Tichys Einblick
Schutz der EU-Seegrenzen

Bootsunglück vor Pylos: Frontex-Chef erzählte andere Version

In Frontex gibt es einzelne Stimmen für einen Rückzug aus Griechenland. Doch einer hat noch nicht von der „atomaren Option“ gesprochen, im Gegenteil. Frontex-Direktor Hans Leijtens wies auf die Schwierigkeiten der Seenotrettung auf dem Mittelmeer hin.

Von der griechischen Küstenwache veröffentlichtes Foto, Fischereiboot mit Migranten südwestlich der Peloponnes gekentert, 14. Juni 2023

IMAGO / ANE Edition

Nach einem Bootsunglück vor der Küste der Peloponnes ist erneut Bewegung in die Griechenland-Diskussion gekommen. Das Land steht erneut am Pranger für seinen Schutz der Seegrenzen, obwohl diese Politik in den jüngsten Wahlen geradezu triumphal bestätigt wurde. Ja, man kann sagen, dass diese Politik mehr als zehn Prozent der Griechen nicht weit genug geht, die ihr Kreuz bei einer der aufsteigenden Parteien zur Rechten der Nea Dimokratia (ND) gemacht haben. Daneben kann man daran erinnern, dass es die Mitte-rechts-Partei ND ist, die diesem Grenzschutz-Kurs eine bei 40 Prozent der Stimmen weit in die Mitte ausstrahlende Form gegeben hat. Sogar linke Parteien wie Pasok und die Kommunisten stehen einer illegalen Zuwanderung ins eigene Land kritisch gegenüber. Das macht noch einmal knapp 20 Prozent der Wählerstimmen aus.

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Laut einem Bericht der „Welt am Sonntag“ erwägt nun aber die EU-Grenzschutzagentur Frontex, ihre Mission in Griechenland zu beenden. Den Hintergrund für diese Spekulationen bildet zum einen die langanhaltenden Diskussion um Zurückweisungen (Pushbacks) an den griechischen Seegrenzen, zum anderen ein neuerer Vorfall mit zahlreichen Toten, mit dem auch die griechische Küstenwache zu tun haben soll.

Am 14. Juni waren hunderte illegaler Migranten in internationalen Gewässern westlich von Griechenland ertrunken. Das Asyl- und Migrationsministerium informierte am selben Tag über das Unglück, das sich 47 Seemeilen (87 km) vor Pylos an der Peloponnes-Küste zutrug. Nur 104 Bootsinsassen überlebten, meist aus Syrien, Ägypten, Pakistan, Afghanistan: „Der tragische Schiffbruch macht einmal mehr deutlich, dass die internationalen Schlepperringe, die das Leben von Migranten gefährden, zerschlagen werden müssen“, so das griechische Ministerium, dessen Leitung in diesen Tagen gewechselt hat.

Ein Todesboot seit seiner Abfahrt

Ein griechisches Marineschiff konnte 78 Leichen aufsammeln. In den meisten Presseberichten wird aber von mindestens 400 Todesopfern ausgegangen. Andere sprechen von mehr als 600. Gestartet war das Boot im ostlibyschen Tobruk, die Überfahrt kostete je nach Quelle 4.000 bis 8.000 Dollar. Laut einem Überlebenden starben viele schon während der Fahrt aus Mangel an Essen und Trinken. Das bestätigen weitere Berichte. Angeblich, so berichteten die Überlebenden den Behörden, wären kurz nach der Abfahrt in Libyen Motorprobleme aufgetreten, und viele der Insassen hätten zurückkehren wollen. Doch die anwesenden Schleuser hätten sie nicht erhört. Das Fischerboot war außerdem überladen.

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Das Fischerboot war insofern ein Todesboot schon seit seiner Abfahrt. Laut griechischen Pressemeldungen verlangten die Bootsführer Essen und Trinken von anderen Schiffen, wollten aber nicht in Griechenland an Land gehen, sondern weiter nach Italien reisen. Inzwischen hat die griechische Regierung auch von Uneinigkeiten auf dem Boot berichtet: Die Syrer wollten demnach in Griechenland an Land gehen, weil sie dort auf Asyl hofften. Andere Nationalitäten wollten unbedingt nach Italien weiterreisen, um es – so darf man mutmaßen – bis nach Deutschland oder ein vergleichbares Land zu schaffen. Die griechischen Behörden haben neun Ägypter der Einschleusung beschuldigt. In der Tat gäbe es in Griechenland wohl wenig Verständnis für die Aufnahme von ägyptischen „Flüchtlingen“, in deren Land bekanntlich kein Krieg herrscht.

Doch 16 Überlebende behaupten nun laut einem Bericht der Welt am Sonntag, dass griechische Küstenschützer ihr Boot absichtlich zum Kentern gebracht hätten. Es sind sämtlich junge Männer, mit Spuren von Sonnenbrand im Gesicht, wie die Kathimerini berichtet. Laut dem Frontex-Menschenrechtsbeauftragten Jonas Grimheden geht es um „strafrechtlich relevante Vorwürfe“, nicht nur um eine „Nichtachtung von Menschenrechten“. Frontex hat das Recht, seine Missionen abzubrechen, wenn es Bedenken wegen „schwerwiegender Verstöße gegen Grundrechte“ oder internationale Verpflichtungen hat. Bis jetzt hat der neue Agenturchef, der Niederländer Hans Leijtens, diese Karte nicht gezogen. Sie wird innerhalb der Agentur als „atomare Option“ bezeichnet.

Grimheden ist für die „atomare Option“

Grimheden ist für eine Beendigung der Frontex-Mission, weil Griechenland für seine Rechtsbrüche bestraft werden müsse. Die Frontex-Agentur zeigt erneut ihr anderes, vielleicht eigentliches Gesicht. Es ist keine Grenzschutzagentur, sondern eine Agentur zur Kontrolle von Grenzschützern, eine Grenzschutz-Kontroll-Agentur. Und so ist nicht ganz klar, welchen Nutzen ein EU-Land überhaupt aus der Anwesenheit der Agentur-Mitarbeiter ziehen kann.

Frontex-Chef Leijtens hat in einem Brief zwar Aufklärung über zwei Vorfälle im April gefordert, erwähnt das Unglück vor Pylos aber mit keinem Wort. Direkt nach dem Geschehen hatte der niederländische Polizeigeneral Leijtens der Süddeutschen Zeitung (hier vom Tagesspiegel zusammengefasst) gesagt: „Ich wünschte, ich hätte den Einfluss, das Sterben zu stoppen. Aber wir können keine Wunder vollbringen. Wir überwachen ein Meer, das doppelt so groß ist wie Frankreich, Spanien und Italien zusammen.“ Es sei sehr schwer, jedem zu helfen, der in Not ist. Die Menschen seien „bereit, große Gefahren auf sich zu nehmen“, um unbemerkt auf die EU-Seite des Mittelmeers zu gelangen.

Ja, dies und ein gehöriges Maß an Chuzpe gehören dazu, diese Bootsfahrt zu unternehmen. Videos, die freilich nicht sicher datierbar sind, zeigen immer wieder junge Männer, die frohen Mutes durch die Wogen segeln oder fahren und dabei ihre Pässe zerreißen.

Zahlen die Migranten nicht – wird ihr Boot zum Sinken gebracht

Zu dem Fall in Pylos sagt Leijtens zudem, es sei schrecklich, „dass wir ein Schiff sahen, das wenig später unterging“, und weiter: „Wir sind keine Roboter, wir sind Menschen. Alle bei uns fragen sich: Haben wir etwas übersehen, das auf einen Notfall hindeutete? Wir haben die Bilder immer wieder angesehen und kommen zu dem gleichen Ergebnis. In dem Moment des Entdeckens gab es keinen akuten Notfall.“

Und noch etwas Interessantes sagte Leijtens: Die Schlepper achten natürlich auch nicht auf die Sicherheit der von ihnen verwendeten Boote. Sie greifen aber sogar zum Mittel der Erpressung auf hoher See, das bedeute: „Wir schleppen euch nach Lampedusa, das kostet extra. Wenn die Migranten nicht zahlen, werden sie umkreist, bis das Boot sinkt.“ Außerdem sei die Verwendung kleiner Boote ohnehin „unmenschlich und supergefährlich“.

Der Frontex-Chef erzählt also gegenüber einem deutschen Medium eine alternative Version des Unglücks vor Pylos, bei der die griechische Küstenwache unschuldig ist, die kriminellen Schlepper aber umso schuldiger werden. Alles das unmittelbar nach dem Bootsunglück vom 14. Juni. Das ist immerhin ein interessantes Detail, das man sich merken kann. Die Aussagen der Überlebenden sind demgegenüber im Zweifel weniger belastbar, unter anderem weil sie durch Trauma und psychische Krisen nicht mehr objektiv sind.

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