Tichys Einblick
RUNDES JUBILÄUM

30 Jahre deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag – und viele Fragen offen

Die deutsch-polnische Freundschaft sei eine einzige Erfolgsgeschichte, meint Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Dies stimmt nicht ganz, auch wenn die wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder heute besser sind als je zuvor.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Staatsbesuch bei seinem polnischen Amtskollegen Andrzej Duda

Vor dreißig Jahren wurde in Bonn der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag unterzeichnet. Bei seinem offiziellen Besuch in Warschau würdigte der deutsche Präsident Steinmeier das gegenseitige Verhältnis als eine mustergültige „Erfolgsgeschichte“. Auch Polens Staatschef Andrzej Duda betonte, der Vertrag sei ein „historischer Meilenstein“ in der Beziehungsgeschichte beider Länder. Nun sind solche Jubiläen gemeinhin von einem dicken diplomatischen Zuckerguss überzogen, der kaum Platz für eine kritische Betrachtung zulässt.

Und das Imperium hat ein Problem
Polen und Ungarn unterwerfen sich nicht
Trotz der feierlichen Stimmung entgingen auch dem Bundespräsidenten keineswegs „gewisse Unstimmigkeiten“, die zuletzt die friedfertige Haltung der Regierenden in Berlin und Warschau auf die Probe gestellt hätten. Man wolle sich dennoch in Zukunft „zuhören und umeinander bemühen“, heißt es. „Das wichtigste Gut der Partnerschaft ist neben dem gewachsenen Vertrauen die wache Neugier aufeinander sowie der Versuch, den anderen zu verstehen“, so Frank-Walter Steinmeier. Kann man sich dieser lobenswerten Aufforderung widersetzen? Natürlich nicht. Viele Polen hören schon seit Jahren sehr genau zu, was der frühere SPD-Politiker zwischen den runden Jahrestagen und abseits des diplomatischen Parketts sagt. Und wenn sie – wie z. B. im Februar 2021 – hinhören und trotzdem nicht verstehen können, wenn das deutsche Staatsoberhaupt die Fertigstellung des umstrittenen Pipeline-Projekts Nord Stream 2 mit einer „historischen Wiedergutmachung“ gegenüber Russland begründet, dann liegt es sicherlich nicht nur an sprachlichen Barrieren.

Derlei Jahrestage sollten ohnehin nicht nur als Anlass herhalten, ausschließlich die (überaus respektablen!) Verdienste jener Personen hervorzuheben, die sich seit Jahren um einen regsamen deutsch-polnischen Austausch bemühen. Man darf sie natürlich keinesfalls ignorieren. Und dennoch lohnt es vielleicht einmal nachzufragen, ob beispielsweise die polnische Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig über jenen Status verfügt, den die Deutschen in der Republik Polen bereits seit Jahren genießen. Ob die Polen sich an der Spree eines vergleichbar ausgeprägten institutionellen Zugangs zu ihrer Muttersprache erfreuen, wie es für die deutsche Minorität an der Weichsel inzwischen selbstverständlich ist. Selbstredend ist die deutsch-polnische Nachbarschaftsgeschichte gleichfalls voller „Lichtblicke“. Nur: Es könnten noch weitaus mehr werden, wenn wir bestimmte Interessengegensätze überwinden. Auf rein wirtschaftlicher Ebene könnte es indessen kaum besser laufen.

VETO GEGEN DEN EU-HAUSHALT
Polen und Ungarn erneut im Visier der Brüsseler Bürokraten
Polen ist mittlerweile der fünftgrößte Handelspartner Deutschlands – hinter China, den Niederlanden, den USA, Frankreich und erstmals vor Italien. Das Handelsvolumen erreichte im Jahr 2019 einen Rekordwert von über 120 Milliarden Euro. In den ersten vier Monaten des Jahres 2021 wuchs der deutsche Handel mit Polen um ein Fünftel. Das osteuropäische Land lag als viertwichtigster Importpartner Deutschlands nur knapp hinter den USA. Die bilaterale Handelsbilanz wies im Jahr 2020 einen deutschen Überschuss von rund acht Milliarden Euro auf. Polen importierte im genannten Zeitraum deutsche Waren im Wert von beinahe 65 Milliarden Euro und exportierte Waren im Wert von 58,2 Milliarden Euro nach Deutschland.

In deutschen Geschäften finden wir bereits eine Vielzahl von polnischen Produkte, die für ausgezeichnete Qualität stehen. In zahlreichen wirtschaftlichen Fragen könnten die beiden Nachbarländer gemeinsam in Europa eine Führungsrolle übernehmen. Es ist zu erwarten, dass Polen auch nach der Corona-Krise ein konjunktureller Stabilisator bleibt, ist es für deutsche Produzenten doch nachweislich zu einem der wichtigsten Glieder in ihrer globalen Produktionskette geworden. Die Analysen der Bundesbank lassen keinerlei Zweifel aufkommen: Im Jahr 2019 beliefen sich die deutschen Direktinvestitionen in Polen auf knapp 36 Milliarden Euro. Internationale Organisationen wie die Weltbank weisen auf eine spürbare Verbesserung des dortigen Geschäftsklimas hin. Als positiv werden die gute Ausbildung der Fachkräfte, die Verfügbarkeit von Zulieferern, die Produktivität und Motivation der Arbeitnehmer sowie die Zahlungsdisziplin genannt.

Bleibt folglich zu hoffen, dass nach den vielen Sonntagsreden und feierlichen Deklarationen ohne Verbindlichkeit künftig auch in weiteren Bereichen differenzierte Einstellungen und Problemlösungskonzepte entwickelt werden. Einige diplomatische Schwalben machen zwar noch keinen politischen Sommer, aber einiges scheint bereits auf den Weg gebracht worden zu sein. Andrzej Duda und Frank-Walter Steinmeier haben zugesichert, weiterhin die Unterstützung der jeweiligen Minderheiten voranzutreiben. So hat der Bundespräsident etwa versprochen, den Polnisch-Unterricht in Deutschland mit einem Sonderfonds zu fördern und eine Sanierung des „Polnischen Hauses“ in Bochum in Aussicht gestellt, das bereits in der Zwischenkriegszeit den in der Weimarer Republik lebenden Polen wichtige Dienste leistete. Ebenso das geplante Denkmal für die polnischen Opfer des Nationalsozialismus in Berlin sei in der Phase der Realisierung.


Wojciech Osiński ist Deutschland-Korrespondent des Polnischen Rundfunks

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