Tichys Einblick
Schlechtes Timing und Völkerrechts-Pech

Faesers Besuch in Ankara: kein Handeln gegen die Migrationskrise

Nancy Faeser besuchte ihren türkischen Amtskollegen Süleyman Soylu. Doch statt Tacheles gab es Leisetreterei – auch in Sachen der Militäroffensive in Nordsyrien und im Nordirak – und missverständliche Worte über "geregelte Migration". Bei der organisierten Kriminalität wünscht sich Faeser gar Hilfe.

IMAGO / Metodi Popow

Das Timing dieser Frau ist bewundernswert. Aktuell sucht Nancy Faeser die Nähe zu orientalischen Autokraten, was ja auch angesichts der sich umwälzenden Demographie Mitteleuropas überaus naheliegt. Am Dienstag flog sie zu ihrem Antrittsbesuch in die türkische Hauptstadt Ankara, danach ging es weiter in das Wüstenemirat Katar, wo Faeser dem ersten Spiel der Nationalmannschaft beiwohnte – mit der One-Love-Armbinde am Oberarm, die die Fußballer laut Fifa nicht tragen sollten. Immerhin, die zweite Station kann man als eine ordentliche Verpflichtung der Sportministerin ansehen. Faeser betont denn auch, sie sei „verantwortlich für die deutschen Fans und die deutsche Mannschaft“. Die Ministerin hegte noch einen Tag vor dem Spiel die Hoffnung, dass Manuel Neuer die umstrittene One-Love-Armbinde tragen würde – obwohl so etwas natürlich nicht zu erwarten war.

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Was hinter diesem WM-Besuch unterzugehen droht, ist der vorherige Abstecher in Ankara, bei dem es wahrlich ausreichend Gesprächsstoff gab. Vor allem die Migrationskrise an den EU-Außengrenzen, an der die Türkei alles andere als unschuldig ist, hätte zum harten Bestand der Gespräche gehören müssen. In der EU geht es derweil zur Sache, nicht nur weil Italien seine Migrationspolitik verändern will, auch weil die von der Türkei her gespeiste Balkanroute erneut überläuft. Die österreichischen Asylanträge mögen ein Gradmesser sein, wo bald die 100.000-Grenze überschritten sein wird. Viele von ihnen werden gleich nach Antragstellung weiterziehen.

Wurde all das zum Thema? Ja und nein: Laut ZDF, dem Sender mit dem direkten Draht zur Ministerin, suchte Faeser das Gespräch in Sachen Drogenschmuggel, Menschenhandel und „bei der geregelten Migration von Flüchtlingen“. Das lässt kaum noch Fragen offen. Es geht also neben Schmuggel und Schlepperei (die man angeblich bekämpfen will, nur mit welchen Mitteln?) auch um die geregelte Einfuhr von vermeintlichen Flüchtlingen. Und das ist nur ein weiteres Signal dafür, dass die Ampelkoalition den Vorgängen an den griechisch-türkischen und türkisch-zyprischen Grenzen auch weiter ihren Lauf lassen will und nicht zu stärkeren Grenzschutzmaßnahmen im EU-Rahmen bereit ist.

Das kleine Zypern trug im ersten Halbjahr 2022 mit 1.368 Anträgen pro 100.000 Einwohner die höchste Belastung aller EU-Mitglieder. Bis Oktober kamen 17.000 illegale Migranten meist über die grüne Grenze vom türkisch besetzten Nordteil der Insel. Griechenland berichtet zwar von verminderten Migrationsströmen, treibt dazu aber erhöhten Aufwand mit einer stetig verstärkten Grenzpolizei am Grenzfluss Evros. Auch den neuen stabilen Grenzzaun will man mittelfristig auf die gesamte Länge des Flusses erweitern. Das spricht nicht für friedliche Verhältnisse an den EU-Außengrenzen. Bei der SPD-Diplomatie im Herzen Anatoliens spielt es dennoch keine Rolle – zumindest nicht nach außen.

Faesers Pech mit dem gebrochenen Völkerrecht

Aber Faeser hatte auch Pech: Just im Moment ihrer Anreise hat die türkische Führung eine Art Flächenbrand begonnen – mindestens im medialen Sinn. Nicht nur bombardieren die Streitkräfte zum wiederholten Male kurdische Siedlungen im Nordirak und Nordsyrien, was völkerrechtlich anscheinend ohne Belang ist. Auch eine erneute Bodenoffensive wird von Ankara vorbereitet und mit einem terroristischen Attentat in Istanbul begründet, das die türkische Führung der kurdischen PKK und „syrischen Kurden“ zuschreibt. Menschenrechts-NGOs wie Medico international riefen die Innenministerin via Frankfurter Rundschau zur Härte auf. Die Türkei führe einen „hybriden Krieg“ in Nordostsyrien, sagte die Medico-Referentin Anita Starosta, kontrolliere die Wasserzufuhr und arbeite auch mit radikal-islamischen Milizen zusammen. All das ziele auf die Schwächung der kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien ab.

Doch Faeser hat dazu nur wenige Worte. Dem ZDF sagte sie: „Wir finden eben auch, dass wenn reagiert wird, es verhältnismäßig sein muss, dem Völkerrecht entspricht und keine Zivilisten zu Schaden kommen.“ Die Erfüllung aller drei Kriterien scheint in diesem Fall nicht gegeben zu sein. Umso schlimmer, dass die Ministerin nicht deutlichere Worte fand. Die Deutsche Presse-Agentur stellt dazu dankenswerter Weise klar: „Faeser reist zu ihrem Antrittsbesuch in die Türkei – der war bereits vor den Angriffen der türkischen Streitkräfte geplant und findet nicht anlässlich dieser statt.“ Mit anderen Worten: Zumindest beteiligt war Faeser nicht an dem neuen Flächenbrand in Kurdistan.

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Eigentümlich ist allerdings: Der türkische Innenminister Süleyman Soylu, bekannt für seine antiwestlichen Verschwörungserzählungen, möchte mit Faeser über Terrorismusbekämpfung sprechen. Womit er ähnlich wie in den Gesprächen mit Schweden und Finnland meint, dass sich die westlichen Verbündeten hinter die Türkei zu stellen haben, was den Kampf gegen die PKK und die Kurden im türkeinahen Ausland angeht. Genau diesen Kampf führt die türkische Regierung gerade in diesen Tagen wieder auf blutige Weise.

Deutschland soll angeblich „Terroristen“ ausliefern. Dazu zählt man in Ankara allerdings nicht nur kurdische Widerstandskämpfer, sondern auch die Anhänger des in den USA lebenden geistlichen Führers Fethullah Gülen, der lediglich eine etwas andere Spielart des politischen Islam vertritt.

Der weite Terrorismus-Begriff des Erdogan-Regimes

In Deutschland soll die Türkei durch Botschaften und Konsulate und sogar mit Hilfe eines Mitarbeiters der nordrhein-westfälischen Landesregierung versucht haben, an Informationen zu Gülenisten zu kommen, wie die Website Nordic Monitor unlängst enthüllte. Ein Angestellter der Düsseldorfer Landesregierung und türkischer Staatsbürger hat demnach an einem 746 Seiten starken Geheimbericht der Spionageabteilung im türkischen Außenamt mitgewirkt, indem er Informationen zur Realschule Boltenheide weitergab.

Die Privatschule in Wuppertal-Vohwinkel wird von einem Träger mit Nähe zur Gülen-Gruppe betrieben, wie schon seit längerem bekannt ist. Das führte auch schon früher zu Anfeindungen durch Erdogan-treue Türkeistämmige.

Letztlich gelangten die Informationen über die Religionsbehörde Diyanet an das türkische Außenministerium und in dessen nachrichtendienstliche Abteilung. Tatsächlich hatte die türkische Botschaft in Berlin versucht, Informationen über die Mitglieder des Fördervereins Realschule Boltenheide zu bekommen, doch erfolglos: Es waren keine Ditib-Mitglieder darunter. Ditib ist der deutsche Arm der türkischen Religionsbehörde Diyanet.

Kampf gegen organisierte Kriminalität: Will Faeser jetzt Straftäter in die Türkei abschieben?

Kurz gesagt, überwacht der türkische Staat Türkeistämmige in Deutschland, mit dem Ziel, Kritik an der Regierung Erdogan auszuschalten. Auch das ist nichts Neues: 2016 hatten Diyanet-Moscheen in 38 europäischen Ländern nach Anhängern der Gülen-Bewegung gesucht, was zu einem Skandal und der Beendigung der hessischen Ditib-Kooperation führte. Doch nicht alle Ditib-Kooperationen in Deutschland wurden beendet. Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu  bestätigte 2020, dass die Türkei gewohnheitsmäßig ihre Diplomaten und Konsulatsmitarbeiter zum Ausspionieren von Regimekritikern im Ausland nutzt. Aktuell berichtet die Welt von einer Operation gegen Regierungskritiker im Ausland, zu denen auch der Nordic-Monitor-Journalist Abdullah Bozkurt gehört.

Die Aktivitäten der Ditib-Moscheen in Deutschland sorgen weiter für Aufregung und Unruhe in den deutsch-türkischen Beziehungen. Eren Güvercin, Gründungsmitglied des muslimischen Alhambra-Vereins, kritisiert, dass die Regierungspartei AKP seit September „in rund 30 Gemeinden des Moscheeverbands Ditib“ eigene Wahlkampfveranstaltungen abgehalten haben soll.

Spielten diese Dinge eine Rolle bei den Gesprächen in Ankara? Nach dem zögerlichen Faeser-Kommentar zum türkischen Krieg in Nordsyrien und dem Nordirak kann man das nicht annehmen. Faeser will angeblich auch in Sachen organisierte Kriminalität mit der türkischen Regierung zusammenarbeiten, wie der Tagesspiegel weiß. Viele Verbrecher stammten aus der Türkei und Faeser würde „kriminelle Strukturen“ gerne „nachhaltig“ zerschlagen. Unklar bleibt, ob dazu Abschiebungen von Straftätern in die Türkei gehört. Dann würde man die Leisetreterei in Ankara allerdings verstehen. Und hätte einen weiteren Mosaikstein einer SPD-Wende in der Migrationspolitik gefunden, den es vermutlich gar nicht gibt.

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