Tichys Einblick

Neujahr in Deutschland: ein Augenblick Stille

Der erste Tag des neuen Jahres.

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Neujahr 10:30 Uhr. Vorsichtiges Aufstehen. Eigenartige Stille nach dem großen Silvester-Lärm. Blick aus dem Fenster: Straße zwischen den Haushälften fast flächendeckend rot vom Papier des abgebrannten Feuerwerks. Unsere fleißigen Jungs hatten bis morgens um zwei Uhr ihr Taschengeld vollständig in die Luft gejagt. Glänzende Augen nach dem letzten Böller, die spektakulärsten Knalleffekte werden über die Zeit hinaus nacherzählt. Die leeren Rucksäcke wurden achtlos in den Flur geschmissen, auf dem Tisch liegengeblieben: Jetzt braucht es die noch schnell am Vortag neu angeschafften glänzenden Feuerzeuge.

Der Backofen frischt für ein paar Minuten alte Brötchen auf, bevor sie endgültig steinhart bleiben. Aufräumen. Staubsaugen. Hunde in den schmalen Streifen Garten lassen, später dran denken, den Rasen nach den nun ersten „Tretminen“ des neuen Jahres abzusuchen. Kopfschmerzen vom zu langen Fernsehschauen anstatt wie früher vom Alkohol. Um 0:15 Uhr auf der Suche nach einer Serie im Telekom Entertain Angebot „The Handmaid’s Tale“ gestartet. Drei Folgen kalte Faszination am Stück bis kurz vor drei Uhr. Fast dreißig Jahre nach Schlöndorffs Verfilmung „Die Geschichte der Dienerin“ nach Margaret Atwoods Romanvorlage. Eine erschütternde Dystopie im Serienformat. Und wenn es überhaupt noch eines bedurfte, der endgültige Beweis, dass diese US-amerikanischen Serienformate den klassischen Hollywood-Blockbustern qualitativ (und quantitativ!) den Rang abgelaufen haben.

„The Handmaid’s Tale“: Im Amerika einer nahen Zukunft entsteht ein totalitärer, christlich-fundamentalistischer Staat, in dem Frauen keine Rechte mehr haben und jene, die nach einer Reihe vom Umweltkatastrophen noch fruchtbar sind, zwangsweise zu Gebärmaschinen für eine neue Elite werden. Faschismus. Von den internationalen Medien gefeiert als die Serie zur Trump-Ära. Aber Amerika ist weit weg, so drängt sich dem deutschen Zuschauer überraschenderweise auch das Gegenteil auf: die Ahnung eines Faschismus’ im linken Gewand. Die schleichende Machtübernahme. Gleich in der ersten Folge ergeifert sich die Aufseherin mit dem Elektro-Viehtrieberstab über die Umweltzerstörer. Und beim Offizier zu Hause wird das Brot wieder von Hand in Vollkorn gebacken: in einer Küche, wie aus einer Öko-Hippiekommune, nur aufgeräumter.

Auf unserem Wohnzimmertisch liegt noch Jakob Augsteins neues Buch, ein Gespräch mit seinem Vater Martin Walser. Noch am Silvestertag ausgelesen. Darunter ein Haufen Papier, beim Lesen beschrieben mit Zitaten aus dem Buch für eine Rezension. Ein gutes Buch. Aber auch ein missverständliches: Angelegt als ein gegenseitiges Abtasten von Vater und Sohn, die sich erst mit 40 und 80 Jahren näher gekommen waren, wurde es zu einer Art Interview-Biografie über Martin Walser. Schade für Augstein, er musste es sich im Exposé anders vorgestellt haben. Aber der schriftstellerisch tätige Vater will nichts wissen von der inneren Bewegtheit des journalistisch tätigen Sohnes, so erfahren auch die Leser nichts. Eine spannende Vater-Sohn-Geschichte bleibt aus. Aber dieses Buch wird auch von diesen Leerstellen seltsam lebendig. Lesenwert.

Nun ist Walser kein Langweiler, der über Neunzigjährige weiß zu erzählen. Giovanni di Lorenzos „Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt“ verblasst daneben fast zur Boulevardeske. Und seitenweise geben dann die klaffenden Lücken den Spannungsbogen vor. Beide Protagonisten fahren nebeneinander her durch ihr vom Schicksal angelegtes persönliches Eismeer, Thema um Thema, Eisberg um Eisberg muss Millimeter genau umschifft werden, was unausgesprochen bleiben soll, beide mit dem unbedingten Willen ausgestattet, Kollisionen zu vermeiden: Walser noch mehr als Augstein. Für Streit ist keine Zeit mehr, der große Zeiger von Walsers Lebensuhr steht fast im Zenit. Augstein könnte einem an der Stelle fast leid tun, der Vater ist nicht mehr bereit, im Gespräch mit dem verlorenen Sohn Risiken einzugehen. Mitgefühl mit Jakob Augstein – das muss ein Buch erst einmal schaffen! Walsers Lebenswerk ist schon auf den Ewigkeitsmodus eingestellt, seine Paulskirchenrede samt Antisemitismusvorwurf fast vergessen. Jetzt soll der aufregenden Fahrt namens Leben der Nachruhm folgen. Besonders dann, wenn es nicht mehr der Nobelpreis sein kann, den Freund Günter Grass auf seiner persönlichen Zielgeraden abgegriffen hatte.

Viel mehr ist bis hierher kaum Positives zu berichten. Das Jahr ist so jung, wie es nur sein kann, aber schon macht sich ein Neujahrswiderwillen breit neben der Sorge, nun noch einmal 365 Tage über Zuwanderung berichten zu müssen. Über Merkels letzte Monate oder Jahre im Amt, über eine Große Koalition, die der Bundesrepublik, so wie wir geburtenstarken Jahrgänge sie kennen, wohl endgültig Adieu sagen wird. Der linke Traum der 1968er ist nun fünfzig Jahre später endgültig ausgeträumt – zeigt schon bemerkenswert antidemokratische Züge – wie kleine aber unübersehbare Filmschnipsel aus „The Handmaid’s Tale“.

Justizminister Heiko Maas schreibt per Twitter: „Prosit Neujahr! Allen ein erfolgreiches, gesundes und gutes neues Jahr 2018. Gehen wir die Herausforderungen der Gegenwart gemeinsam mit Mut und Zuversicht an. Willkommen 2018!“ Nette Worte. Worte voller Falsch. Aus der Feder von Heiko Maas klingen sie wie eine schmeichelnde Drohung. Der Wahn geht also weiter. Von der linken Utopie zur linken Dystopie?

Und hier erweist uns dann Margaret Atwoods einflussreicher feministischer Roman einen wichtigen Dienst, wenn er unfreiwillig eine weitere Lesart anbietet: Auch 2018 verlangt von uns jene Ausdauer, diesem Angriff auf die Demokratie etwas Kraftvolles entgegenzusetzen. Denn das bleiben wir auch 2018 unseren Kindern schuldig. Kinder übrigens, die sich gerade wortreich dagegen wehren, nach dem Frühstück mit vertrockneten Vortagsbrötchen die Straße zu fegen, um ihren Knallermüll zu beseitigen. Aber wir bestehen jetzt einfach mal darauf. Schon den Nachbarn zu Liebe.