Tichys Einblick
Westminster ist nicht Weimar

Ein Nachtrag zur Diskussion über den Brexit

Die jüngsten Vorwürfe des Generalkronanwaltes Geoffrey Cox an die Opposition, ihre Haltung sei heuchlerisch, sie wolle nur um jeden Preis den Brexit verhindern, scheue aber das Urteil der Wähler über ein solches Verhalten, sind nicht aus der Luft gegriffen.

Peter Summers/Getty Images

Wenn man nach den Gründen für das Votum einer Mehrheit der britischen Wähler zugunsten eines Austritts aus der EU sucht, dann wird man sie auch in der Unterschiedlichkeit der politischen Kulturen zwischen den kontinentaleuropäischen Kernländern der EU und Großbritannien finden; es herrscht oft eine Atmosphäre des gegenseitigen Unverständnisses, weil man die Wirklichkeit ganz anders wahrnimmt. Die EU entstand ursprünglich, als sie noch EWG hieß, aus einem Bündnis der Verlierer des Zweiten Weltkrieges, für die die Erinnerung an die 1930er und frühen 1940er Jahre eine traumatische Qualität besaß. Das galt nicht nur für Deutschland, sondern auch für Frankreich, das offiziell zu den Siegermächten gehörte, aber unter der Erinnerung an den Zusammenbruch des Landes 1940 und an die Kollaboration litt. Es galt hingegen nicht für Großbritannien, das dem Ansturm Deutschlands standgehalten hatte, und dies zunächst fast allein. Dieser unterschiedliche Blick auf den II. Weltkrieg prägt die politischen Kulturen bis heute und offenbar auch den Blick der Wissenschaft auf die Krisen der Gegenwart.

In der FAZ war vor kurzem ein Beitrag zu lesen, der die gegenwärtige Krise in Großbritannien mit dem Untergang der Weimarer Republik in den Jahren 1929-33 verglich. Der Autor Andreas Wirsching ist ohne Zweifel ein renommierter Zeithistoriker und er ist sich natürlich bewusst, dass es in Großbritannien keine faschistische Massenbewegung gibt, wie seinerzeit in Deutschland. Er will aber wohl andeuten, dass Johnsons Versuch, ohne und gegen das Parlament den Brexit zu erzwingen, den Bemühungen der Präsidialkabinette der späten Weimarer Republik ähnelt, das Parlament mit Hilfe von Notverordnungen auszuschalten, was in der Konsequenz das Ende der Republik beschleunigte. Ihm ist sicherlich zuzustimmen, dass sich Großbritannien in der Tat mit einer tiefgreifenden Verfassungskrise konfrontiert sieht – darauf wurde an dieser Stelle ja auch bereits hingewiesen. Aber nicht jede Krise der repräsentativen Demokratie stellt gleich ein neues Weimar dar, oder führt, das ist ja dann doch die implizite, wenn auch nicht offen ausgesprochene Botschaft, potentiell in eine Gewaltherrschaft, wie es 1933 der Fall war.

Fürchten sich die Abgeordneten vor Neuwahlen wie Truthähne vor Weihnachten?

Wirsching verkennt, dass die gegenwärtige gegenseitige Blockade von Parlament und Regierung wesentlich auch dadurch bedingt ist, dass die Parlamentsmehrheit sich weigert, die Regierung durch ein Misstrauensvotum zu stürzen, was sie jederzeit könnte. Einerseits befürchtet man wohl zurecht, dass Johnson die wenigen Wochen bis zur dann (falls keine neue Regierung gebildet werden kann) notwendigen Wahl eines neuen Parlamentes nutzen könnte, um einen harten Brexit durch bloßes Nichtstun zum Faktum werden zu lassen, andererseits hat man aber auch Angst vor Neuwahlen, die Johnson durchaus gewinnen könnte. Von daher sind die jüngsten Vorwürfe des Generalkronanwaltes Geoffrey Cox an die Opposition, ihre Haltung sei heuchlerisch, man wolle nur um jeden Preis den Brexit verhindern, scheue aber das Urteil der Wähler über ein solches Verhalten, nicht aus der Luft gegriffen. Sicherlich, die Abgeordneten der Gegenseite mit Truthähnen zu vergleichen, die vor Weihnachten Angst hätten, weil sie dann geschlachtet würden (wörtlich sagte Cox: „Even these turkeys won’t be able to prevent Christmas“), ist wenig taktvoll, aber so völlig falsch lag Cox mit dieser Bemerkung vielleicht doch nicht.

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Im Übrigen waren bislang die liberaldemokratischen und unabhängigen Abgeordneten auch nicht bereit, eine Regierung Corbyn, die nach einem Misstrauensvotum an die Stelle der Regierung Johnson treten könnte, zu unterstützen. Um Johnson dennoch am Vollzug des Brexit zu hindern, hat man ein Gesetz verabschiedet (den sogenannten Benn-Act, benannt nach dem Abgeordneten Hilary Benn) der ihm befiehlt, einen Brief an die EU zu schreiben, der um eine Verlängerung der Austrittsfrist bittet. Das ist eine höchst ungewöhnliche Maßnahme, denn in einer Demokratie mit Gewaltenteilung ist es nicht Aufgabe des Parlamentes, der Exekutive einzelne Regierungshandlungen durch Gesetz vorzuschreiben, es wird damit ja dann selber zur Exekutive und die Regierung zu einem bloßen Verwaltungsorgan. Einen Präzedenzfall für dieses Vorgehen dürfte man jedenfalls in der jüngeren britischen Verfassungsgeschichte kaum finden. Es wird für die Regierung aber schwierig, diesen Eingriff des Parlamentes in den Ermessensspielraum der Exekutive abzuwehren, da der höchste Gerichtshof, der Supreme Court, den es übrigens erst seit 2009 gibt, offenbar stark mit der Opposition sympathisiert, anders ist die vollständige Aufhebung der jüngsten Vertagung des Parlamentes durch die Königin nicht zu erklären.
Das britische politische System war nie auf Kompromisse angelegt

Sicherlich war die Vertagung des Parlamentes um fünf Wochen ein politischer Trick, aber nicht jeder Trick ist in einer Demokratie illegal. Das Recht der Krone, das Parlament zu vertagen (Prorogation) ist durch kein einziges Gesetz näher geregelt. Um die Prorogation für illegal zu erklären, mussten die Richter im Grunde genommen auf eigene Faust Verfassungsprinzipien entwickeln, für die es in der bisherigen Rechtsprechung keine wirklichen Präzedenzfälle gibt, auch wenn man sich hier wie so oft, wenn es um richterliche Allmachtsansprüche geht, auf Sir Edward Coke (1552-1634), den bedeutendsten, aber auch bei weitem eitelsten und geltungssüchtigsten Juristen des frühen 17. Jahrhunderts berief. Der Supreme Court definierte sich damit selber zu einem Verfassungsgericht nach dem Muster von Karlsruhe um, ohne dass diese neue Rolle in Großbritannien irgendwie klarer definiert wäre, wie das in Deutschland ja im Rahmen des Grundgesetzes der Fall ist.

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Nun mögen das verfassungsrechtliche Einzelheiten sein, die das Gesamtbild einer tiefen Verfassungskrise nicht verändern. Wenn Wirsching freilich meint, die repräsentative Demokratie sei an sich schon auf Kompromisse angelegt, nicht auf einseitige Entscheidungen, wie sie in einem Referendum sich nur allzu leicht ergeben können, so muss man ihm doch widersprechen. Für Deutschland oder die Niederlande mag das, was er sagt, zutreffen, für England jedoch nicht. Als nach dem II. Weltkrieg die Labour-Regierung in den Wahlen eine Mehrheit im Parlament erlangte, kehrte sie mit ihrer sozialistischen Sozial- und Wirtschaftspolitik in wahrhaft revolutionärer Weise das Unterste zuoberst. Sicher, knapp 50 Prozent der Wähler hatten für Labour gestimmt, mehr aber eben auch nicht, und auf die politischen Präferenzen der übrigen 50 Prozent wurde in den folgenden Jahren sehr wenig Rücksicht genommen. Sehr viel anders sah es 1979, als Mrs. Thatcher mit nur rund 44 Prozent der Stimmen eine absolute Mehrheit der Sitze im Unterhaus gewann, und alles oder doch sehr vieles von dem rückgängig machte, was linke Regierungen nach 1945 geschaffen hatten, auch nicht aus. Wahlen kann man in England sogar mit nur 35 Prozent der Wählerstimmen gewinnen, wie es Blair für die Labour Party 2005 gelang. Dazu reicht es, dass die Gegner gespalten sind.

Zumindest bis vor ca. 10 Jahren dominierte in Großbritannien ein Zweiparteiensystem, das Koalitionen überflüssig machte und es dem Wahlgewinner gestattete, sein Programm zur Not ganz kompromisslos durchsetzen, von keinem Verfassungsgericht und keinem Bundesrat in seiner Macht beschränkt. Auf die vielleicht 55- 60 Prozent der Wähler gelegentlich Rücksicht zu nehmen, die für die Opposition gestimmt hatten, mag sich in ruhigen politischen Zeiten aus taktischen Gründen empfehlen, aber um zu regieren, ist es keineswegs notwendig.

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Das antagonistische englische Zweiparteiensystem hat die gegenwärtige Krise ohne Zweifel deutlich verschärft, und man kann mit Fug und Recht die Ansicht vertreten, dass es der heutigen Situation nicht mehr angemessen ist. Das gilt auch, weil die alten Gegensätze zwischen Rechts und Links jetzt stark durch den Konflikt zwischen einer liberalen gebildeten Elite, die den Nationalstaat weitgehend abgeschrieben hat, und einer weitaus weniger kosmopolitisch orientierten Wählerschaft vor allem außerhalb der Metropolen, die im Nationalstaat den einzigen Garanten von Demokratie und sozialer Absicherung sieht, überlagert wird, also durch den Konflikt zwischen „anywheres“ und „somewheres“ (David Goodhart). Aber neu ist der erbitterte Kampf zwischen Regierung und Opposition in Großbritannien nun eben gerade nicht, nur dass er bis vor einigen Jahren bei unklaren Mehrheitsverhältnissen im Parlament dadurch zur Entscheidung hätte gebracht werden können, dass die Regierung das Parlament einfach auflöste und Neuwahlen abhielt. Durch den fixed terms Parliament Act von 2011 hat die Regierung dieses Recht, das sich Johnson jetzt sicherlich sehnlichst zurückwünschen würde, verloren.

Im Rückblick war dieser Parliament Act ein schwerer Fehler, weil er die Gewichte zwischen Regierung und Parlament stark verschob, ohne dass daraus weitere verfassungsrechtliche Konsequenzen gezogen wurden. Überdies fehlt der ungeschriebenen englischen Verfassung ein neutraler Schiedsrichter, der in einer Regierungskrise oder bei einer schwierigen Regierungsbildung vermitteln könnte, wie es in Deutschland der Bundespräsident kann und gelegentlich auch tut, wenn auch nicht immer mit dem richtigen Instinkt. Auch die konstitutionellen Monarchen in anderen Ländern, man denke an Belgien, nehmen diese Aufgabe zum Teil wahr; in Großbritannien ist die Monarchie aber so vollständig depolitisiert, dass ein solches Eingreifen der Königin weitgehend undenkbar geworden ist.

Stellt all das eine schwere Verfassungskrise dar? Ja das tut es, aber es ist eben eine Verfassungskrise sui generis, denn es gibt in der westlichen Welt kein einziges anderes Land ohne geschriebene Verfassung, und auch sonst auf der Welt kaum. Die englische Neigung, das eigene Verfassungsgefüge, das auf einzelnen Gesetzen angefangen bei der Bill of Rights von 1689 und zahlreichen Konventionen beruht, immer nur stückweise zu verändern, ist vermutlich an ihr Ende gelangt. Käme es zu einer echten neuen Verfassungssetzung könnte das das Ende vieler Traditionen und am Ende auch der Monarchie selber bedeuten. Aber erst müsste man überhaupt ein Verfahren finden, um eine neue Verfassung zu legitimieren. Die letzten Versuche dieser Art sind in den 1650er Jahren nach wenigen Jahren bekanntlich spektakulär gescheitert.

Dennoch, mit Weimar hat all das wenig zu tun. Johnson ist weder ein Brüning noch gar ein potentieller faschistischer Diktator, wie manche in Deutschland vielleicht gerne glauben wollen, allenfalls ein Mann, der glaubt, ein zweiter Churchill zu sein, in Wirklichkeit aber vielleicht eher eine Art Lord North (der Premierminister der gegen die aufständischen Amerikaner ab 1776 einen Krieg führte und verlor) ist. Aber selbst darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

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