Tichys Einblick
Griechenland bleibt gelassen

Der Schuss auf Frontex-Beamte war nicht die einzige türkische Provokation

Am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros und in der Ägäis zeigt sich, dass die Türkei ihre aggressive Taktik nicht gewandelt hat. Der griechische Außenminister Nikos Dendias sagte, dass sein Land sich nicht auf einen Negativwettbewerb einlassen werde.

Ozgun Tiran/Anadolu Agency via Getty Images

Man fragt sich, welche Befehle die türkischen Kräfte am Evros immer noch erhalten. Das lokale Nachrichtenportal Evros-News berichtete von einem Vorfall, der sich am Dienstagabend kurz nach 19 Uhr zugetragen hat. Es war noch hell, als zwei deutsche Frontex-Beamte zusammen mit einem griechischen Kollegen am Grenzfluss patrouillierten und ihnen ein türkisches Boot auffiel. Als die Grenzbeamten kontrollieren wollten, auf welcher Seite der Demarkationslinie sich das Boot befand, gerieten sie unter feindlichen Beschuss vom türkischen Ufer, wobei nicht klar ist, ob echte Munition oder Platzpatronen verwendet wurde. Die Grenzschützer suchten sogleich Deckung.

Anscheinend war es zunächst nur ein türkischer Soldat, der eine automatische Waffe bediente. Als er bemerkte, dass er beobachtet wurde, zeigte der Soldat den Mittelfinger und ging in sein Zelt. Das Verhältnis zwischen der Türkei und Frontex ist, nun ja, etwas »angespannt«, wie der Spiegel es nennt. Kurz darauf tauchten sechs andere Soldaten, sich gegenseitig ermunternd, auf und zielten auf die Gegenseite. Die europäischen Grenzschützer hielten die Stellung bis zum Ende ihrer Schicht und erstatteten nach ihrer Rückkehr ausführlich Bericht. Das griechische Bürgerschutzministerium und die Frontex-Zentrale in Warschau wurden informiert.

Der Spiegel zitiert aus dem internen Frontex-Bericht. Dort ist von mindestens einem Schuss die Rede, der sein Ziel verfehlt habe. Daneben hat auch das Bundesinnenministerium den Vorfall bestätigt. Keiner der Beamten sei verletzt worden, die »genauen Umstände« würden noch aufgeklärt. Deutschland hilft der EU-Grenzschutzagentur meist mit Bundespolizisten aus.

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Inzwischen hat der stellvertretende Migrationsminister Georgios Koumoutsakos mit Frontex-Chef Fabrice Leggeri über eine Verstärkung der EU-Kräfte gesprochen. Zwar waren beim jüngsten Vorfall keine Migranten präsent, aber der Grund für das Verhalten der türkischen Soldaten kann – wenn es sich nicht um kindischen Trotz handelt – nur darin liegen, das Feld für kommende Grenzübertritte zu bereiten. Schon bald, wenn es etwas wärmer wird und die Pandemie halbwegs überstanden ist, könnte der Druck auf die griechischen Grenzen wieder zunehmen. Oder will Erdogan mehr?
Die »Blaue Heimat« fällt aus

Laut dem griechischen Verteidigungsministerium ist inzwischen die türkische Flotte, wie auch das Heer, stark durch die neue Viruserkrankung beeinträchtigt. Angeblich sind bis zu 70 Prozent der Matrosen betroffen. Mitte April wurde klar, dass deshalb auch eine lange geplante und vielbeworbene Operation »Blaue Heimat« ausfällt, mit der die Türken ihre Präsenz im östlichen Mittelmeer zeigen und Ansprüche auf ein weiträumiges Gebiet zwischen Kreta und Zypern anmelden wollten. Es geht dort wohl auch um Erdgas. Mitte April hatte es noch ein großes Luftmanöver über dem umstrittenen Raum gegeben, den sich die Türken durch ein Memorandum mit einer der libyschen Bürgerkriegsparteien sichern wollen.

Nun hat Ankara für die Dauer der Pandemie ein Manöver-Moratorium für die Ägäis vorgeschlagen. Die Athener Regierung sieht die Voraussetzungen dafür nicht als gegeben an und verlangt zunächst konkrete Zugeständnisse der Türkei. Wie Beobachter feststellen, zeigt der türkische Präsident Freundlichkeit nur in Momenten der Schwäche – und häufig noch nicht einmal dann. So gehen die Provokationen nicht nur am Evros, sondern auch in der Ägäis munter weiter. Türkische Schiffe versuchen Migrantenboote durch ihre Bugwellen auf die griechischen Inseln zuzutreiben, anstatt sie – wie von der griechischen Küstenwache gefordert – wieder in türkische Gewässer zu geleiten.

Türkische Überflüge in der Ägäis und die griechische Antwort

Daneben setzen sich auch die türkischen Überflüge über umstrittene, zum Teil eindeutig griechische Teile der Ägäis fort. Beides ist eine Provokation. Zuletzt traf es die Inselgruppe der Inousses nordwestlich von Chios, deren Hauptinsel besiedelt ist. Bewunderung ruft inzwischen die Engelsgeduld hervor, mit der die Griechen auf derlei reagieren. Der griechische Außenminister Nikos Dendias sagte, dass sein Land sich nicht auf einen Negativwettbewerb einlassen werde: Wenn die Türkei ihren Ton oder ihre Taten erneut verschärft, sei das zunächst einmal ihre Sache. Doch Premierminister Kyriakos Mitsotakis denkt bereits über eine passende Antwort auf die Überflüge nach. Zugleich will man dem Nachbarland aber keinen Vorwand liefern, um seine inneren Probleme »in die Ägäis zu exportieren«.

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Keinen Anreiz für Migration nach Griechenland setzen
Auf dem kürzlich als Live-Schaltung durchgeführten EU-Gipfel konnte Mitsotakis erneut keine gemeinsame Kritik an den türkischen Provokationen erwirken. Verurteilt wurde lediglich der Einsatz eines türkischen Bohrschiffes in zypriotischen Gewässern. Inzwischen haben die Griechen demonstrativ ein Großmanöver dutzender Flugzeuge über ihren Inseln durchgeführt. Daneben gab es offenbar auch Manöver mit echter Munition auf verschiedenen Inseln an der kleinasiatischen Küste, die wiederum die türkische Presse in Aufruhr versetzten. Aber auch diese Manöver wurden erst nötig, seit die Sicherheit der Inseln nicht mehr gewährleistet ist. Es sind Antworten auf die von der Türkei betriebene illegale Migration, die den Fortbestand der griechischen Inseln gefährdet.

Unterdessen hat der türkische Rüstungskonzern Aselsan zehn neue Militärfahrzeuge des Typs Ateş (zu deutsch »Feuer, Fieber, Begeisterung«) fertiggestellt, die zu drei Vierteln aus EU-Geldern finanziert wurden. Die Gefährte wurden sogleich an die Grenzen zu Bulgarien und Griechenland geschickt, wo es nun 57 Fahrzeuge des Typs gibt. Übrigens wurden auch 82 Cobra-II-Fahrzeuge, von denen die Türken ebenfalls einige am Evros eingesetzt haben, von der EU mitfinanziert.

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