Tichys Einblick
Kapitulation des Westens

20 Jahre nach 9/11: Und am Ende sollten doch die Terroristen gewinnen

Am 11. September 2001 wurde Amerika getroffen - doch die Reaktion folgte schnell und entschlossen. Das machte die Toten nicht ungeschehen, aber es setzte ein Symbol. Dieses Symbol ist vor wenigen Tagen in Kabul zerfallen. Die Zeit wurde einfach zurückgedreht.

IMAGO / ZUMA Wire

Heute jähren sich die islamischen Terroranschläge des 11. Septembers 2001 zum zwanzigsten Mal. Die Attacke auf das Herz der Vereinigten Staaten ist nach wie vor der tödlichste Terroranschlag in der Geschichte der Menschheit mit fast 3.000 Toten. Es war eine Kriegserklärung an den Westen, der die Gefahr des Islamismus aus dem nahen Osten zu lange unterschätzt hat.

Mit 9/11 begann auch der Krieg gegen den Terror. Egal, was man vom Irak-Krieg halten mag, um den 11. September drehte er sich nicht. Anders aber in Afghanistan, hier ging es weder um Öl, noch um Macht, noch um einen bösen Präsidenten Bush. Es ging um den Ruf der freien Welt.
Aber auch hier hat sich unsere Wahrnehmung völlig verschoben. Denn der Westen kam nicht dorthin, wegen fehlender Mädchenschulen oder freier Wahlen, sondern weil dort die Hintermänner der Anschläge Unterschlupf fanden.

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US-Präsident Bush formulierte die Mission neun Tage nach den Anschlägen vor dem versammelten US-Kongress so: „Von diesem Tag an wird jede Nation, die weiterhin Terrorismus hegt oder unterstützt, von den Vereinigten Staaten als feindliches Regime angesehen. Unsere Nation musste kennenlernen: Wir sind nicht immun gegen Angriffe. Wir werden Abwehrmaßnahmen gegen den Terrorismus ergreifen, um Amerikaner zu schützen.“

Im Namen der USA stellte er dann folgende Forderungen an die Taliban:
„Liefern Sie den US-Behörden alle Anführer von Al-Qaida aus, die sich in Ihrem Land verstecken. […] Schließen Sie sofort und dauerhaft jedes Terroristen-Trainingslager in Afghanistan. […] Diese Forderungen sind nicht verhandelbar oder diskutierbar. Die Taliban müssen sofort handeln. Sie werden entweder die Terroristen ausliefern oder ihr Schicksal teilen.“

Die Taliban entschlossen sich für letzteres und weigerten sich, Bin Laden auszuliefern.
Bush hatte ganz offen klar gemacht, was nun bevorstand: „Unsere Reaktion beinhaltet weit mehr als sofortige Vergeltungsmaßnahmen und vereinzelte Militärschläge. Amerikaner sollten nicht eine Schlacht erwarten, sondern eine lange Kampagne, wie wir sie noch nie gesehen haben. Es kann dramatische Militärschläge beinhalten, die im Fernsehen sichtbar sind, und verdeckte Operationen, die selbst bei Erfolg geheim bleiben.“ Der Krieg gegen den Terror hatte begonnen.

Kein Land der Welt muss seine Feinde unbeschadet davonkommen lassen, nur weil sie sich außerhalb der Landesgrenzen in entlegenen Bergregionen unter dem Schutz eines mittelalterlichen Regimes verstecken. Die Taliban-Herrschaft in Afghanistan war nach wenigen Wochen beendet – die USA und der Westen hatten sich entschlossen, nicht still zuzuschauen, wie Terroristen tausende ihrer Bürger abschlachteten. Es war eine starke Antwort, die die Anschläge nicht wettmachen konnte aber immerhin unmissverständlich klar machte, dass die Terroristen ihre Ziele nicht erreichen konnten und die USA nicht tatenlos zusehen werden, wenn ihre Bürger angegriffen werden.

Aber was bleibt davon?

Osama Bin Laden ist tot, genauso wie viele seiner Mitstreiter, die die ein oder andere Begegnung mit US-Drohnen erleben durften oder nun vor US-Militärgerichten stehen. Das ist die Erfolgsseite.

Der Aufstieg des selbsternannten „Islamischen Staates“ im Irak und die Rückkehr der Taliban, das ist die andere Seite. Nach dem desaströsen US-Abzug aus Afghanistan, sind die Taliban heute stärker als je zuvor. Anders als Ende der 90er Jahre kontrollieren sie jetzt aber das gesamte Land, dürfen auf internationale Anerkennung ihres Regimes durch Länder wie China, Pakistan oder Iran hoffen und sind dank dem Chaos mit einigen Stücken modernster US-Waffen ausgestattet. Der Abzug war eine bewusste, politische Entscheidung – die Taliban haben die westlichen Truppen nicht besiegt, der Westen hat schlicht aufgegeben. Bidens ursprünglich angesetztes Abzugsdatum, den heutigen, symbolträchtigen 11. September, macht das Bild nur noch viel schlimmer.

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Seit Jahren schon ist es in den USA populär, für ein Ende der „endlosen Kriege“ einzutreten. Dabei waren zu Bidens Amtsantritt nach der vorherigen Politik von Trump nur noch 2.500 US-Soldaten im Land stationiert, verglichen mit zeitweise mehr als 80.000 zu Hochzeiten des Einsatzes. In mehr als einem Jahr gab es keinen einzigen toten US-Soldaten, obwohl die USA Luftschläge gegen die Taliban fortsetzten, nachdem diese sich nicht an die Bestimmungen des Friedensabkommens in Doha hielten. Es war zum Ende hin also ein Einsatz mit vergleichsweise geringem Aufwand zur Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte, vor allem aus der Luft. Aber das hat politisch nicht mehr gepasst und so gab es die nächsten toten US-Soldaten bei dem Chaos rund um die Saigon-ähnliche Flucht aus Kabul, als die US-Regierung die Absicherung des Flughafens ihren Feinden, den Taliban überließ.

Es offenbarte sich die Naivität der westlichen Führung. Von Biden bis Maas hörte man immer wieder die gleichen Sprüche: Die Taliban hätten sich geändert, würden ihren Terrorfreunden von Al-Qaida abschwören und könnten nun doch eine „inklusive“ Regierung mit Frauen bilden.

Die harte Realität sieht jetzt ganz anders aus: Der Taliban Vize-Premier, der Berichten zufolge de facto als Anführer fungiert, hatte Terroranschläge auf westliche Einrichtungen in Afghanistan organisiert. Mehrere Taliban-Kabinettsmitglieder waren einst als Terroristen in Guantanamo inhaftiert, bis sie in einem Gefangenenaustausch freikamen. Der neue Taliban-Innenminister und der Flüchtlingsminister werden beide mit mehreren Millionen Dollar Lösegeld als internationale Terroristen gesucht, weil sie Teil des mit Al-Qaida verbundenen Haqqani-Netzwerks sind. Und die erhofften Frauen in der Taliban-Regierung sind natürlich auch nirgends zu finden. So sieht die „Inklusivität“ also aus: Die einzigen, die einbezogen wurden, sind Terroristen.

In Amerika ist das Thema 9/11 weitaus präsenter als in Europa. Nicht wenige kennen jemanden, der Verwandte oder Bekannte hatte, die den Anschlägen zum Opfer fielen. Der blutige Angriff ist für immer in das nationale Gedächtnis der USA eingebrannt. Viele junge Amerikaner meldeten sich nach den Anschlägen freiwillig für den Krieg, den islamistische Terroristen gerade erklärt hatten. Hunderte von ihnen starben. Nicht wenige derer, die zurückkehrten aus Afghanistan und anderswo, dürften sich heute nach den Bildern aus Kabul fragen: Wofür das alles?

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Denn auch im Krieg gegen den Terror gilt am Ende: Nur weil eine Seite für sich entscheidet, den Krieg zu „beenden“, heißt es nicht, dass der Krieg auch gewonnen ist. Welche Strategie nun in Afghanistan die richtige gewesen wäre, bleibt umstritten, aber klar ist auch: Das, was in den letzten Wochen geschah, war nicht alternativlos. Man ist einfach davon gelaufen und so konnte ein neuer islamistisch-militanter Gottesstaat am Hindukusch entstehen. Was für eine Bedeutung so ein als Rückzugsgebiet zur Terrorplanung hat, weiß man aus der jüngeren Geschichte.

20 Jahre nach 9/11 drehen sich die Uhren zurück – zurück in in die Tage nach dem Anschlag. Die Menschen sind tot, das World-Trade-Center zerstört – aber die Taliban herrschen munter weiter über Afghanistan, so, als hätte der Westen nie reagiert. Das ist nicht nur eine geopolitische Katastrophe, es ist die Rückkehr eines tiefen Schmerzes für die Seele Amerikas und ein fatales Symbol für die Feinde des Westens. Joe Biden wird damit in die Geschichte eingehen. Der Präsident, der Osama Bin Laden einen finalen Triumph schenkte.

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