sagen die einen, sie seien homosexuell, die anderen, sie seien als Frauen geschlagen worden, die dritten, sie seien orientalische Christen. So wird es im Fragebogen angekreuzt, und man nimmt sie mit offenen Armen auf.“

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Offenbar hat der Angriff von Annecy viele Beobachter an die islamistischen Attentate erinnert, von denen Frankreich seit 2012 eine Vielzahl erlitt. Im Vorfeld der Olympischen Spiele 2024 macht man sich in dieser Hinsicht erneut große Sorgen. Der Anwalt und Terror-Experte Thibault de Montbrial gründete 2015 ein Nachdenkzentrum zur inneren Sicherheit (Centre de réflexion sur la sécurité intérieure). Im Sender Sud Radio sagte er nun, dass die terroristische Gefahr durch Islamisten und Dschihadisten für Frankreich keineswegs vorüber sei. Zwar sei der Islamische Staat (IS) besiegt und dessen Anführer im Jahr 2019 liquidiert worden, aber nun bedrohten erneut Terror-Metastasen den freien Westen. Die Sicherheitsbehörden leisten demnach eine herausragende Arbeit. Die Gefahr sei immer da, so Montbrial, auch Anwalt der Polizisten, „avocat des flics“, genannt.

Was die Olympischen Spiele angeht, proben die Sicherheitsdienste bereits den Ernstfall, darunter Maßnahmen gegen eine „schmutzige Bombe“, die es in verschiedenen Varianten (radiologisch, biologisch, chemisch) gibt. Bis zu 45.000 Polizisten und Gendarmen sollen laut Plänen des Innenministeriums eingesetzt werden. Für die Eröffnungsfeier allein sind 35.000 Beamte eingeplant. Auch 15.000 Reservisten sollen mobilisiert werden. Sicherheitsmaßnahmen „nie gesehenen Ausmaßes“ seien geplant, so der Figaro. Das weckt Fragen, wie lange man sich solche Veranstaltungen noch leisten wird.

Die Terrorroute führt über Deutschland

Auch im Nahen Osten ist der IS laut dem franko-irakischen Soziologen Adel Bakawan wieder auf dem Vormarsch. Die Anhänger des IS verteilen sich hauptsächlich auf den Irak und Syrien. Auch in Afghanistan sind sie die größte und mächtigste Oppositionsgruppe gegen die Herrschaft der Taliban.

Laut Montbrial werden gleichzeitig „Kommandotrupps“ in europäische Staaten ausgesandt. Die genommene Route führe von Syrien und Afghanistan über die Türkei nach Deutschland und Schweden, weil diese beiden Länder noch immer am ehesten aufnahmebereit seien. Ob das für Schweden unter seiner neuen Regierung noch gilt, muss sich erst noch erweisen. Doch in beiden Ländern finden Neuankömmlinge aus den genannten Ländern am ehesten Rückhalt und Anhaltspunkte bei Landsleuten und Kampfgenossen. Für Montbrial sind sie „die zahlenmäßig am stärksten islamisierten“ in Europa.

Nun, zumindest wuchs der Islam in beiden Ländern zuletzt dynamisch – auf jeweils etwa fünf Prozent der Bevölkerung. Seit 2015 habe Angela Merkel es dem IS erlaubt, Europa zu infiltrieren, und das sei „absolut tragisch“, so Montbrial. Frankreich hat mit acht Prozent einen höheren Anteil an Muslimen, die meist schon länger dort leben. Auch in Frankreich erwartet Montbrial verstärkte Zusammenstöße zwischen verschiedenen „Gemeinschaften“, wie erst im Dezember zwischen Marokkanern und Roma in Montpellier.

Mehrere Festnahmen haben auch in Deutschland das Licht zuletzt wieder auf den islamistischen Terrorismus gelenkt, etwa die Festnahme zweier syrischer Brüder (28 und 24) in Hamburg und Kempten oder der Fall des Duisburger Messerstechers aus dem Fitnessstudio (und nicht nur), der derzeit vom Generalbundesanwalt untersucht wird. In beiden Fällen besteht Terrorverdacht. Der Duisburger Täter soll demnach versucht haben, sein Opfer zu enthaupten. Ermittelt wird wegen versuchtem Mord und Mord: In einer weiteren Tat erstach der Syrer einen 35-jährigen Partygast in Duisburg.

Ukraine-Krieg: Schwarzmarkt füllt sich mit Waffen und Raketen

Auch laut Adel Bakawan sind Attentate in Berlin, London und Paris durchaus zu befürchten. Im Interview mit Sud Radio sagte Bakawan, man lebe keineswegs in einer post-terroristischen Welt. Seit der Auflösung des Islamischen Staats sei die terroristische Gefahr durch dessen Anhänger im Grunde sogar gestiegen. Parallel beobachtet Bakawan, dass die französischen Links- und Rechtsextremisten den bewaffneten Kampf praktisch eingestellt haben. Der IS gehe auch in diese Lücke und rekrutiere gewaltbereite Täter, und das könne auch durch öffentlichkeitswirksame Attentate geschehen.

Thierry de Montbrial warb jahrelang für das Recht der Polizisten und Gendarmen Frankreichs, ihre Waffen auch außerhalb des Dienstes zu tragen. Diese Maßnahme wurde inzwischen getroffen. Einer seiner Klienten war unter den Opfern des Bataclan-Attentats und hätte sich gewünscht, damals seine Waffe griffbereit gehabt zu haben – dann wäre das Massaker wohl schneller zu Ende gegangen. 2018 vertrat Montbrial die Familie des bei einer Geiselnahme durch einen IS-Terroristen getöteten Gendarmen Arnaud Beltrame.

Auch durch den Krieg in der Ukraine sieht Montbrial ein wachsendes Risiko für die innere Sicherheit und beruft sich dabei auf Einsichten der Sicherheitsbehörden. Aus der Ukraine werden massenhaft Feuerwaffen geschmuggelt. Der Schwarzmarkt wird mit Kalaschnikows, Boden-Boden- und Boden-Luft-Raketen überflutet.

Frankreich seit 2012: Leben mit dem Terror

Seit der Gründung des Islamischen Staates 2014 – eigentlich schon seit dem sogenannten „Arabischen Frühling“ 2011 – war in der westlichen Welt vor allem Frankreich von terroristischen Anschlägen mit dschihadistischem Motiv betroffen. Im März 2012 wurden sieben Personen in Toulouse und Montauban getötet, darunter drei jüdische Schulkinder und drei Soldaten. Es handelte sich um eine Serie von Mordanschlägen des Franko-Algeriers Mohammed Merah, der sich laut eigenem Bekunden Al-Qaida angeschlossen hatte. Er hatte Komplizen und wurde erst 2017 und 2019 endgültig zu 30 Jahren Haft verurteilt. 2013 griff ein Islamist einen französischen Soldaten im Pariser Vorort La Défense mit dem Messer an. 2014 gab es drei islamistische Attentate mit einem Messer und zwei Autos im Département Indre-Loire, Dijon und Nantes.

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Länderzahlen zeigen: Es gab mehr als 21.000 Messerstraftaten im vergangenen Jahr
2015 folgten die Attentate gegen die Satirezeitung Charlie Hebdo und Kunden in einem koscheren Minimarkt in Paris. Später wurden drei Soldaten vor einem jüdischen Gemeinschaftszentrum in Nizza angegriffen. In einer Kirche in Villejuif wurde eine 32-Jährige von einem Algerier ermordet, im Département Isère, in der Nähe von Lyon, ein 55-jähriger Mann enthauptet und ein Fahrzeug in eine Industriegasfabrik gesteuert. Im Thalys-Zug zwischen Brüssel und Paris verletzte ein Islamist drei Passagiere. Doch derart glimpflich endete das Attentat nur, weil seine Kalaschnikow eine Ladehemmung hatte und mehrere Touristen, darunter ein US-Nationalgardist, den Täter entwaffnen konnten. Am 13. November 2015 kommt es zur Attentatsserie im Theater Bataclan und an anderen Orten, mit 131 Toten und mehr als 400 Verletzten.

Im Januar 2016 attackierte ein 15-jähriger Türke mit einer Machete einen kippatragenden Juden, der sich mithilfe einer Torah verteidigen konnte. Der Türke berief sich auf den IS. In der Folge fand der erste Terrorprozess vor einem Jugendgericht statt, der mit sieben Jahren Haft und einer anschließenden Resozialisierungsphase von fünf Jahren für den Angeklagten ausging. Im Juni 2016 wurden ein leitender Polizist und seine Frau, die beim Innenministerium arbeitete, vor ihrem Haus ermordet. Der IS bekannte sich zu der Tat. Am 14. Juli 2016 tötete ein Tunesier 86 Menschen in Nizza und verletzte 458, indem er seinen Wagen in die Menge steuerte. Wiederum gab es ein Bekennerschreiben des IS. Und so geht es seither weiter… Mindestens zehn Mal bekannte sich der IS seither zu islamistischen Attentaten in Frankreich. Im Oktober 2020 wird zuerst der Geschichtslehrer Samuel Paty von einem tschetschenischen Extremisten enthauptet, dann tötet ein Tunesier drei Personen und verletzt weitere in der Basilika Notre-Dame von Nizza.

Seit 2017 sind laut dem französischen Geheimdienst 271 Menschen in Frankreich durch islamistische Attentate ums Leben gekommen. Fast 1.200 seien in derselben Zeit durch islamistische Attentäter verletzt worden. Zugleich wurden 71 Attentate verhindert.

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