Tichys Einblick
Johnson ist wieder da

Brexit-Verhandlungen: Das EU-Ultimatum

Da sich die Verhandlungen hinziehen und immer noch kein greifbares Ergebnis hervorgebracht haben, rüstet sich die britische Regierung erneut für einen harten No-deal-Austritt.

Boris Johnson

imago images / i Images

Der alte Johnson ist wieder da. Der britische Premier beginnt ein neues Tauziehen mit Brüssel. Diesmal geht es um ein Handels- und Zollabkommen zwischen Großbritannien und der EU. Mit einigen kontroversen Bewegungen versucht Johnson, den Gesprächen noch einmal Schwung zu verleihen, bevor am Jahresende die Brexit-Frist definitiv abläuft. Vielleicht könnte auch eine alte ifo-Strategie bei der Lösung des Rätsels helfen.

Er heißt Mr. Frost, Mr. David Frost – der Name wirkt wie ein passend gewähltes Pseudonym. Denn der Brexit-Beauftragte von Boris Johnson ist dazu verurteilt, frostige Kälte in den Verhandlungsrunden mit der scheinbar übermächtigen EU zu verbreiten. Unlängst sprach Frost von »bedeutsamen Bereichen«, für die es noch keine Lösung gebe, sowie vielen anderen, an denen noch viele Details durchzuarbeiten seien: »Die Zeit ist für beide Seiten knapp.« Das war sozusagen eine Erwiderung auf Michel Barniers alten Hinweis: »The clock is ticking.«

Die wichtigsten Streitpunkte zwischen London und Brüssel bleiben zum einen die Übernahme von EU-Regeln, die die Briten aber nicht akzeptieren wollen, zum anderen die Fischereirechte rund um die Insel, die sich die Meeresanrainer in der EU auch weiterhin sichern wollen. Die Zweizahl der Punkte lässt daran denken, dass es einfach sein könnte: Du gibst mir dies, dann gebe ich dir das. Tit for tat, einmal ins Positive gewendet. So einfach scheint es aber nicht zu sein. Erst jüngst hat der EU Chefunterhändler Michel Barnier brüsk und etwas rätselhaft erklärt, dass die britischen Gewässer schon souverän sein sollen, nicht aber die Fische darin. Das löste mehr als Staunen bei den Briten aus.

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Da sich die Verhandlungen also hinziehen und immer noch kein greifbares Ergebnis hervorgebracht haben, rüstet sich die britische Regierung erneut für einen harten No-deal-Austritt. Fünf Orte im Königreich sollen befähigt werden, Grenzkontrollen durchzuführen und Güter über die eventuell kommende harte Zollgrenze zu bringen. Dabei wollen die Briten eigentlich ein Abkommen mit fast gar keinen Zöllen oder Kontingenten erreichen. Doch die EU gebärdet sich als schwierige Braut, die zwar die Ehe will, aber nur zu ihren Bedingungen.

Barnier lehnt auch Frosts Vorschlag einer Asyl-Vereinbarung ab, die es Großbritannien erlauben würde, die derzeit stark zunehmenden Kanalüberquerer zurück nach Frankreich zu schicken. Die Briten sollen stattdessen individuelle Abkommen mit jedem der Mitgliedsstaaten abschließen. Dabei scheint mit Frankreich sogar eine Lösung möglich. Schon jetzt besteht ja ein bilaterales Abkommen zwischen den beiden Nachbarn – nicht, dass es allzu gut funktionierte. Mehr als 4.000 Personen haben den Kanal in diesem Jahr bereits erfolgreich überquert. Doch gegen ein EU-UK-Abkommen haben die Grenzstaaten Malta, Italien und Griechenland ihr Veto eingelegt. »EU as usual«, könnten sich die Briten sagen.

Johnson stellt der EU ein Ultimatum

Doch nun macht Boris Johnson wieder einmal Druck. Für Johnson hat die »Endphase der Verhandlungen« begonnen über einen Freihandelsvertrag zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Innerhalb von fünf Wochen will der Premier ein Abkommen mit der EU verhandelt haben. Diese Frist erklärte er mit dem EU-Spitzentreffen, das am 15. Oktober terminiert ist: »Wenn wir uns nicht bis dahin einigen können, dann sehe ich kein Freihandelsabkommen zwischen uns, wir sollten das beide akzeptieren und uns anderem zuwenden.« Bis dahin will Johnson offen für eine Einigung bleiben, aber keineswegs die Rechte eines freien Großbritannien aufgeben.

Denn auch wenn bis zum 15. Oktober kein Abschluss gelänge, wäre das angeblich kein Problem für Großbritannien. Nach Johnson kann das Vereinigte Königreich auch ohne einen Freihandelsvertrag mit der EU überleben und sogar von seinem Austritt profitieren. Der Weg zu Freihandelsverträgen mit anderen Staaten wäre dann endlich offen. Mit der EU könnte man genauso Handel treiben, wie Australien es jetzt schon tut. Denn – Johnson hat das schon in der Vergangenheit hervorgehoben – auch Down-under besitzt keinen Freihandelsvertrag mit der EU. Kümmern müsste man sich allenfalls um einige disruptive Effekte, vor allem der Warenverkehr mit LKWs und der Flugverkehr zwischen Kontinent und Insel wären zu regeln.

Unterdessen kam – ungeplant – ein Gesetzesplan der Regierung ans Tageslicht, mit dem man das Austrittsabkommen vom letzten Jahr teilweise aufheben will. Dabei geht es speziell um die Regelungen für Nordirland, wo man damals Grenzkontrollen vermeiden wollte. Der britische Teil der Insel sollte daher auch über 2021 hinaus verschiedene EU-Regeln befolgen. Nordirland käme damit sozusagen die Funktion einer Schleuse zwischen der Union und dem Königreich zu.

Umweltminister George Eustice sprach nun lieber von einer »konstruktiven« Überschreibung des Nordirland-Protokolls. Das Karfreitagsabkommen, das vor 22 Jahren zwischen Irland, Großbritannien und den Parteien Nordirlands geschlossen wurde, will man auf jeden Fall schützen. Die Regierung in Belfast sieht das freilich weniger rosig und fürchtet wirtschaftlichen Schaden und Unfrieden im Land.

Für den EU-Bevollmächtigten Barnier ist das Nordirland-Protokoll »kritisch für die Integrität des Binnenmarktes«. Das Regierungsleck, das sich kurz vor der offiziellen Veröffentlichung des Planes öffnete, könnte insofern mit zu einer Strategie gehören, mit der man Brüssel mitteilen will: Wir können auch ohne euch. Und wir werden sogar. 

Mit Hard-but-smart-Strategie zum Brexit-Erfolg?

Vielleicht lohnt aber auch ein kurzer Blick zurück auf Gedanken aus dem Februar 2019. Damals empfahl das Münchner ifo-Institut der Londoner Regierung eine Hard-but-smart-Strategie. Die in einem Papier von Gabriel Felbermayer vorgeschlagene Strategie sähe vor, dass Großbritannien seine Zölle für die ganze Welt auf Null senkt. So könnten EU-Waren auch ohne Handelsabkommen zollfrei in britischen Supermarktregalen landen, das gleiche gälte dann sogar für Waren aus aller Welt. Die Verbraucherpreise in Großbritannien würden also sinken. Der EU stünde es an sich frei, ähnliche Maßnahmen zu ergreifen – was aber etwas weniger wahrscheinlich sein dürfte.

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Daneben gibt es natürlich die Möglichkeit, die Brexit-Verluste durch Handelsabkommen mit anderen Staaten rund um die Welt auszugleichen. Diese Global-Britain-Strategie würde die Kosten des Austritts für die Insel laut der ifo-Studie halbieren. Die Brexit-Verluste werden dabei als prozentualer Konsumverlust eines Durchschnittsbriten ausgedrückt, also als jener Anteil am Warenkorb, den sich ein Brite dann weniger leisten könnte. Beim Hard Brexit ohne Abfederung läge dieser Verlust bei 2,8 Prozent, bei einer Global-Britain-Strategie nur bei 1,4 Prozent. Die EU-Bürger hätten in beiden Fällen durchschnittlich 0,8 Prozent Wohlstandsverlust einzustecken.

Mit einem Kanada-Deal könnten sowohl Großbritannien als auch die EU-Länder ihre Verluste nochmals drücken. Doch auch diese Strategie ist etwas verlustreicher für Großbritannen (–0,9%) als für die Kontinentalunion (–0,2%). 

Das Bild würde sich erst dann umkehren, wenn London die vorgeschlagene Hard-but-smart-Strategie führe. Dann hätte es mit –0,5% den geringsten aller projizierten Verluste, während die EU mit –0,6% einen höheren Wohlstandsverlust erlitte. Auch Deutschland wäre immer noch mit –0,48% dabei (im Falle von einem Hard-only-Brexit: –0,72%). Der verbleibende Schaden von einem halben Prozent für Großbritannien wäre den EU-Zollbarrieren geschuldet, die für diesen Fall sicher erwartet werden. Das wichtigste Ergebnis der Strategie wäre aber nach Felbermayer, dass die EU nicht mehr am längeren Hebel säße. Die Verhandlungssituation wäre ausgeglichen, eine Einigung würde also wahrscheinlicher.

Johnson: »Wir werden kräftig wachsen«

Felbermayer hielt es 2019 für realistisch, dass seine Hard-but-smart-Strategie letzten Endes von Großbritannien angewandt würde. Anderenfalls müsste der britische Premier seinen Wählern nach dem Austritt sehr viel höhere Preise schmackhaft machen. Milchprodukte könnten sich um 20% verteuern, Rindfleisch um 70%.

Die alternative Lösung zu einem Austritt mit Freihandelsvertrag, die Felbermayer Anfang 2019 vorschlug, steht heute wohl kaum noch zur Wahl. Denn Johnson wird kaum in eine »Europäische Zollvereinigung«, wie sie Felbermayer vorschwebte, eintreten wollen.

Allerdings könnte der Freihandelsvertrag, den er sich von der EU wünscht, am Ende genau diesen Charakter einer reinen Zolleinigung (oder Keine-Zölle-Einigung) tragen. Alles andere könnte Großbritannien in eigener Regie entscheiden. Johnson malte nochmals das Bild eines freien Britannien aus: »Wir werden die volle Kontrolle über unsere Gesetze, unsere Regeln und unsere Gewässer haben. Wir werden die Freiheit haben, Handelsabkommen mit jedem Land in der Welt abzuschließen. Und als Folge werden wir kräftig wachsen.«

Die Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen mit Kanada hat Johnson sogar schon beginnen lassen. Bis zum Jahresende könnte man einen Abschluss haben und damit einen sanften Übergang in die Post-Brexit-Zeit gewährleisten.

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