Tichys Einblick
Ein blick zurück nach vorn

Wahlentscheidungen in letzter Sekunde

Es gibt keine Partei, die Wähler mit einem zukunftsfähigen Programm überzeugen könnte. Also bleibt alles offen, bis in letzter Sekunde der Bauch entschieden hat. Aber egal wie, er wird dabei hörbar laut grummeln.

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Zwei, drei Kommentare forderten Autoren bei TE auf, mal Farbe zu bekennen, also so etwas, wie eine Wahlempfehlung auszusprechen. Hugo Müller-Vogg hätte doch bereits vorgelegt für die Wahlentscheidungen.

Nun könnte man schlau daher reden, beispielsweise lapidar feststellen, dass Bürger, ihre Lebensumstände und ihre Bedürfnisse nun einmal verschieden seien, es also gar keine Empfehlung geben könne im Sinne von: Was für mich gut ist, muss auch für den Nächsten gut sein. Früher war das ja auch einfacher: Da wählte der Arbeiter die SPD, der Unternehmer FDP und die Angestellten und Bauern CDU/CSU. Sozialer Auf- oder Abstieg sorgten dann je nach Quantität für Bewegung in den Verteilungskämpfen. Also daseinsbedingte Umverteilung von Wählerstimmen. Schöne heile Welt von gestern? Mit selbstverständlichen Wahlentscheidungen.

Vielleicht ja, jedenfalls kommt sie nicht wieder. Schon deshalb nicht, weil sich nicht nur die klaren Kanten zueinander abgeschliffen haben, sondern obendrein ein gemeinsamer Grundkonsens dieser Parteien verloren gegangen ist. Diese schöne heile Welt bekam doch schon ihre ersten Risse, als die FDP die Fronten wechselte oder sogar noch früher, als die SPD in Bad Godesberg beschloss, nicht mehr so richtig SPD sein zu wollen und ein Helmut Schmidt möglich wurde, dem sich die CDU nie wirklich verweigert hat.

Dann kamen die Grünen als eigentlich klassische Klientelpartei. Erfolgsrezept war ihre starre Haltung, hier lag ihr Identifikationspotential, das die Etablierten in ihrer Wucht so schmerzlich erinnerte, wie aufregend Politik noch sein kann. Heute, dreißig Jahre später, wissen wir, wohin der Karren fährt, wenn man diese Anschubkraft versanden lässt. Vielleicht war es aber auch nur eine unweigerliche Alterserscheinung. Eine Überalterung mit all ihrem restaurativen Begehren. Und Auswirkungen auf Wahlentscheidungen.

Nun lässt sich am Werdegang der Grünen schön beobachten, dass sich im Alter offensichtlich parteienübergreifend die Wertesysteme angleichen. Man wird gemütlich. Sichtbar selbst noch in so einer pseudo-ätzenden Haltung einer Katrin Göring-Eckardt oder Claudia Roth. Klar, Cem Özdemir wirkt jünger, geradezu berufsjugendlich, ist aber auch schon ein alter Knochen jenseits der 50, fernab einer frischen grünen Öko-Revolution im Behaglichen gestrandet mit Mini-Hanfplantage auf Balkonien.

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Die Linkspartei ist ein Sonderfall, zunächst nachglühende DDR-Schlacke mit der Wiedervereinigung in den Bundestag gestoben, überlebte sie nur per Glücksfall, weil die Grünen in Regierungskoalition mit Gerhard Schröder ihre Oppositionsrolle im Bundestag aufgaben. Hätte Kohl rechtzeitig an Schäuble abgegeben, wären die Linken als Nachfolger der PDS heute wohl nicht im Bundestag vertreten, weil die Grünen sich die Giftpfeile nicht hätten aus dem oppositionellen Köcher nehmen lassen. Oskar Lafontaines Rolle sollte später noch hinzukommen, als er den letzten Rest Arbeiterpartei der SPD am Schlafittchen packte und dank massiver Gewerkschaftsunterstützung in die Linkspartei überführte. Gewerkschaften, die sich von einem Bundeskanzler Schröder betrogen fühlten, warfen ihre Kraftbrühwürfel mit in die linke Ost-Westbrühe.

Lafontaine wollte übrigens jüngst wieder einer der ersten linken Umdenker sein, als er von Merzig-Willingen aus seine Genossen mahnte: „Die Linke müsse darüber nachdenken, warum viele Arbeiter und Arbeitslose die AfD wählen. (…) Die Steuerung der Zuwanderung müsse wieder ‚Grundlage staatlicher Ordnung’ werden. (…) Wer illegal über die Grenze gekommen ist, der sollte ein Angebot bekommen, freiwillig zurückzugehen. Wenn er dieses Angebot nicht annimmt, bleibt nur die Abschiebung“, sagte nicht Alexander Gauland, sondern der ehemalige Chef der Linkspartei, der Ehemann von Sahra Wagenknecht, heute Spitzenkandidatin der Linkspartei.

Ach, kein Wunder. Die Süddeutsche hat es mal so herrlich erfunden, in welcher heimelichen Atmosphäre hier linke Bundespolitik ausgedacht wird:

„Man meint es förmlich vor sich zu sehen: Lafontaine im Abendrot vor dem Haus, in der einen Hand eine Boule-Kugel und in der anderen ein Glas Viez, eine örtliche Apfelwein-Spezialität. Eine fast Kohl’sche Szenerie. Auf der Bank vor dem Haus sitzt Sahra, blickt versonnen von der Lektüre eines antikapitalistischen VWL-Theorems auf und lässt ihren liebenden Blick über das heimische Glück schweifen.“

Aber interessanter: Oskar Lafontaine befand, „dass offene Grenzen und freizügiger Personenverkehr Privilegien seien, die große Teile der Bevölkerung nicht nachvollziehen könnten. Der Ruf nach offenen Grenzen ist eine zentrale Forderung des Neoliberalismus.“

Was war das? Eine Art nationaler Sozialismus, mögen sich viele Linke erschrocken gefragt haben. Nein, die Partei selbst hatte sich natürlich nie durchgängig so positioniert. Aber die Rolle des Seniors hat nach wie vor ein nicht zu unterschätzendes Gewicht. Seine Wahlkampfauftritte waren die linke Lokomotive auf den Marktplätzen des Landes. Also relevant für Wahlentscheidungen.

Die AfD nun als vierte klassische Klientelpartei zu bezeichnen, nach FDP, Grünen und der Linkspartei, wäre grundlegend falsch. Das Alleinstellungsmerkmal der AfD ist nicht einmal der Fokus auf eine rechte Klientel, sondern zunächst einmal auf zwei bestimmte Themen in der Reihenfolge ihres Auftretens: „Nein“ zu Brüssel und „Nein“ zum Euro. Dann ein noch viel bedingungsloseres „Nein“ zum fortschreitenden Abbau jenes nationalstaatlichen Systems, wie es 1949 für die Bundesrepublik Deutschland installiert wurde und welches nun durch die etablierten Parteien im Bundestag vakant gestellt wurde. Also ein „Nein“ zur Zuwanderung.

Katrin Göring-Eckardt hatte die Motivation dahinter dankenswerter Weise schon 2015 bei Anne Will im Sinne aller etablierten Partien formuliert. Die Kampfansage der AfD bezieht sich letztlich bis heute auf dieses damals noch so offenherzig und wenig wahltaktisch ausgesprochene Vorhaben:

„Dieses Land wird sich verändern. Und es wird sich ziemlich drastisch verändern. Und es wird ein schwerer Weg sein, aber dann glaube ich, können wir wirklich ein besseres Land sein. Und daran zu arbeiten, das mit Begeisterung zu machen, die Leute mitzunehmen, auch die, die Angst haben (..) das ist eigentlich die historische Chance in der wir sind. Das ist wahrscheinlich sogar noch mehr als die deutsche Einheit, was wir da erreichen können. Was die Kanzlerin gemacht hat, ist eine große Idee davon, was es heißt, dieses Land neu zu denken. (…) Die Arbeitgeber scharren längst mit den Füßen und sagen: Wir brauchen diese Leute.“

Nein, die AfD möchte kein besseres Land, sie möchte das beste Land bleiben. Angela Merkel führt den Michel am Nasenring, wenn sie mit folgendem Slogan für sich und ihre Politik wirbt: „Für ein Land in dem wir gut und gerne leben.“ Korrekterweise hätte es mit Katrin Göring-Eckardt heißen müssen: „Mit Begeisterung für ein neues drastisch verändertes Deutschland.“

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Das ist, wo wir heute stehen. Da sind also hier die AfD mit ihrem Alleinstellungsmerkmal, welches sie zweifellos hat – und dort die Linkspartei eines Oskar Lafontaine, die irgendwie in Sahra Wagenknecht weiter reifen könnte, aber auch mit Katja Kipping und Co eine ganz andere Richtung einschlagen könnte. Beiden gemeinsam ist etwas, das man mit ziemlich tauber Zunge vielleicht „nationalstaatlichen Willen“ nennen könnte, wenn es nicht so falsch klänge, bei der AfD offen ausgesprochen, bei der Linkspartei noch im Verborgenen gewispert.

Letztlich werden jedenfalls mehr Wähler, als man glaubt, ihr individuelles Zünglein an dieser Waage von dem ausschlaggebenden Quantum Sympathie in Bewegung bringen und sich für das ihnen näherstehender Anlitz entscheiden. Übrigens: So es auch von der Zuwanderung überlagert scheint, die Themen Umwelt und umweltgerechte innovative Technologien sind nicht nur deshalb vom Tisch, weil man nicht mehr darüber reden mag. Die deutsche Autoindustrie, die anhängigen Stahlindustrien und die konventionelle Energieversorgung, die in den 1960er Jahren Zuwanderung von – übrigens ungelernten – Gastarbeitern forderten, benötigten und bekamen, könnten heute jene sein, die Zuwanderung über sprudelnde Steuergelder finanzieren. Aber ausgerechnet die müssen nun darum kämpfen, dem Innovationsvorsprung anderer Industrienationen wenigstens noch in Sichtweite hinterherzulaufen – noch lange nach den Wahlentscheidungen.

Fred-Feuerstein-Steinzeitpositionen finden sich leider in beiden hier eingrenzten Wahlalternativen. Es gibt keine Partei, die Wähler mit einem zukunftsfähigen Programm überzeugen könnte. Also bleibt alles offen, bis in letzter Sekunde der Bauch entschieden hat. Aber egal wie, er wird dabei hörbar laut grummeln.