Tichys Einblick
Geplatzter Türkei-Deal

Europa wird jetzt in Griechenland verteidigt

Der griechische Innenminister Michalis Chrysochoidis stellte am Grenzfluss Evros fest: »Die Migranten sind nicht von alleine hier hergekommen. Die Türkei vertreibt sie, schiebt sie ab und benutzt sie. Griechenland hat Grenzen, ebenso wie Europa. Und wir Griechen schützen unsere Grenzen.«

Gokhan Balci/Anadolu Agency via Getty Images

Der griechische Hang zur Gastfreundschaft ist bekannt. Über dem offiziellen Grenzübergang am thrakischen Grenzfluss Evros steht es groß, in antikisierenden Lettern und in Blau und Weiß: »Griechenland – Seid willkommen«. Doch alles endet – auch die Zeiten, in denen man dem schwierigen Nachbarn im Osten unbesehen ein solches »Willkommen« zurief. Nun ist alles voller Stacheldraht. Es sieht ein bisschen aus wie im nordafrikanischen Melilla oder Ceuta, und das ganz zu Recht.

Es ist ein merkwürdiger, ein abgründiger Zustand, in den der türkische Präsident Europa derzeit versetzt. Seit Freitag gibt der Vertragspartner der EU ganz offen zu, die im Lande anwesenden Migranten, die meist aus den Krisenländern des nahen und mittleren Ostens – Syrien, Irak, Afghanistan –, aber auch schon mal aus Pakistan, Marokko oder Subsahara-Afrika stammen, nicht mehr von der Weiterreise abhalten zu wollen. Die Botschaft des Mini-Sultans mit Eroberungsgelüsten in Syrien und andernorts hat zu einem Massenansturm auf den griechischen Grenzübergang von Kastanies geführt, den die Griechen natürlich umgehend schlossen und im Laufe des Samstags mit zusätzlichem Schutzpersonal besetzten.

Die Türken setzen nun tatsächlich Züge, Taxis und Busse, ja sogar offizielle Militärfahrzeuge ein, um die Migrationswilligen aus den Tiefen des Landes direkt an die griechische Grenze zu bringen. Begleitet wird das Ganze von quasi offiziell verbreiteten Bildern bei türkischen Nachrichtenagenturen, auf CNN Türk und TRT. Die ganze Welt soll es wissen: Erdoğan erpresst die EU. Dabei kleidet der türkische Präsident sein Motiv in die tadelnden Worte, die EU müsse lernen, ihr Wort und ihre Versprechen zu halten. Noch am Freitagabend hatten die Griechen ihrerseits versucht, die Türkei im Nato-Rat auf die Einhaltung des Merkel-Deals einzuschwören. Aber mit dieser Forderung standen sie allein da, sie konnten nur das gemeinsame Kommuniqué mit einem Veto belegen.

Ein zweites »2015« unter Pandemie-Bedingungen? Das geht nicht gut

Als Erdoğans eigentliches Motiv gelten die 33 türkischen Soldaten, die kürzlich bei einem syrischen Luftangriff in Idlib ums Leben kamen. Die eigenen Zinksärge will er zudecken mit einem trotzigen Manöver gegen seine europäischen »Verbündeten«. Man mag das Wort gar nicht mehr in den Mund nehmen. Denn Erdoğan scheint nur noch mit den Islamisten in Nordwestsyrien im Bund zu sein, nicht mehr mit den Völkern Europas. Dass er dabei auch noch Phantasiezahlen in die Welt setzt, nach denen je nach Tag schon 18.000 bis 30.000 Migranten die EU-Grenzen überschritten hätten, ist wohl das Merkwürdigste (aber auch Durchschaubarste) an dem Ganzen.

Der griechische Innenminister Michalis Chrysochoidis (Pasok) stellte nun am Grenzfluss Evros fest: »Die Migranten sind nicht von alleine hier hergekommen. Die Türkei vertreibt sie, schiebt sie ab und benutzt sie.« Man werde niemanden ohne gültige Papiere einreisen lassen. »Griechenland hat Grenzen, ebenso wie Europa. Und wir Griechen schützen unsere Grenzen.« Hier zitterte die Stimme des erfahrenen Ministers etwas, doch Griechenland hat keine Wahl. Wenn es diesen Kampf verliert, setzt das Land nicht nur die eigene innere Sicherheit aufs Spiel, sondern langfristig auch die Stabilität des Kontinents – zumal angesichts der schwierigen Lage, in die eine heimtückische Krankheit die Länder Europas bald bringen könnte.

Auch Bulgarien hat seinen Grenzschutz zur Türkei deutlich verstärkt. Dabei gilt die Sorge der Regierung auch dem neuen Coronavirus. Der bulgarische Premierminister Boiko Borissow sagte, eine Migrationskrise stelle in dieser Lage eine besondere Bedrohung dar. Die Regierung hat daher Gendarmen sowie 1.000 Soldaten an die bulgarisch-türkische Grenze geschickt. Die Sorge des bulgarischen Regierungschefs dürfte durchaus echt sein; das Land hat inzwischen auch Grenzkontrollen für Einreisende aus Griechenland eingerichtet und lange Staus in Kauf genommen, um die Einschleppung des Coronavirus zu verhindern. In Griechenland gibt es inzwischen fünf Fälle. Aus der Türkei ist zwar bislang kein Fall bekannt, aber irgendwo hieß es treffend: Die Epidemie umkreist die Türkei wie ein Geier. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit oder der Durchführung von Tests, bis die ersten Fälle amtlich da sind.

Grenzlager in der türkischen Sperrzone

Seit Freitag morgen haben sich einige tausende Migranten vor dem griechischen Grenzübergang in Kastanies angesammelt. Sie liefern sich seitdem einen permanenten Kleinkrieg mit den griechischen Grenzschützern. Man sieht die Bilder der Schlacht und denkt: Das ist nicht die Bereicherung, die uns gerade fehlt. Brennende Holzscheite fliegen über den Stacheldraht. Nur durch Einsatz von Pfefferspray und Tränengas können die griechischen Beamten die Angreifer zurückschlagen.

Ein Fernsehreporter hat sich ins Lager der Migranten gewagt und lässt sich von einem jungen Mann in ausgezeichnetem Griechisch erklären, dass dies die einzige Lösung sei. Man wolle vorbei an den Grenzposten, natürlich nicht um in Griechenland zu bleiben. Am Freitagabend sind es nach Schätzungen 6.000 Personen, die nun ein kleines Grenzlager im Niemandsland bilden. Dabei handelt es sich eigentlich um militärisches Sperrgebiet, das von der Türkei kontrolliert wird.

Griechische Medien berichten, dass auch die Türken oder aber die Migranten selbst Tränengas einsetzen, dessen Kapseln türkische Aufschriften tragen. Der türkische Außenminister greift die Griechen darauf ebenso frontal wie frech an: Sie setzten Tränengas gegen Unschuldige ein. Am Freitag wurden 66 illegale Grenzübertreter von den griechischen Grenzschützern aufgegriffen, am Samstag waren es noch einmal 70. Diese Grenzübertreter hatten den Zaun abseits des Übergangs bei Kastanies durchbrochen. Es gibt unter anderem Tweets, die den Migranten sichere Routen aufzeigen.

Ein Schleuser erzählt aus dem Nähkästchen

Wie der griechische Fernsehkanal Skai berichtet, sollen auch straffällig Gewordene aus geschlossenen Einrichtungen unter den Migranten an der griechischen Grenze sein. Klar scheint aber: Wer gerade dem umkämpften Idlib entflohen ist, verfügt wohl kaum über die nötige Energie, um sich innerhalb weniger Stunden von der einen zur anderen Landesgrenze zu bewegen und dort einen Straßenkampf zu beginnen. Zu sehen sind eher ausgeruhte junge Männer, die sicher schon länger in der Türkei sind. Einige Medien berichten zudem von kämpfenden Islamisten, die mit »Allahu akbar«-Rufen in die Grenzschlacht ziehen.

Unterdessen gab einer der Schleuser an der Ägäis-Küste dem türkischen Fernsehen ein Interview und bekundete freimütig, wie er die Migranten in motorisierte Schlauchboote setzt, 35 bis 45 pro Boot, wobei er Kosten von 7.000 bis 8.000 Euro habe und am Ende 2.000 Euro Gewinn mache. In knapp einer halben Stunde seien seine Kunden auf einer der griechischen Inseln. Nach diesem Werbeblock fügt er an: Angeblich hätten die Migranten die neueste Botschaft des türkischen Präsidenten nur »falsch verstanden«. Der Grenzübertritt nach Griechenland sei nämlich gar nicht auf dem Festland möglich, sondern weiterhin nur übers Wasser. Wenn die Migranten das in einigen Tagen bemerken, würden sie sich alle wieder zur türkischen Westküste aufmachen. Offenbar hat da ein Geschäftsmann eine Anzeige aufgegeben. Alles ganz legal. Und inzwischen arbeitet der Mann sogar für lau – offenbar schießt die türkische Regierung ihm etwas zu.

Auch die Lagerinsassen auf den griechischen Inseln haben von der türkischen Grenzöffnung gehört und ihren Verwandten jenseits des Meers bescheid gegeben. Nun sei die Chance, sich mit ihnen auf den griechischen Inseln zu vereinen. In der Tat, auch die türkische Küstenwache scheint zu streiken. Und an verschiedenen Punkten der türkischen Westküste sammeln sich Migranten, die offenbar nur noch auf ihre staatlich geprüften Schleuser warten. Doch auch am Samstag sind wieder Boote auf den Inseln angekommen. Auf Chios gab es wiederum Unruhen unter den migrantischen Lagerbewohnern.

Was tut Europa?

Die Frage ist nun: Was können die Europäer tun, um den beiden Anrainerstaaten beim Stemmen der Aufgabe zu helfen? Eines ist schon mal sichergestellt: Angela Merkel ist informiert. Der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis hat sie am Freitag angerufen und über die Abwehrmaßnahmen in Kenntnis gesetzt. Eine Reaktion ist nicht überliefert. Ursula von der Leyen bekundete über Twitter, dass man in Kommission und Rat die Situation »eng und mit Sorge« verfolge, an die Landgrenzen könne man zusätzliche Frontex-Mitarbeiter entsenden.

Eine kleine Presseschau fördert Erkenntnisse zutage, die für viele nicht neu sein werden: »Griechenland versucht, Migranten mit Gewalt zu stoppen«, titelt der Spiegel. Die Gewalt geht also vom griechischen Staat aus? Ganz ähnlich der Focus: »Griechenland stoppt Migranten mit Gewalt«, hier allerdings mit dem Zusatz: »Was die EU jetzt tun kann«. Im Artikel meint der Türkei-Experte Abdel Mottaleb El-Husseini: »Die EU sollte sich zurückhalten und damit versuchen, Erdoğan zu beruhigen.« Es handelt sich also auch nach Expertenmeinung um einen trotzigen Fünfjährigen, der im Supermarkt einen Schreikrampf bekommt. Immerhin fügt El-Husseini hinzu, dass Erdoğans Provokation ein Fehler sei. Man dürfe seinen Erpressungsversuch nicht akzeptieren: »Was er tut, ist klar menschenverachtend. Er nutzt das Leiden der Flüchtlinge, um seine eigenen politische Ziele durchzusetzen.« Erneut zeige sich, dass die EU ein stärkeres Engagement im Nahen Osten benötige, um zu Lösungen von Konflikten konstruktiv beizutragen.

Es wäre zu wünschen, aber für die aktuelle Krise wird das wohl nur noch wenig helfen. Nun müssen sich die Europäer gemeinsam gegen eine weitere Destabilisierung verteidigen. Andernfalls drohen nicht nur schlimme Bilder, sondern schlimme Zustände. Und die können wir uns in der heutigen Lage weniger denn je erlauben.

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