Tichys Einblick
Gelbwesten auf der Insel?

„Genug ist genug“: Proteste in Großbritannien gegen steigende Kosten

Nach Frankreich zeigen sich nun auch in Großbritannien erste Unruheherde angesichts der Krise um die Lebenshaltungskosten. Einzelne Stimmen beschreiben den Protest als „zu breit“. Der britischen Regierung könnte ein „Winter der Streiks“ bevorstehen. 

Manchester, 30.08.2022: Die Menschen stehen Schlange, um die Kathedrale für die ausverkaufte Veranstaltung der Kampagnenbewegung "Enough Is Enough" zu betreten. Religionsführer und Gewerkschaften kamen zusammen, um gemeinsam für die Bewältigung der Lebenskostenkrise zu werben, indem sie echte Lohnerhöhungen, eine Senkung der Energierechnungen und eine Besteuerung der Reichen forderten.

IMAGO/Zuma Wire

„Enough is Enough!“ (Genug ist genug!) heißt der Name und der Wahlspruch einer relativ neuen Initiative im Vereinigten Königreich. Vor drei Wochen gegründet, konnte die Bewegung laut der gewerkschaftsnahen Tageszeitung Morning Star bereits 500.000 Unterstützer online gewinnen. Ähnlich wie die Eurozone ist auch Großbritannien von Preissteigerungen und Inflation betroffen. Die beiden Wirtschaftsräume stehen derzeit vor ähnlichen Problemen durch die Abhängigkeit von russischem Gas aber auch wegen älterer Entscheidungen für billiges Geld und niedrige Zinsen.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Noch ist der deindustrialisierte Norden das wichtigste Spielfeld der neuen Initiative. In der alten Arbeiterstadt Manchester fand nun die zweite große Versammlung der Initiative statt, die zwar von Politikern und Gewerkschaftern angeführt wird, sich aber als überparteilich versteht und den regierenden Eliten insgesamt fernstehen dürfte. Um die tausend Bürger seien am Dienstag zur Kathedrale von Manchester gepilgert, darunter Aktivisten, Kirchenvertreter, Gewerkschafter und normale Familien. Weitere Versammlungen sollen in Liverpool, Glasgow und anderen Städten der britischen Peripherie folgen. Am 1. Oktober schließlich ist laut Morning Star ein „nationaler Aktionstag“ geplant. An diesem Tag wird der Energiepreisdeckel auf 3.549 Pfund pro Jahr hinaufgesetzt. Das bedeutet steigende Kosten für viele Verbraucher, die derzeit von dem Preisdeckel profitieren.

Eine junge Frau ist dabei, die Essen in einer Schulkantine ausgibt, und es nicht mehr ertragen kann, dass einige Kinder auf ihren Karten schlicht kein Geld haben, von dem sie eine Pausenmahlzeit bezahlen könnten. Zehn bis 15 Mal in einer Schicht passiere das, und inzwischen grause sie sich davor, im Oktober wieder mit der Arbeit anzufangen.

Die Krise um die Energiekosten ist nicht die einzige

Eine 59-jährige Angestellte in einer Baufirma sagte dem Guardian: „Es war schon vor sechs Jahren genug, aber jetzt reichen unsere Löhne nicht mehr für das Essen, Benzin, die Kinderbetreuung, Extrakosten für Versicherung und anderes. Zahlen sie drauf, hört man überall.“ Im Winter sehen sich viele, auch Menschen mit mittleren Einkommen, gefordert durch die Energiepreise, während die Konservativen sich gegenseitig zerfleischten, anstatt Lösungen für das Land vorzulegen, erzählt ein junger Mann. Die Inflation bei Lebensmitteln stieg im August auf 9,3 Prozent an (im Juli noch sieben Prozent). Bei frischen Lebensmitteln sind es inzwischen 10,5 Prozent.

Einer der Anführer der Protestbewegung ist der stellvertretende Generalsekretär der Transportgewerkschaft RMT (National Union of Rail, Maritime and Transport Workers) Eddie Dempsey, der in Manchester einen „Winter der Streiks“ auf die britische Regierung zukommen sieht. Er sieht die Zeit für eine gewisse „Disruption“ gekommen. Die Lebensbedingungen für die normalen Briten verschlechterten sich zusehends aufgrund der ökonomischen Rahmenbedingungen. Die Verantwortung sieht Dempsey bei der Regierung, die die Gewinne, aber auch die Preise in die Höhe habe schnellen lassen, während die Löhne niedrig bleiben sollen.

Das Land werde von einigen multinationalen Konzernen regiert, und die heutige Krise sei die logische Folge. Die Menschen, die sich ihr Leben nicht mehr leisten können, würden nun aktiv werden und „mit Selbstrespekt“ für ihre Interessen eintreten: „Ich spüre, dass ein Wandel kommt.“ Dempsey rief zum „kollektiven, geeinten, gewaltlosen Handeln“ auf. Zehn Meter entfernt steht eine Gandhi-Statue, mit Stock und Sandalen könnte er auf dem Weg nach London, direkt ins Unterhaus sein. Dempseys Motto für den aufziehenden Protest hat durchaus auch einen nationalen Klang: „Das ist unser Land. Wir verdienen es, besser behandelt zu werden.“

In seiner Rede am Cathedral Yard sagte der Gewerkschaftsführer: „Wir sind die Chartisten. Wir sind die Suffragetten. Wir sind die Menschen, die die Demokratie in dieses Land gebracht haben. Wir haben den NHS (das nationale Gesundheitssystem), das soziale Wohnungswesen und das Bildungssystem aufgebaut, und wir werden es uns wieder zurückholen.“ Und weiter: „Wir lassen uns nicht mehr an der Nase herumführen. Wir werden sicherstellen, dass unsere Alten es im Winter warm haben, dass unsere Kinder satt werden und das Bier im Sommer kalt ist. Wir können das schaffen.“

Manchesters Bürgermeister: Forderungen von vielen geteilt

Dave Ward, Generalsekretär der Communication Workers Union (CWU), in der die Mitarbeiter von Kabel-, DSL- und Postunternehmen organisiert sind, sagte in der Kathedrale: „Es ist nicht wichtig, um welche Krise es gerade geht, die Finanzkrise von 2009, die Pandemie oder die Krise der Lebenshaltungskosten oder der Klima-Notstand. Eine Sache ist absolut sicher, egal welche Partei regiert: Arbeitnehmer werden immer den Preis zahlen, wenn wir nicht zusammenkommen, zusammenstehen und kämpfen. Wandel ist kein Sport zum Zuschauen.“ In Deutschland ist die Lage nicht viel anders. Robert Habeck (B’90/Die Grünen) vergaß bei seiner Gasumlage, dass Betriebe, die Boni auszahlen können, vielleicht nicht zu den Notleidenden im Land gehören.

Sicher stammen viele Mitstreiter der neuen Bewegung aus dem linken Teil des politischen Spektrums. Aber die Erregung geht darüber hinaus. Eine Nachrichtenmoderatorin bei Sky TV bemerkte gar, die Bewegung sei vielleicht sogar „zu breit“. Unklar bleibt, was daran schlimm wäre. Vermutlich ist man sich nicht sicher, dass die Bewegung parteipolitisch exakt verortbar ist.

Der Labour-Bürgermeister von Greater Manchester, Andy Burnham, kann an dieser Stelle nur erwidern, dass die Forderungen der Initiative von sehr vielen Bürgern seiner Stadt geteilt werden. Die Ausgaben für essentielle Güter wie Wasser, Gas, Strom, Busse und Züge seien sämtlich durch die Decke gegangen, während die Chefs nach wie vor hohe Gehälter und Boni kassierten, während einfache Mitarbeiter nicht genug Geld zum Leben haben. Umfragen ergeben Unterstützungswerte bis zu 80 Prozent für die Forderungen der Initiative.

Andy Burnham formuliert hier, worum es beim „Levelling-up“ auch gehen könnte. Gäbe man den Arbeitnehmern einen gerechten Anteil des von ihnen erwirtschafteten Wohlstands, dann ginge es sicher schon vielen Regionen im Königreich ganz von alleine besser – ohne große Zusatzausgaben, die den Staat belasten würden. Dave Ward von der Kommunikations-Gewerkschaft hält Lohnerhöhungen für finanzierbar. Daneben fordert „Enough is Enough!“ die Kappung der Energierechnungen, ein Ende der Lebensmittel-Armut und ein anständiges Zuhause für alle Briten – ohne zu sagen, wie man dies erreichen will. Hinter diesen weitgehenden Forderungen verbirgt sich ein ganzes Wirtschaftssystem, das aus dem Gleichgewicht geraten ist.

Die Politik kann sich nicht mehr wegducken

Boris Johnson sendet an seinen letzten Tagen im Amt des Premierministers – erwartbar – positive Signale zur wirtschaftlichen Situation des Landes: Die Energiepreise seien zwar wegen des Ukraine-Kriegs gestiegen, aber das Land besitze die „finanzielle Kraft“, um diese Krise durchzustehen. Daneben gibt es nur Sonnenseiten in der Abschlussbilanz Johnsons: Großbritannien ziehe derzeit mehr Wagniskapital-Investitionen an als China und beherberge mehr milliardenschwere Start-up-Unternehmen als Frankreich, Deutschland und Israel zusammen. Außerdem sei die Arbeitslosigkeit mit 3,8 Prozent auf einem Rekordtief.

Es gibt sicher viele Wege, der Krise der Lebenshaltungskosten zu begegnen. Wegducken kann sich die Politik aber wohl kaum. Die erwartete nächste Premierministerin Liz Truss gerät schon jetzt in die Kritik, weil sie Maßnahmen gegen die Kostenkrise erst bei Amtsantritt verkünden will. Bisher hat sie Hilfen für Sozialhilfeempfänger in Aussicht gestellt, aber keine für Gering- und Mittelverdiener. Laut BBC steht Truss solchen generellen Energiezuschüssen ablehnend gegenüber. Eher könnte sie die Mehrwertsteuer (derzeit 20 Prozent) um fünf Prozentpunkte senken und die Einkommensgrenzen erhöhen, ab denen höhere Steuersätze greifen.

Die Senkung der Mehrwertsteuer wäre der größte Schritt nach unten, den je eine Regierung machte. Das deutet die Entschlossenheit von Truss an. Ihre Lage ist dabei komplex: Sie hat zwar die Mehrheit in Umfragen unter konservativen Parteimitgliedern, aber sowohl in der konservativen Fraktion im Unterhaus als auch bei allen Bürgern ist sie weniger populär. Mit ihrem Amtsantritt wird sie also aller Voraussicht nach in den Kampfmodus eintreten müssen. Die Gewerkschaften und „Enough is Enough!“ dürften ihren Teil zu diesem Szenario beitragen, das erweisen wird, wie gut die britischen Konservativen mittelfristig zu den im Dezember 2019 eroberten Wahlkreisen im Norden des Landes, der einstigen „Red Wall“, passen.

Anzeige