Tichys Einblick
Zähe Kontroverse

Will Bundesregierung Kinder von Impfgegnern zwangsweise impfen lassen?

Was hat es auf sich mit dieser schriller werdenden Debatte rund ums Impfen, wenn neuerdings schon Kindergärten solche Kinder ausschließen, die nicht umfangreich freiwillig schutzgeimpft wurden?

© Joe Raedle/Getty Images

Die Bundesregierung prüft aktuell die Einführung einer Impfpflicht gegen Masern für Kinder. Grund soll eine drohende Masernwelle in mehreren Regionen Deutschlands sein. Bestätigt wurde der „Prüffall“ von SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Die FDP mahnt die Regierung aus der Opposition heraus sogar zur Eile, wenn ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzende Michael Theurer ebenfalls gegenüber RND zum Angriff auf Impfgegner blies: „Seine Kinder nicht impfen zu lassen, ist verantwortungslos gegenüber dem Wohl des eigenen Kindes und auch gegenüber Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht selbst geimpft werden können. So werden Leben gefährdet.“ Mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wird hier wohl zu rechnen sein, der hatte nämlich schon 2015 in Richtung Impfskeptiker gesagt: „Verweigerer sind egoistisch.“

Vertreter aus Politik und Leitmedien gefallen sich zeitgleich darin, Eltern, die kritisch mit dem Thema Impfen umgehen, scharf zu kritisieren. Ausnahmsweise trifft es hier übrigens einmal nicht Leute mit eher konservativen Ansichten, denn Impfgegner kommen mehrheitlich aus der linksintellektuellen Ecke, mal von gewissen Schnittmengen hinüber zu Konservativen abgesehen, einer partiellen Querfront also, die es traditionell im Bio-Sektor schon immer gab.

Was hat es also auf sich mit dieser schriller werdenden Debatte rund ums Impfen, wenn neuerdings schon Kindergärten solche Kinder ausschließen, die nicht umfangreich freiwillig schutzgeimpft wurden?

Wer heute als Impfgegner durch die Welt läuft, der riskiert mindestens, als geistig minderbemittelt oder als grob fahrlässig Handelnder behandelt zu werden. Als Krimineller gar. Entsprechend kompliziert ist es geworden, sich mit diesem Thema auf eine Weise auseinanderzusetzen, dass beide Seiten Gehör finden.

Jeder der Kinder hat, kennt diese Zuwendungen der Pharmaindustrie vom Kreissaal bis über die Kinderuntersuchungshefte U1-U9. So bekommt das Neugeborene gleich nach der Geburt eine satte Dosis Vitamin-K-Tropfen. Nein, keine Impfung, aber eine Prophylaxe, die, ebenso wie eine Reihe von Schutzimpfungen, in bestimmten Kreisen durchaus nicht unumstritten ist, wenn beispielsweise im Forum einer Heilpraktiker- und Therapeutenschule zum Thema Vitamin-K für Neugeborene diskutiert wird:

„Welchen Schaden kann eine Vitamin-K-Gabe verursachen bzw. verhindern? Dies muss man als Mutter selber abwägen, wie eben auch bei Impfungen.“

Interessanterweise ist auch Dr. Friedrich P. Graf ein Gegner der Gabe von Vitamin-K, Graf gilt als so etwas, wie ein Guru für Impfgegner. Zur Vitamin-K-Gabe schreibt er: „Dabei kann diese Maßnahme dem Neugeborenen die erste Lebenswoche (z.B. durch ansteigende Gelbsucht) verübeln und die Stillbeziehung empfindlich und oft anhaltend stören.“ Schlimmer noch, Graf erwähnt angebliche Hinweise, „dass diese gegenüber dem natürlichen Bedarf ungefähr 1000-fache Überdosierung von Vitamin K an der Entwicklung bösartiger (Leber-)Tumore beteiligt ist.“

Nun ist Graf nicht per Se ein Vitamin-K-Gegner, er findet es sogar erfreulich, wenn es heute „Erkenntnisse über Schädigungsmöglichkeiten“ gibt, was ihm missfällt, ist die pauschale Prophylaxe „in übertriebener Weise“, was immer das bedeuten mag und was immer ihm nun weniger übertrieben erscheint. Nicht nur Graf, auch eine Reihe anderer Protagonisten wenden sich gegen diese konzentrierte Vitamin-K-Gabe gleich nach der Geburt, so beispielsweise auch eine „Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland“, die etwa empfiehlt: „Viele Eltern in anthroposophischen Praxen und Kliniken haben sich seit Jahrzehnten für eine kontinuierliche, niedriger dosierte Prophylaxe über 12 Wochen entschieden.“

Wäre das ein Kompromiss? Und ist also die konzentrierte einmalige Gabe auch eine Form der Bequemlichkeit, damit die aufwendigere Gabe in kleineren Dosen über einen längeren Zeitraum entfällt? Kann eventuell schon die Mutter über eine spezielle Ernährung den Vitamin-K-Gehalt der Muttermilch steuern? In dem Zusammenhang wäre es dann allerdings sinnvoll, zu ermitteln, wie sehr diese Form der natürlichen Prophylaxe beim Baby angeschlagen hat. Oder ist das nur eine weitere unnötige belastende Untersuchung? Fragen über Fragen an die werdenden Eltern und die begleitenden Mediziner.

Vom Vitamin K zum Impfen, Eltern kennen das: Die kritischen Stimmen sind nicht zu überhören, das schlechte Gewissen auf beiden Seiten der natürliche Begleiter. Viele Eltern wählen deshalb bereits eine Mischform aus beiden: Es wird geimpft, aber selektiv und nicht gegen alles und später, als vorgesehen.

Besagter Dr. Graf vertreibt Bücher gegen das Impfen, die er folgendermaßen einleitet:

„Ohne Impfungen lebt es sich heute besser! Nur wenige trauen sich, auf sämtliche Impfungen zu verzichten. So „erfolgreich“ war und ist die Angstkampagne, damit jeder sich gefallen lasse, was schließlich nur krank macht. (…) Der Mut zu den Alternativen ist schließlich ein wichtiger Teil des Weges, die Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft gut zu bewältigen.“

Nun brauchen insbesondere impfende Eltern ein dickes Fell, sich gegen solche „Feigheitsvorwürfe“ zu immunisieren. In Zeiten, wo schon die konventionelle Mohrrübe im Babybrei die Mutter zur Giftmischerin stempelt, wird es schwer, sich gegen solche Anwürfe abzugrenzen, frei nach dem Motto: Es könnte ja doch etwas dran sein. Fragen Sie einmal junge Eltern in der Nachbarschaft,  was sie im Brei haben, Sie werden erstaunt sein, wie überproportional hier Bio-Gemüse Verwendung findet, dann, wenn diese Nahrungsgaben noch selbst gefertigt und nicht aus dem Gläschen kommen. Die bekannteste Babygläschenmarke wirbt explizit mit einem Bio-Siegel.

Klar ist auch: Wer diese Debatte sucht, der begibt sich in Gefahr, der gerät zwischen die Fronten, der bekommt schon Gegenwind, wenn er nur versucht, die Sachlage einigermaßen zu umreissen, ohne sich dabei sofort zu positionieren.

Versuchen wir es trotzdem einmal: Es gibt, je nach Krankheiten gegen die geimpft werden soll, Lebend- und die Totimpfstoffe. Die vieldiskutierte Masernimpfung wird beispielsweise mit Lebendimpfstoffen durchgeführt. Der Prophylaxe-Effekt besteht hier darin, dass stark abgeschwächte noch lebende Erreger dem Immunsystem eine Abwehrreaktion abtrotzen, die spätere Infektionen verhindern hilft. Ein paar Prozent der geimpften Personen bekommen Hautausschlag und Fieber. In ganz seltenen Fällen wird auch eine „vollständige“ Masernerkrankung ausgelöst, hier oft dann, wenn andere Vorerkrankungen vorgelegen haben.

Für Polio-Impfungen beispielsweise wurde früher auch ein Lebendimpfstoff verwendet, aber eine Reihe von Infektionen waren Anlass für die Empfehlung, heute nur noch Totimpfstoff zu verwenden. Hier muss man sich zu Recht die Frage stellen, was wohl die Eltern erzählt bekommen haben, als es noch den Lebendimpfstoff gab. Medizin und Forschung sind demnach nie am Ende ihrer Weisheit angekommen. Und eben diese Lücke besetzen Impfgegner erfolgreich. Immer zu Unrecht?

Ein weiterer Angriffspunkt der Impfgegner sind nicht nur die Erreger im Impfstoff, ob nun tot oder lebendig, für Diskussionen sorgen regelmäßig auch Zusatzstoffe in solchen Impfstoffen. Auch hier hat man dazu gelernt, als man beispielsweise Quecksilber aus diesen Stoffen verbannte.

Was mögen hier jene Eltern denken, die sich darüber noch keine Sorgen machten, als, was heute nicht mehr eingesetzt wird, noch zum Einsatz kam? Kann man sich rückwirkend Vorwürfe machen? Doch wohl nur dann, wenn das Kind später erkrankt ist. Nur wer könnte sagen, welche Krankheit tatsächlich ursächlich mit dem Impfen in Zusammenhang steht? Impfgegner haben hier selbstverständlich eine abweichende Beweisführung als Befürworter des Impfens.

Noch eine Information aus der untergegangenen DDR: Dort bekamen Bürger bis zum 18. Lebensjahr durchschnittlich 17 Pflichtimpfungen. Aber ebenso, wie in der Bundesrepublik wurde auch in der DDR in den 1970er Jahren die Pockenimpfpflicht abgeschafft, weil die  Krankheit dank Impfungen praktisch ausgerottet wurde: Das Risiko individueller Schäden durch Impfen konnte nicht mehr mit dem Schutz der so genannten Volksgesundheit aufgewogen werden.

Ergo allerdings bestreitet niemand ernsthaft, dass es solche Risiken gibt, Impfen bleibt also weiterhin für viele unsichere Eltern ein Abwägungsprozess. Wie sieht es zum Beispiel mit Grippeschutzimpfungen aus? So wird heute schon diskutiert, nicht nur Alte, sondern auch Kinder gegen Grippe zu impfen. Sind Eltern, die diese Impfung morgen verweigern, übermorgen schon Verbrecher am Kind?

Oder wie sieht es bei Eltern von Töchtern mit der Impfung gegen eine bestimmte Form von Gebärmutterhalskrebs aus? Gefährlich, sinnvoll, Pflichtaufgabe oder Kür? Impfgegner empfehlen hier einfach eine regelmäßige Früherkennungsuntersuchung, also den Gang zum Arzt. Aber was, wenn diese Termine aus Scham- oder sonstigen Gründen nicht wahrgenommen werden? Sicherheitshalber und zum Wohle des Mädchens einfach impfen lassen?

Nun wird die Diskussion um Impfpflichten nie enden, wo es um das Wohl der Kinder geht, gibt es keine einfachen Antworten. Aktuell stehen Impfgegner medial wieder besonders unter Beschuss. Das Geo-Magazin beispielsweise schreibt: „Eine lautstarke Minderheit macht gegen das Impfen mobil und verunsichert viele Menschen.“ Und der Tagesspiegel traut sich sogar, die Debatte ironisch zu beleuchten, wenn er witzelt:

„Impfen ist so was von „bio“ Es aktiviert körpereigene Heilkräfte, es nutzt das Zellgedächtnis im Eigenblut, es vertraut auf Uraltes, evolutiv Bewährtes: Impfen müsste voll im Trend liegen.“

Interessant hier, dass Bedenken von Impfgegner beim Tagesspiegel keine Stimme bekommen, der gesamte Artikel liest sich wie ein PR-Text der Pharmaindustrie. Oder ist man mit so einer Kritik bereits den Argumenten der Impfgegner auf dem Leim gegangen?

Nun sind Impfstoffe tatsächlich eine lukrative Einnahmequelle. Zwar bleiben Impfstoffe im Vergleich mit dem Gesamtvolumen ein Nischenmarkt, aber die Margen müssen doch beträchtlich sein, wenn beispielsweise das Pharmaunternehmen GSK 2012 auf politischen Druck hin, „den Krankenkassen 67 Prozent Nachlass auf den saisonalen Grippeimpfstoff gewähren musste“ und  offensichtlich auch gewähren konnte.

Widmen wir uns zuletzt noch der Frage, wie es eigentlich um den Impfschutz von Kindern bestellt ist, die mit ihren Eltern aus einem außereuropäischen Land zu uns gekommen sind. Das Robert-Koch-Institut informiert darüber, dass der Impfschutz bei Asylsuchenden „häufig unklar ist“, empfohlen wird daher „möglichst frühzeitig nach Ankunft in Deutschland einen eventuell fehlenden Impfschutz nachzuholen.“

Nun kann man viel empfehlen, dass am Ende doch nicht erledigt wird. So schafften es die Gesundheitsämter in der Hochphase der Massenzuwanderung nicht einmal die verpflichtenden Tuberkuloseuntersuchungen durchzuführen, geschweige denn, einen Impfschutz zu überprüfen. Wie auch: Wo keine Pässe vorhanden, da liegt auch kein Impfpass vor, wenn es letzteren überhaupt je gegeben hat. Werden hier in der Regel umfangreiche Blutuntersuchungen auf der Suche nach Antigenen beauftragt? Nein.

Zudem findet eine systematische Erhebung des Impfstatus von Asylsuchenden nicht statt (Stand Oktober 2015). Wenn also nach Politik und Medien Impfverweigerer das Problem sein sollen, wie sieht es dann mit der Gruppe der Zuwanderer aus?  Noch ein Problem? Deutsche Ärzte sehen es gelassen, die Gefahr wäre eher eine umgekehrte, wenn beispielsweise ein Münchner Kinderarzt Deutschen, die mit Zuwanderern arbeiten, empfiehlt, geimpft bzw, immun zu sein, um diese nicht anzustecken:

„Eher werden die Flüchtlinge durch ansteckende Krankheiten bei uns gefährdet, z.B. Masern oder Windpocken, die vor allem für Erwachsene gefährlich sein können. Wer mit Flüchtlingen arbeitet, sollte daher gegen solche Krankheiten immun sein.“

Nun ist genannter Dr. Hirte in der Impfdiskussion kein Unbekannter. Er hat selbst schon zum Thema veröffentlicht („Impfen Pro und Contra“) und sich für so etwas, wie einen undankbaren Mittelweg entschieden, weder ein Anti-Impfbuch noch ein Befürworterbuch zu schreiben, seine Intention war es, ein Ratgeber für Eltern in der Entscheidungsphase zu schreiben.

Währenddessen titelt die Welt: „Gegen Dummheit hilft kein Impfen“ und fragt, warum Eltern, die dem Impfen kritisch gegenüber stehen, „nicht vor Scham den Kopf hängen lassen.“ Der Tagesspiegel beschäftigt sich mit Verschwörungstheorien unter Impfgegnern und der Faktenfinder der Tagesschau berichtet, dass die Pharmaindustrie an Medikamenten mehr verdient als an Impfungen. Die allerdings bringen immerhin noch eineinhalb Milliarden Euro gegenüber 38 Milliarden für Medikamente ein, also doch wohl deutlich mehr, als nur eine homöopathische Dosis, wie es der Fakenfinder hier suggerieren will. Desweiteren beruft sich der Faktenfinder auf Aussagen des Robert Koch Institutes, wonach es keine Belege dafür gäbe, „dass Säuglinge Impfungen generell schlechter vertragen als ältere Kinder.“

Allerdings ist es gerade besagte Information des Robert Koch Institutes eine aufschlussreiche Argumentationshilfe zumindest rückwirkend auch für Impfgegner, wenn es da zwar heißt, dass sich die Zahl der im Impfstoff übertragenen Antigene heute deutlich verringert hätte auf nur noch 150 (in allen heutigen Schutzimpfungen zusammengenommen), wo es früher „im alten Keuchhusten-Impfstoff, in dem das vollständige Bakterium enthalten war, rund 3.000 solcher Antigene“ gab. Der Grund dafür läge darin, „dass die modernen Impfstoffe hoch gereinigt sind und zumeist nur einzelne Bestandteile der Erreger enthalten.“

Aber was bedeutet das im Umkehrschluss? Zunächst doch einmal, dass das Institut eine bestimmte Menge an Antigenen tatsächlich kritisch betrachtet und also der Impfgegner von gestern zumindest mehr Argumente gegen das Impfen hatte, als der von heute. Aber auch der von heute ist morgen der von gestern, und was dann?