Tichys Einblick
Brexit-Beschluss

Johnson führt die Briten aus der Union

Dank der neuen Mehrheit ist Boris Johnson endlich Herr des Verfahrens im britischen Unterhaus geworden. Das zeigt auch seine neue Queen’s Speech. Großbritannien erhält damit die Chance, eine liberale Wirtschaftspolitik zu Ende zu denken – und das vor den Toren der EU.

imago Images/Xinhua

Nach monatelangem Hin und Her unter zwei Premierministern und vielen lebhaften Diskussionen ist das Brexit-Abkommen nun auch vom frischgewählten Unterhaus beschlossen worden. Die Mehrheit fiel, dem jüngsten Wahlergebnis gemäß, deutlich aus; auch einige Labour-Abgeordnete stimmten mit Ja, einige mehr enthielten sich. Die dritte Lesung folgt im Januar, und es gibt keinen Zweifel, dass auch sie mit einer Mehrheit für den Gesetzesentwurf enden wird. Damit ist der Brexit beschlossene Sache. Bis zum 31. Januar 2020 wollen die Briten aus der EU ausgetreten sein.

Die Spannung bei den (auch internationalen) Beobachtern sinkt damit aber kaum. Denn erst nach dem offiziellen Austritt kann London sein endgültiges Verhältnis zur Europäischen Union klären. Boris Johnson hat sich dafür erneut eine Frist gesetzt. Bis zum 31. Januar 2021 will er einen Freihandelsvertrag mit der EU und möglicherweise mit anderen Partnern ausgehandelt haben und damit den zweiten und finalen Austrittsschritt machen. Eine wichtige Forderung der Hardcore-Brexiteers war, dass Großbritannien nicht langfristig durch eine Zollunion oder ähnliche Vorvereinbarungen mit der EU gebunden sein sollte. Eben das hat Johnson im Oktober verhandelt und damit den Raum für ein individuelles Abkommen mit der EU geöffnet. Im Unterhaus bekräftigte der Premier nun, dass es in der zu verhandelnden Vereinbarung keinerlei Übernahme von EU-Gesetzen geben soll. Die Briten nannte er »Herren ihres eigenen Geschicks« und sprach von der beinahe erreichten »Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs«.

Aber ist Boris Johnson nun wirklich ein »Brexit-Rambo«, wie uns die deutsche Presse erneut weismachen will, weil er möglichst rasch einen Freihandelsvertrag mit der EU verhandeln will? Oder weil er dank seinem Erdrutschsieg bei den Wahlen die klassisch starke Rolle der Exekutive im britischen System wieder herstellt? Das glaubt wohl wirklich nur Stefanie Bolzen in der »Welt«. Unterdessen stellt sich Stefan Cornelius in der »Süddeutschen« die Frage: »Wie kann […] Großbritannien an Europa gebunden werden, ohne dass die restliche Union vom separatistischen Virus angesteckt wird?« Und wieder tut man so, als ließen sich nicht auch internationale Verträge für einzelne Wirtschaftsbereiche schließen.

»Cherry picking« – zu deutsch eine liberale Handelspolitik

Hinter dem Vorwurf des »cherry picking« stand immer schon die Absicht, den Austritt am besten ganz zu verhindern oder, wenn nicht, so weit zu verdünnnen, dass erneut eine starke Abhängigkeit entstünde. Das Vorbild eines freieren Miteinanders existiert dagegen schon: Die Schweiz ist zahlreiche Handelsabmachungen mit der EU eingegangen, ohne sich global an EU-Recht zu binden. Das Neue der Situationen besteht wohl darin, dass mit Großbritannien eigentlich kein David vor dem Goliath EU steht, sondern es als eines der bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Länder Europas von gleich zu gleich mit den Große der Union verhandeln kann, vielleicht sogar den einen gegen die andere ausspielen könnte.

Die neue Deadline könnte darauf hindeuten, dass Johnson ein eher einfaches Handelsabkommen abschließen will, das nur wenige Bereiche vereinheitlicht. Dennoch dürfte es noch einige hitzige Diskussionen um Fischereizonen und Steuersätze geben. Als leichteste Übung gilt dabei der produzierende Sektor, in dem die Briten seit Zeiten schwächeln; hier haben die Deutschen und auch einige andere EU-Partner am ehesten zu verlieren. Der wunde Punkt der Briten bleibt der Dienstleistungssektor. Doch haben sie noch einige Trümpfe in der inneren wie äußeren Sicherheit, also der militärischen wie auch der Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten. Auch hier gibt es Länder mit mehr oder weniger Technognosie.

Die »radikalste Queen’s Speech seit einer Generation«

Die Vorliebe des Premiers für die nationale Autonomie und eine liberale Wirtschaftspolitik könnte sich langfristig zu einem Plan »Singapur an der Themse« auswachsen – also zu einem weitgehend deregulierten Britannien, das es den Europäern mit niedrigen Steuersätzen und anderem mehr schwermacht (ähnlich wie jetzt schon das EU-Mitglied Irland darin abweicht). Zugleich hat es sich Johnson zum Ziel gesetzt, den Slogan des »One-Nation-Toryism« endlich mit Leben zu füllen. Das sollen Investitionen in Infrastruktur, Forschung und Entwicklung in der Breite des Landes erreichen. Die Globalisierung, so ein Minister aus Johnsons Kabinett, soll so für alle Teile des Landes funktionieren.

Johnson selbst nannte die von ihm geschriebene Queen’s Speech dieser Woche »die radikalste seit einer Generation«. Darin forderte er die Briten auf, ganz neu zu denken und ihren Platz in der Welt neu zu bedenken. Das ist es, was eigentlich auch für Deutschland und die EU anstünde – so sie denn nach innen diskurs- und nach außen handlungsfähig wären. Beides scheint dank einer fußlahmen Bundesregierung wie angesichts der gewohnten europäischen Disparatheit nicht der Fall zu sein. Großbritannien kann es nun besser haben, wenn Johnson Wort hält, mutig eine neue Strategie für sein Land finden und diese auch im Lande selbst durchsetzen kann. Die klare Tory-Mehrheit spricht dafür, dass das gelingen kann.

Den Staats- und Regierungschefs der EU kann man nur zurufen: Hört die Signale! Auch wenn die Briten immer ein eigensinniges Völkchen waren, ist der Brexit nicht nur für das Vereinigte Königreich von Bedeutung. Die Skepsis gegenüber dem Supranationalismus um jeden Preis wächst – auf osteuropäischen Regierungsbänken ebenso wie im noch unartikuliertem Protest auf der Straße. Es wird Zeit, das Subsidiaritätsgebot wieder ernst zu nehmen und Probleme möglichst niederschwellig und pragmatisch zu lösen, statt verzweifelt die Gunst der großen Zahl zu suchen und eine permanente »Ode an die Freude« in drei Gremien zu inszenieren.

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