Tichys Einblick
Proteste in Polen

Die polnische Opposition auf dem Irrweg nach links 

PiS-Kritiker glauben, dass einige linke Protestkundgebungen die polnischen Konservativen aus den Ämtern und Regierungsbänken jagen werden. Dies wird jedoch nicht passieren, weil die überwältigende Mehrheit der Polen weiterhin hinter der Regierung steht.  

Demonstration gegen die polnische Regierung am 29. Januar in Warschau

IMAGO / Eastnews

Nachdem das polnische Verfassungsgericht das bisherige Abtreibungsgesetz für verfassungswidrig erklärte und das Urteil unlängst im Amtsblatt veröffentlichte, gab es in mehreren Großstädten überschaubare Proteste, denen hierzulande überproportionale Aufmerksamkeit zuteil wurde. Selbst die Tagesschau ließ es sich nicht nehmen, gleich nach einem Bericht über die beispiellose Brutalität russischer Polizisten einige passend gemachte Bilder erzürnter polnischer Frauen hinterherzuschicken. Alles wurde jedoch nicht gezeigt, wie zum Beispiel die Schilder mit vulgären und obszönen Aufschriften, die am Haus des Regierungsparteichefs Jarosław Kaczyński angebracht wurden, oder etwa das verwüstete Abgeordnetenbüro des stellvertretenden Ministerpräsidenten Jacek Sasin in Biała Podlaska. 

Die jüngsten Gewaltausbrüche der linksradikalen Szene sind in einen längeren Prozess eingebettet und insbesondere dort zu beobachten, wo die oppositionelle und derweil nach links driftende Bürgerplattform (PO) regiert. Ihr 20. Gründungsjubiläum im Januar beging die einst als „christdemokratisch“ gegründete Partei auffällig leise, was keineswegs nur an der Pandemie lag. Es ist schwer zu sagen, wann genau die Selbstverstümmelung der PO anfing. Als der frühere Parteichef und Premier Donald Tusk 2014 sein sinkendes Schiff gen Brüssel verließ, hatte die Räumung der eigenen Positionen jedenfalls schon längst begonnen. Enttäuscht sind heute vor allem diejenigen, die einst die PO mitbegründeten und inzwischen von den linken Antreibern aussortiert wurden. Einige von ihnen, wie beispielsweise Andrzej Olechowski oder Jan Rokita, erachten den jahrelang nach links frontbegradigenden Kurs ihrer Partei als ursächlich dafür, dass der heutige Vorsitzende Borys Budka mittlerweile nicht mehr um konservative Wählerstimmen buhlt, sondern im gemeinsamen Becken mit den Postkommunisten fischen muss. Der leidvolle Identitätsverlust und das folgenschwere Dilemma der ehemals „katholischen“ PO äußert sich vor allem darin, dass sich immer mehr enttäuschte Mitglieder von ihr abwenden. Der 42-jährige Budka, der nach Grzegorz Schetynas programmloser Slalomfahrt so etwas wie Aufbruchsstimmung erzeugen sollte, konnte den Richtungsstreit bislang nicht beilegen und musste bereits in den ersten Monaten seiner Amtszeit Federn lassen. 

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Es gibt noch weitere Gründe für die Bankrotterklärung der PO. Nachdem der Publizist Szymon Hołownia seine Bewegung „Polska 2050“ gegründet hat, die mit ihrem kunterbunten Programm die Mitte erobern will, droht der Bürgerplattform eine großflächige „innere Kündigung“. Doch auch die Freude über einen möglichen Triumphzug Hołownias kommt verfrüht, weil dieser keinerlei demoskopische Grundlage hat. Zumal sich dessen Gruppierung von der PO programmatisch kaum unterscheidet. Die eigentümliche Wandlung Hołownias von einem erzkatholischen Journalisten zum kirchenskeptischen Krawallmacher lässt sich ebenfalls nur mit politischem Opportunismus erklären.

Die strategische Lage der angezählten und nur noch am Tropf mitleidsvoller Sponsoren hängenden Bürgerplattform ist klar: Um die Konservativen aus den Ämtern und Regierungsbänken zu jagen, müsste sie bei den Parlamentswahlen im Jahr 2023 eine Koalition mit der postkommunistischen Linken und Polska 2050 eingehen, vorzugsweise auch noch mit der Bauernpartei PSL. Dass die letzten verbliebenen Anhänger des rechten PO-Flügels diesem seltsamen Plan zustimmen und sich von Jugendlichen mit Che Guevara-Shirts antreiben lassen, ist allerdings mehr als zweifelhaft. Und selbst dann würde dieser rot-grüne „Eiersalat“ nach aktuellen Umfragetrends immer noch hinter der PiS landen. Der polnische Wähler registriert nämlich ganz genau, dass im linken Spektrum keine Richtungsentscheidung mehr zu treffen ist.

Rein rechnerisch gibt es also derzeit keine politisch lebensfähige Alternative zu dem Angebot der Konservativen, zumal Kaczyński in den letzten Jahren auch einige traditionell „linke“ Themenfelder zu bedienen wusste und Versprechen einlöste, die sozialistische Parteien spätestens nach den Wahlen in den Papierkörben verschwinden ließen (wie z. B. Steuersenkungen oder die Einführung des Kindergeldes).  

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Deshalb kann Jarosław Kaczyński trotz der beispiellosen Hysterie einiger Abtreibungsbefürworter derzeit ruhig schlafen. Er ist schon viel zu lange im Geschäft, als dass er nicht wüsste, dass sich die Mehrheit seiner Landsleute mit ganz anderen Themen mobilisieren lässt. Pseudowissenschaftliche Ergüsse über „Gendersprache“ haben an der Weichsel keine Überlebenschance und eignen sich lediglich in einigen PO-Hochburgen als Katalysatoren für Karrieren. Die meisten Parvenüs aber, die sich in solchen linken Milieus einigeln und auf die Aufnahme ins etablierte Parteiensystem hoffen, verschwinden spätestens nach einigen Jahren im politischen Niemandsland. Dies gilt im übrigen auch für die gegenwärtigen „Frauenproteste“, die in den hiesigen Medien beinah den Rang der Nawalny-Demos einnehmen. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass sie in Polen keiner polizeilichen Eingriffe bedürfen, sondern von ganz allein verstummen.  

Die groteske Szenerie der jüngsten linken Protestkundgebungen ist nur ein kleines Puzzleteil einer großen polnischen Gesellschaft, wobei über die anderen hierzulande kaum geschrieben wird. Dabei reicht häufig nur ein Klick aus, um sich mit einem völlig anderen Bild vertraut zu machen. Da dieses Unterfangen indes an einigen Sprachbarrieren scheitern dürfte, sei hier noch einmal gesagt: Es gibt kein „völliges Abtreibungsverbot“ in Polen. Ganz abgesehen davon, dass das Abtreibungsgesetz ohnehin noch vom Präsidenten Andrzej Duda abgesegnet werden muss, der wiederum selbst eine Reihe von Lockerungen vorgeschlagen hat. Spätestens dann hat man erkannt, dass jene Frauen, die vor Kaczyńskis Haus mit anstößigen Transparenten und Hamas-ähnlichen Tüchern „Abtreibung ist OK“ oder „Wir bereiten Dir die Hölle“ skandieren und im Westen zu Heldinnen stilisiert werden, mitnichten mit dem Anspruch angetreten sind, die politische Mitte vertreten zu wollen. Für die meisten Polinnen bieten sie kein Identifikationspotential. Und auch die oppositionelle Bürgerplattform muss sich auf weitere Lernerlebnisse einstellen. Nur: Wird sie daraus auch die richtigen Schlüsse ziehen? Wohl kaum. Der konservative Zug ist abgefahren.   

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