Tichys Einblick
Coronavirus

China handelt radikal anders als beim Sars-Erreger 2002 / 2003

Mussten sich die chinesischen Behörden beim Ausbruch des Sars-Erregers 2002 / 2003 vorwerfen lassen, allzu lange das Ausmaß der Erkrankung verschwiegen und dadurch wirksame Bekämpfungsmaßnahmen blockiert zu haben, bemühen sie sich offenbar derzeit um das genaue Gegenteil.

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Das neue Coronavirus 2019-nCoV breitet sich weiter aus. Wie die chinesischen Gesundheitsbehörden mitteilen, haben sich etwa 1.300 Personen mit dem Virus infiziert. Danach seien bereits 41 Patienten verstorben. Die chinesische Führung geht radikal vor. Sie versucht, die gesamte Provinz Hubei mit der Millionenstadt Wuhan mit aller Macht abzuschotten und die Mobilität der Leute drastisch einzuschränken. 56 Millionen sollen zur Zeit von den Quarantänemaßnahmen betroffen sein.

Passagiere, die per Zug, Flugzeug und Bus reisen, werden mithilfe von Infrarotthermometern daraufhin untersucht, ob sie Fieber haben. Schöpfen die Behörden auch nur den geringsten Verdacht, müssen die Betroffenen sofort in eine medizinische Einrichtung gebracht werden – unabhängig, ob sie lediglich eine normale Erkältung oder eben das Coronavirus haben.

Mussten sich die chinesischen Behörden beim Ausbruch des Sars-Erregers 2002 / 2003 vorwerfen lassen, allzu lange das Ausmaß der Erkrankung verschwiegen und dadurch wirksame Bekämpfungsmaßnahmen blockiert zu haben, bemühen sie sich offenbar derzeit um das genaue Gegenteil. Eine genaue Einschätzung ist schwierig, nicht zuletzt dürften heftige Kämpfe um die richtige Linie geführt werden.

Nach einer Meldung des chinesischen Staatsfernsehens hat das Politbüro unter Leitung von Staats- und Parteichef Xi Jinping eine leitende Arbeitsgruppe eingesetzt, die das Vorgehen auf höchster Ebene regeln soll. Er warnte sogar öffentlich vor einer »beschleunigten Ausbreitung« und vor einer »schwierigen« Lage.

In mindestens zehn Millionenstädten steht der öffentliche Verkehr still, die Straßen sind leer und Zugverbindungen unterbrochen. Wuhan ist ein wichtiger Eisenbahnknoten, der eine Reihe großer Städte mit Hochgeschwindigkeitszügen verbindet.

Autos dürfen nur mit Ausnahmegenehmigungen fahren. Die Leute sollen ihre Städte nicht verlassen. Sogar nach Peking kommt man nicht mehr aus der Provinz. Wie die Volkszeitung, das kommunistische Parteiorgan, berichtete, werden Überland-Busverbindungen von Sonntag an gestoppt.

Wie sinnvoll solche drastischen Abwehrmaßnahmen sind, darüber gehen die Meinungen der Experten auseinander. Erkrankte, wissen Epidemiologen, sollen zwar so konsequent wie möglich isoliert werden, dass Viren möglichst wenig Chancen haben, andere Menschen zu befallen.

Doch die Weltgesundheitsorganisation WHO bekennt sich weder zur einen noch zur anderen Strategie. »China denkt, dass die ergriffenen Maßnahmen angemessen sind, um die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Wir hoffen, dass die Maßnahme nicht nur effektiv sind, sondern auch von kurzer Dauer«, heißt es bei der WHO mehrdeutig.

Nach ersten Angaben soll die Ausbreitungsrate dieses neuen Coronavirus zwischen 1,4 und 2,5 liegen, ein Infizierter könne durchschnittlich nicht mehr als 2,6 Personen anstecken. Bei Masern wird diese Zahl mit etwa 20 angegeben.

Nach Hochrechnungen von Wissenschaftlern des MRC Centre for Global Infectious Disease Analysis in London, die mögliche Verläufe von Krankheitsausbrüchen mit mathematischen Modellen zu prognostizieren versuchen, und der WHO sollen etwa 4.000 Personen mäßige bis schwere Infektion aufweisen. Dies bedeutet, schreiben die Wissenschaftler, dass die Kontrollmaßnahmen weit über 60 Prozent der Übertragungswege blockieren müssen, um den Ausbruch wirksam zu bekämpfen.

Doch sind solche Angaben naturgemäß mit Vorsicht zu genießen, der Erreger ist neu, die Datenlage noch dünn und vieles an ihm noch unbekannt. Kein Wunder, dass sehr unterschiedliche Zahlen auftauchen. Ebenso ist der Test, mit dem das Coronavirus 2019-nCoV nachgewiesen werden kann, neu, die Erfahrung damit gering.

Aufgrund der Erfahrungen mit SARS und MERS-CoV, so die Londoner Arbeitgsgruppe weiter, sei es wahrscheinlich, dass die Anzahl der durch einen Fall von 2019-nCoV verursachten Sekundärfälle sehr unterschiedlich ist – viele Fälle verursachen keine Sekundärinfektionen, einige wenige verursachen viele.

Ob die Infektionsrate derzeit mit der gleichen Geschwindigkeit weitergehe, hänge von der Wirksamkeit der derzeit in China durchgeführten Kontrollmaßnahmen und dem Ausmaß ab, in dem die Bevölkerung der betroffenen Gebiete sich entsprechend risikoarm verhalte. Da es keine antiviralen Medikamente oder Impfstoffe gebe, beruhe die Kontrolle auf der raschen Erkennung und Isolierung symptomatischer Fälle.

Es sei derzeit unklar, erklären sie weiter, ob dieser Ausbruch innerhalb Chinas eingedämmt werden könne. Unsicherheiten bestünden unter anderem darin, wie schwer die Infektion jeweils ausfällt und der ungeklärten Frage, wie aggressiv das Virus tatsächlich ist und ob schwach Infizierte auch das Virus übertragen können.

Ob die von den Wissenschaftlern modellierte Zahl von 250.000 Infizierten, die in Wuhan in zwei Wochen erreicht sein könnte, stimmt, weiß niemand. Die Wissenschaftler in London mussten mangels anderer Informationen unter anderem annehmen, dass sich Ausbreitungsgeschwindigkeit nicht ändert. Doch das ist unwahrscheinlich, denn nicht jeder Kranke ist gleich ansteckend. Den Medizinern bleibt derzeit nichts anderes übrig, als Infizierte möglichst rasch zu identifizieren und in Quarantäne zu stecken, um die Ansteckungskette zu unterbrechen.

Kein Zweifel, dass mit den rigorosen Maßnahmen auch politische Botschaften verbunden sind: Wir können handeln und haben die schwierige Lage im Griff, will die chinesische Regierung der Bevölkerung vermitteln. Auch weltweit soll ihr Vorgehen Handlungsfähigkeit beweisen. Praktisch unvorstellbar sind solche rigide Aktionen in der westlichen Welt.

Vor einem politischen Hintergrund zu werten ist die Entscheidung Amerikas, Botschaftsangehörige und US-Bürger mit einem gecharterten Flugzeug aus Wuhan zu evakuieren. Etwa 1.000 amerikanische Bürger sollen sich in Wuhan aufhalten. Solche Evakuierungsaktionen seien in einigen Teilen der Welt nach Naturkatastrophen und politischen Unruhen zur Routine geworden, meldet das Wall Street Journal, wobei es sich bei dieser Evakuierung als die erste seit Jahrzehnten aus China handeln soll. Ein Grund war die Sorge, dass Infizierte oder Verdächtige in Quarantäne geraten und keine konsularische Unterstützung erhalten könnten. Die USA haben China gegenüber zugesagt, die Verantwortung für die Risiken der Evakuierung auch potenziell infizierter Personen zu tragen. Dass die Entscheidung nicht ohne Einverständnis des amerikanischen Präsidenten Donald Trump getroffen wurde, darf als sicher gelten.

In Wuhan sitzt eine Reihe großer US-Unternehmen, darunter der Autohersteller General Motors Co. Dort befindet sich auch der Sitz der staatlichen chinesischen Dongfeng Motor Corp., die Joint-Venture-Partner der japanischen Autohersteller Nissan und Honda, sowie der französischen Renault und des PSA-Konzerns Peugeot. Viele ausländische Mitarbeiter dieser Unternehmen sowie deren Zulieferer haben ihren Wohnsitz in Wuhan. Anheuser-Busch braut sein Bier in der Stadt.
Andere südostasiatische Nationen überlegen sich ebenfalls eine Evakuierung ihrer Staatsbürger.

Den Notstand für die Sonderverwaltungszone Hongkong hat die dortige Regierungschefin Carrie Lam ausgerufen, alle Verkehrsverbindungen zwischen Hongkong und Wuhan sind eingestellt, Schulen bis zum 17. Februar geschlossen und die Feierlichkeiten für das chinesische Neujahrsfest gestrichen.

Epidemiologen fragen, ob die Abschottungen nicht zu spät kommen. Denn die ersten Meldungen über das Auftreten dieses mysteriösen neuen Coronavirus stammen von Ende Dezember. Allerdings mussten Wissenschaftler erst einmal herausfinden, um was es sich handelt, als plötzlich mehr und mehr von einer geheimnisvollen Lungenentzündung befallen wurden.

Man sollte sich allerdings nicht von großen Zahlen erschrecken lassen. Wie viele Infizierte es tatsächlich sind, wissen wohl nicht einmal Gesundheitsexperten und Behörden genau. Chinesische Ärzte haben schon von über 90.000 Erkrankten geredet. Weltweit erkranken jährlich 10 Millionen an der Tuberkulose. Das Dengue-Fieber befällt weltweit bis zu 600 Millionen. Gefährlich und tödlich ist die Influenza, gemeinhin als Grippe bekannt. Bis zu 500.000 sterben jedes Jahr in einer Grippesaison. Eine besondere Form dieser Grippe, die sogenannte Spanische Grippe brach 1918 aus. Ihr erlagen ungefähr 50 Millionen Menschen. Diese Sonderform der Grippe verschwand zwei Jahre darauf genauso wieder auf unbekannte Weise, wie sie über die Menschheit herfiel.

Doch heute stehen Mediziner solchen Ausbrüchen mit ganz anderen Mitteln als vor hundert Jahren gegenüber. Dank moderner Bio- und Gentechnik sind Wissenschaftler in der Lage, relativ rasch das Genom zu entschlüsseln und mögliche Antworten zu finden. Das Immunsystem des Menschen bleibt dabei allerdings immer die wichtigste Waffe. Impfstoffe können nicht wie Antibiotika eingedrungene Erreger abtöten, sondern lediglich eine Immunantwort des Organismus auslösen und versuchen, die Vermehrung des Virus zu verhindern. Doch jede Virusart wiederum vermehrt sich auf völlig verschiedene Weise; Sars und das neue Virus 2019-nCoV unterscheiden sich ziemlich, obwohl beide zum Stamm der Coronaviren gehören.
Impfstoffe müssen deshalb immer wieder angepasst werden. Sie dürfen jedoch auch nicht das Leben der Zellen des Organismus behindern. Ein Rennen zwischen Hase und Igel für die Forscher.

Mindestens ein Jahr dauert es, bis klar ist, ob ein Mittel wirkt und sicher ist. Normalerweise dauert die Entwicklung eines neuen Medikamentes meist zehn Jahre und länger. Ohne die sogenannte »rote Gentechnik« würde auch das nicht funktionieren. Dagegen haben Gentechnikgegner bisher nicht sehr laut opponiert, obwohl dabei vom Prinzip her mit ähnlichen Methoden gearbeitet wird wie bei der grünen Gentechnik.

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