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Wackelt Macron?

Frankreich: Die Präsidentenwahl bringt Macron und die EU ins Schwitzen

Einen Tag vor der ersten Wahlrunde steigt die Nervosität: die Brüsseler Politik zittert, die Presse malt Horrorszenarien – und Staatspräsident Macron blafft Polens Ministerpräsidenten Morawiecki als „Antisemiten“ an.

IMAGO / Le Pictorium

Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron scheint die Nerven zu verlieren: wie aus dem Nichts attackiert er den polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki und nennt ihn einen „rechtsextremen Antisemiten, der LGBT verbietet“. Auslöser war die Kritik Morawieckis an Macrons Gesprächen mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Der polnische Premier warf Macron vor, mit einem Kriminellen zu debattieren, im Krieg hätte auch niemand mit Hitler verhandelt.

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Eine Erklärung: möglicherweise sieht Macron in den Anschuldigungen ein Spiel über Bande zwischen Morawiecki und Marine Le Pen, nur so ist zu erklären, weshalb Frankreichs Staatsoberhaupt von einer „Einmischung in den französischen Wahlkampf“ spricht. Doch es ist nur die Spitze des Eisbergs. Seitdem der Abstand zwischen ihm und der Herausforderin in den letzten beiden Wochen überraschend geschmolzen ist, wird die Auseinandersetzung rauer.

Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katharina Barley, warnte gestern davor, dass eine „50:50“-Situation drohe. Ein Wahlsieg Le Pens sei durchaus möglich. „Hier in Straßburg habe ich mit einigen Franzosen gesprochen. Alle halten einen Wahlsieg der extremen Rechten für möglich.“ Stellvertretend für andere Medien warnte der Tagesspiegel: „Ein Triumph Le Pens wäre eine Katastrophe – auch für Europa.“

Zemmour könnte Le Pen den Weg ebnen

Das vorab: es kann sich auch um das übliche Ritual handeln, das „rechte Schreckgespenst“ möglichst groß zu machen, um so die Unentschlossenen an die Wahlurnen zu holen und die Linksradikalen, die sonst wenig für den amtierenden Staatspräsidenten übrighaben, doch noch zu motivieren, diesen ins Amt zu hieven. Es hat bereits zweimal funktioniert.

Doch die Ausgangslage ist eine andere als vor fünf Jahren. Die Chancen von Éric Zemmour sind trotz seines bemerkenswerten Wahlkampfes nicht hoch genug, um in die Stichwahl zu ziehen. Aber Zemmour ist dafür etwas anderes gelungen: er hat es mit seiner rhetorischen Kriegsführung geschafft, den Diskurs zu verschieben und der linken Ecke zu entreißen. Selbst Le Pen wirkte gegen die Offensive des wortgewaltigen Journalisten handzahm.

Positionen, die in dieser Form noch früher für Diskussionsstoff gesorgt hätten, sind nun deutlich akzeptierter – insbesondere im Themenfeld Migration und Islam. Zemmour hat dabei auch auf einen intellektuellen Typus im konservativen Spektrum Einfluss ausgeübt, dem der Rassemblement National in vielen Belangen zuvor zu plump erschienen ist. Dass die Anhänger Zemmours in der nächsten Runde zu Le Pen wechseln, ist ausgemacht.

Macron kann nicht auf Mélenchons Stimmen setzen

Das führt zu einer einmaligen Situation: Frankreich ist bereits jetzt ein EU-skeptisches Land. Denn Le Pen, Zemmour und der linksradikale Jean-Luc Mélenchon sind allesamt keine Freunde von Globalisierung und Brüsseler Hegemonie. Zusammen kämen sie auf eine absolute Mehrheit der französischen Stimmen. Mélenchon und Le Pen sind zudem besonders bei der jungen Generation beliebt, nur bei den Wählern über 65 kann Macron sich einer klaren Mehrheit gewiss sein. Das zeigt, dass Frankreichs Zukunft jenseits des aktuellen Establishments liegt.

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Macron kann demnach auch nicht automatisch damit rechnen, die Stimmen von Mélenchon im zweiten Wahlgang zu ergattern. Ähnlich wie bei der letzten Wahl dürften sich viele Franzosen dazu entscheiden, am Wahltag daheim zu bleiben. Das hat Macron vor fünf Jahren die Präsidentschaft eingebracht. Dieses Mal ist dies nicht so sicher – das rechte Schreckgespenst muss deswegen her.

Denn sollte Le Pen der Coup gelingen und tatsächlich in zwei Wochen zur ersten Staatspräsidentin der französischen Geschichte gewählt werden, dann dürften Corona und sogar der Ukraine-Krieg ein zweitrangiges Problem für Berlin sein. Es bedeutete nicht nur das Ende des deutsch-französischen Tandems, das historisch und politisch den EU-Raum dominiert hat; es bedeutete vor allem die Einkreisung Deutschlands, wie man sie sich seit Jahrzehnten nicht mehr vorstellen kann.

Mit Le Pen würden die einstigen „Paria-Staaten“ in der EU die Akzente setzen

Anders als dargestellt ist Le Pen nicht nur gut mit den europäischen Parteien rechts der Mitte verdrahtet, sondern besitzt deutlich weniger Schmuddelimage, als ihr hierzulande angelastet wird. Im Zuge der im Europäischen Parlament anberaumten Rechtsfraktion hat sie Kontakte nach Budapest und Warschau geknüpft. Traditionell unterhält sie ein gutes Verhältnis zur italienischen Lega von Matteo Salvini, die in Rom einer Allparteienkoalition angehört. Insbesondere die „Paria-Staaten“ der EU könnten plötzlich eine Führungsrolle übernehmen.

Alle Animositäten, die die Regierung Merkel über anderthalb Jahrzehnte befeuert hat, könnten mit ihrem Amtsantritt losbrechen und sich darin katalysieren, dass Le Pen den nationalstaatlichen Weg betont, auch für die restlichen EU-Länder. Das wäre ganz im Sinne der eher konservativ gesinnten Ostmitteleuropäer. Das hieße im Übrigen keine Demontage Brüssels, sondern vielmehr eine langfristige Umstellung. Le Pen betont bereits seit längerer Zeit, die EU nicht mehr abschaffen zu wollen, sondern auf neue Fundamente zu stellen.

Das wäre nicht nur für die von „Greenflation“ und „Green Deal“ beseelte Brüsseler Administration eine Horrorvorstellung, sondern insbesondere für die Ampel in Berlin. Nach dem Ukraine-Krieg könnte es das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit sein, dass bei Deutschland die Geschichte anklopft und auf den jahrelangen Irrweg eigener EU-Politik hinweist. Dieses Mal wäre der Schuss nicht zu überhören.

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