Tichys Einblick
TE-Exklusiv

„Diese Katastrophe wird den Druck zur Auswanderung aus Syrien weiter verschärfen“

Die Türkei steht im Mittelpunkt der Erdbebenberichterstattung. Dabei ist das Bürgerkriegsland Syrien in einer schlechteren Situation. Schneller Hilfe stehen westliche Sanktionen im Weg. Ist die nächste Auswanderungswelle unausweichlich? TE sprach mit der Hilfsorganisation CSI, die vor Ort engagiert ist.

IMAGO / ZUMA Wire
Mehr als 11.000 bisher geborgene Tote gibt es nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien zu beklagen, so ein Artikel aus der Washington Post von heute Morgen. „Dies ist eine Gelegenheit, die Politik beiseite zu lassen und sich auf das zu konzentrieren, was dringend benötigt wird, um Männern, Frauen und Kindern zu helfen, deren Leben durch eines der schwersten Erdbeben seit langem zerstört wurde, und wir hoffen, dass alle das im Hinterkopf behalten“, sagte UN-Sprecher Stephane Dujarric.

Doch diese hehren Ansprüche will man offenbar nicht überall einhalten. Die USA werden Syrien helfen, aber nicht Bashar al-Assad, den Washington nicht als legitimes Staatsoperhaupt anerkennt. Man verlasse sich auf NGOs vor Ort, so Ned Price vom State Department. „Es wäre ziemlich ironisch – wenn nicht sogar kontraproduktiv – für uns, uns an eine Regierung zu wenden, die ihr Volk im Laufe von einem Dutzend Jahren brutal behandelt“, so Price.

Bereits in einem früheren Artikel hatte TE über die Sanktionen gesprochen, die gegen Syrien verhängt wurden, und nahezu jeden Geldverkehr in das Land erschweren. Assad ist immer noch nicht gestürzt worden, dafür leidet das Volk umso mehr unter den weiterhin geltenden Einschränkungen, die der Westen verhängt hat. Die aktuelle Krise legt die Prioritäten offen.

Eine unabhängige Hilfsorganisation, die sich seit Jahren vor Ort engagiert und die Probleme vor Ort genau kennt, ist das christliche Hilfswerk Christian Solidarity International (CSI). „Das schwere Erdbeben trifft ein Land, das ohnehin am Boden liegt, dessen Bevölkerung ausgelaugt ist und vom zerstörten Gesundheitssystem nicht aufgefangen werden kann“, erklärt die Organisation. Das ist der schlagende Unterschied zwischen der Türkei und Syrien: Die Türkei mag stärker betroffen sein, doch anders als die Türkei hat Syrien viele Jahre des Bürgerkriegs hinter sich. Das Erdbeben hat also dort eine deutlich größere Wirkung als im Nachbarland. Dennoch umschiffen Politik und Medien das Thema – aus oben genannten Gründen?

Wir haben mit Pfarrer Peter Fuchs gesprochen, dem Deutschland-Geschäftsführer von CSI, der Syrien immer wieder besucht hat und im intensiven Kontakt mit den Kräften vor Ort steht.

Tichys Einblick: Herr Pfarrer Fuchs, welches sind die am stärksten betroffenen Gebiete in Syrien und welche internationale Hilfe erfahren die Menschen vor Ort?

Peter Fuchs: Betroffen ist die syrische Grenzregion zur Türkei und die Städte im Norden und Westen Syriens. Aleppo, Hama, Tartus und Latakia wurden von diesem schwersten Erdbeben seit 800 Jahren hart getroffen. Häuser fielen in Sekunden in sich zusammen. Der chaldäische Bischof von Aleppo, Antoine Audo, verglich das Erdbeben mit einer gigantischen Bombe, tödlich und unbekannt, die nach 12 Jahren Krieg nun auf die Menschen von Aleppo fiel.

Hilfe kommt in dieser schweren Stunde von internationalen und lokalen Hilfsorganisationen, die seit Jahren versuchen, das Elend der Menschen in Syrien zu lindern. Der Syrische Rote Halbmond, staatliche und kirchliche Hilfsorganisationen stellen finanzielle Soforthilfe, Hilfsgüter und Notunterkünfte bereit. Auch befreundete Staaten haben Hilfe für Syrien angekündigt und schon Flugzeuge mit Hilfsgütern nach Damaskus geschickt, darunter bisher Russland, Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate, Algerien, Tunesien, Libanon und Irak.

Wie ist die politische Situation in den betroffenen Gebieten – und wie „heiß“ der dortige Bürgerkrieg? Haben Helfer Zugang zu den betroffenen Gebieten? Welche Hindernisse gibt es?

Die militärische Lage in Aleppo, Hama und den Küstengebieten ist völlig ruhig. Ein Sicherheitsproblem stellen die dschihadistischen Terroristen dar, die Idlib und das Grenzgebiet zur Türkei kontrollieren.

Wer Idlib betreten will, um Hilfe zu bringen, muss zwangsläufig mit Dschihadisten und den mit ihnen verbundenen „Weißhelmen“ kooperieren. Ich wundere mich, dass diese Tatsache in deutschen Medien nicht aufscheint, die ja schnell empört sind, wenn jemand in Verdacht gerät, mit der Regierung in Damaskus zu kooperieren.

Folgt man den Medien, dann hat der Westen Syrien neuerlich vergessen – die Türkei steht im Mittelpunkt der Berichterstattung und auch der Hilfeleistungen. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür?

Syrien wird vom Westen seit 12 Jahren blockiert. Die syrische Bevölkerung wird durch das menschenverachtende Sanktionsregime von EU und USA seit Jahren kollektiv bestraft. Aufgrund der Sanktionen fehlen Ersatzteile für Maschinen und Infrastruktur, Diesel und Medikamente. Die Sanktionen behindern selbst die jetzt notwendigen Bergungs- und Hilfsmaßnahmen für die Erdbebenopfer.

Das Leid der Menschen in Syrien ist vom Westen politisch gewollt. Der Traum vom Regimechange ist ausgeträumt, jetzt will man Syrien zu einem „failed state“ machen. Die Syrer leiden seit Jahren unter dieser unmoralischen Politik des Westens und ich fürchte, dass die Hardliner in Washington und Brüssel das Erdbeben in ihrem Sinne nutzen und den Menschen in den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten Hilfe vorenthalten werden. Ich hoffe sehr, dass ich mich mit dieser Prognose täusche!

Die Türkei ist immer noch Besatzungsmacht in Nordsyrien. Welche Rolle spielt sie in der weiterhin verworrenen syrischen Gemengelage?

Die Türkei hat ganz eigene Ziele in Syrien. Sie kollaboriert mit Islamisten und kämpft gegen die mit den USA verbündeten Kurden, die den Nordosten des Landes mit seinen Getreide- und Erdölfeldern besetzen. Die Syrer im Norden leiden unter wiederkehrenden Bombardements durch die türkische Armee und eine Wasserblockade seitens mit der Türkei verbündeter Terroristen.

In den sozialen Medien kursieren auch viele Bilder getöteter christlicher Geistlicher. Wie stark sind die Christen in Syrien betroffen?

Ein guter Freund, Pater Imad Daher, ist im minutenlangen Erdbeben umgekommen. Er hatte die schlimmen Kämpfe um Aleppo 2016 schwerverletzt überstanden, ein Auge und eine Gesichtshälfte hatte er damals verloren. Jetzt starb dieser treue Priester unter den Trümmern eines Hauses der melkitischen Erzdiözese. Wir dürfen nicht vergessen, dass gerade Aleppo ein Zentrum und Symbol der syrischen Christenheit ist und dass diese apokalyptische Katastrophe den Druck zur Auswanderung aus Syrien weiter verstärken wird – bei Christen und Muslimen.

CSI hilft in Syrien seit Jahren. Welche Auswirkungen hat die Katastrophe auf die zukünftige Arbeit? Und mit welchen akuten Problemen ringt Ihre Hilfsorganisation in Syrien noch?

CSI leistet humanitäre Hilfe in Syrien seit Kriegsbeginn und setzt sich mit Kirchenführern und internationalen Persönlichkeiten für eine Beendigung der unmoralischen Wirtschaftssanktionen ein. Unsere lokalen christlichen Partnerorganisationen benötigen vor allem Geld, um ihre Schulen und Kliniken zu unterhalten, und um die völlig verarmten Menschen mit Nahrung, Kleidung und einer Perspektive zu versorgen. Das Erdbeben führt nun dazu, dass die Ressourcen in und für Syrien noch knapper werden. Aber wir lassen die Menschen in Syrien nicht allein.

Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

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