Tichys Einblick
Maßstab verloren

Meedia – Tote im Mittelmeer nur Kollateralschaden?

Wenn der Holtzbrinck-Mediendienst Meedia mit Toten rechnet und mit anderen Medien abrechnet, wird es zynisch - und gefährlich für andere Holtzbrinck-Medien.

Am Mittwoch um 11:58 Uhr versendet der Chefredakteur des Blogs „Meedia“ der Verlagsgruppe Holtzbrinck eine Email mit Fragen zu einem Artikel bei Tichys Einblick. Stefan Winterbauer möchte erkannt haben, dass der Autor Unsinniges geschrieben hat und erhebt gleichzeitig den Vorwurf, unseriös gearbeitet zu haben. Es geht um die Frage, ob der Rückzug der NGO-Schiffe vor der nordafrikanischen Küste entgegen anders lautender Behauptungen die Zahl der Ertrinkenden möglicherweise reduzieren könnte.

Erstaunlich hier zunächst einmal, dass sich Winterbauer überhaupt bei uns meldet. Denn immerhin waren es seine Kollegen, die ebenfalls bei Holtzbrinck publizieren, welche die Arbeit der NGO-Schiffe vor der Küste zum Thema hatten. Die ZEIT schrieb nämlich: „Weniger Tote auf dem Mittelmeer bedeuten absehbar mehr Tote in der Wüste.“ Und mit dem Tagesspiegel befand eine weitere Zeitung der Verlagsgruppe Holtzbrinck zur Arbeit von NGO-Schiffen vor der Küste Nordafrikas: „Wenn man so will, machten die NGOs den Schleppern damit ihr Geschäft leicht.“ Und der Tagesspiegel geht sogar noch eine Schritt weiter, wenn er schlussfolgert: „Das Geschäftsmodell der NGOs funktioniert bis auf weiteres nicht mehr. Sie finanzieren sich über Spenden. Spenden fließen aber dafür, dass sie Schiffsbrüchige retten und in die EU bringen.“

Möglicherweise hat sich Stefan Winterbauer aber schon mit seinen Kollegen aus der Verlagsgruppe auseinandergesetzt. Aber zunächst erschien es ihm offensichtlich wichtiger, sich mit dem Überbringer der Nachrichten seiner Kollegen zu beschäftigen: Mit Tichys Einblick und unserer Auseinandersetzung mit den Artikeln der ZEIT und des Tagesspiegels.

Winterbauer schreibt, „Ich will das Thema in meiner Wochenrückblicks-Kolumne am Freitag bei MEEDIA aufgreifen“. Nun möchte Winterbauer, wie in einer weiteren Email etwas klarer wird, allerdings alles andere, als sich mit diesen „Thema“ und den Artikeln seiner ZEIT-Kollegen der Verlagsgruppe Holtzbrinck auseinandersetzen. Er fragt im seiner ersten Email:

„Schaut man sich die vom IOM veröffentlichte Statistik an, so ist es zwar so, dass von Juni auf Juli weniger Menschen im Mittelmeer starben (629 im Juni, 222 im Juli), hieraus einen Trend ablesen zu wollen erscheint aber doch etwas unsinnig, wenn man sich die anderen Monate anschaut.“ Und er fragt weiter: „Finden Sie es nicht unseriös, diesen Vergleichsrahmen zu wählen?“

Nun könnte man antworten, dass der breite Rückzug der Schiffe erst ab Ende Juni erfolgte. Also wäre Juli der erste Monat der neuen Situation. Es ist eine zentrale Frage, denn es geht um Leben und Tod. Deshalb sollte man damit vorsichtig umgehen, statt billige Feldzüge damit zu befeuern.

Später wird Winterbauer nach einem Telefongespräch seine merkwürdigen Fragen zu präzisieren versuchen. Und spätestens hier wird dann deutlicher: Es geht ihm gar nicht darum, uns um Informationen zu bitten, weil wir uns mit dem Thema über Jahre beschäftigen, wir uns also möglicherweise besser auskennen und helfen könnten, nein, Winterbauer möchte Tichys Einblick eine Schlechtleistung andichten, möchte über ähnliche Argumentation mit zum Teil anderen Schlußfolgerungen auf gleicher Faktenlage bei ZEIT und Tagesspiegel hinweghuschend seinen Anwurf erhärten, dass wir angeblich „unseriös“ und „unsinnig“ arbeiten.

Winterbauer bittet also in Email Nr. 2 darum, zwei Fragen zu beantworten und schickt drei. Nun beschäftigt sich allerdings keine seiner drei Fragen damit, warum sich Tichys Einblick mit der Aussage der ZEIT beschäftigt hat, dass es „Weniger Tote auf dem Mittelmeer“ gibt. In Ermanglung eines nachvollziehbaren kritischen Ansatzes, versucht er unseren Artikel damit zu diskreditieren, dass er uns Auslassungen unterstellt, wenn ihm beispielsweise ein Link fehlt.

Richtiggehend übel wird es, wenn Winterbauer im Rahmen der Beschäftigung mit dem Artikel bei Tichys Einblick plötzlich erkennt, dass der kritische Ansatz auch seiner Kollegen in ZEIT und Tagesspiegel durchaus berechtigt erscheint, wenn beispielsweise nachweislich in den ersten sieben Monaten 2017 mehr Menschen ertrunken sind, als in den Vergleichsmonaten in 2018, als sich die NGO-Schiffe nach und nach von der nordafrikanischen Küste zurückzogen oder zurückziehen mussten. Tatsächlich sind 2018 annährend 1.000 Menschen weniger ertrunken als 2017. Diese Zahlen liefert Winterbauer in Email Nr. 2 unter der Überschrift: „Nur so fürs Protokoll“ sogar mit.

Und weil er damit nun selbst bestätigt, was ZEIT und Tichys Einblick hinterfragen und weil ihm das möglicherweise nicht zur ursprünglichen Ausgangsthese passt, Tichys Einblick als „unsinnig“ und „unseriös“ darzustellen, vergaloppiert sich Winterbauer entsetzlich, wenn er mit künstlicher Empörung ein Ausrufezeichen setzen will und schreibt: „Opferzahlen gesunken. Aber: Flüchtlingszahlen noch viel stärker gesunken!“

Das mussten wir tatsächlich zwei Mal lesen, weil es an Zynismus – wir könnten sogar sagen: Menschenverachtung – kaum noch zu überbieten ist. Für Stefan Winterbauer von Meedia.de sind die Toten im Mittelmeer also nicht mehr als ein kalkulierbarer Kollateralschaden. Als er von uns mehrfach darauf hingewiesen wurde, dass die Zahl der Toten zurückgegangen ist, rechnet er sie kurzerhand auf mit jenen, die es nach Europa geschafft haben und befindet also übersetzt:

OK, sie haben recht, es sind weniger gestorben, dafür aber haben es aber mehr nach Europa geschafft 2017.

Aber damit nicht genug. In Email Nr. 2 scheint er sich in Rage geschrieben zu haben und wirft nun tatsächlich alle Humanität über Bord, wenn er nachlegt: „Der prozentuale Anteil an Flüchtlingen, die sterben, ist 2018 also deutlich höher. Aber wie mehrfach gesagt: Davon ist in Ihrem Text nicht die Rede.“ Prozente oder Tote – worum geht es? In einem Wirtschaftsverlag sicherlich um Prozente. Menschen sind da wohl Rechenmaterial für manche Redakteure.

Nein, davon ist in unserem Text nicht die Rede. Es ist nicht die Rede davon, Ertrinkende, hunderte von elend ertrunkenen Menschen als „prozentualen Anteil“ zu bezeichnen, den man doch nur ins Verhältnis setzen müsste mit den erfolgreich nach Europa verschifften Migranten – wenn die Zahl der Toten sinkt, es aber weniger nach Europa schaffen, dann ist das also für Winterbauer zu bedauern? Es ist furchtbar, aber es steht da alles so.

Moderne Menschenopfer auf dem Altar der Gutmeinenden. Der Versuch eines Chefredakteurs der Verlagsgruppe Holtzbrinck über seine Kollegen bei ZEIT und Tagesspiegel hinweg Tichys Einblick zu diskreditieren, der nichts anders tat, als eben dort zu lesen und nachzufragen, wo Winterbauer offensichtlich nicht ins hauseigene Wespennest stechen mag. Wo er sich auf eine Weise in einer Inhumanität verliert, in einer Denke, die das Einzelschicksal von Menschen, die elend ertrinken als Kollateralschaden verrechnet, in Statistiken, die zu lesen Winterbauer anfangs so große Schwierigkeiten machte, weil der die Transzendenz vermisste. Und die bei ihm offensichtlich maximalen Zynismus wecken, wenn er – wir wiederholen uns hier absichtlich: – schreibt: „Opferzahlen gesunken. Aber: Flüchtlingszahlen noch viel stärker gesunken!“

Stefan Winterbauer möchte nun u.a. noch von TE wissen, warum wir die Zahlen des IOM auch dem UNHCR zugeschrieben hätten, warum wir beide als unterschiedliche Quelle nennen, wo er selbst beim UNHCR keine gefunden hätte. Nun hat der UNHCR tatsächlich nicht die Zahlen der Toten von Juni und Juli einzeln aufgeführt, sondern sie addiert, wo der IOM ausführlicher war. Aber selbst dann, wenn der UNHCR diese Zahlen nicht publiziert hätte und wir die genannten Daten nicht doppelt hätten verifizieren können, Stefan Winterbauer SELBST sendete uns per Email diese Zahlen des IOM und leitet anschließend daraus seine schreckliche Aufrechnung der Toten ab.

Das alles sind Vorgänge, die auf besondere Weise als abstoßend empfunden werden dürfen. Die journalistisch auf einem Niveau angekommen sind bei Akteuren, die nun ausgerechnet eine Akribie an den Tag legen möchten, wenn es darum geht, über alle Fakten hinweg andere Medien zu diskreditieren.

Gerne fügen wir als Disclaimer hinzu: Tichys Einblick ist in mehrere Rechtsstreitigkeiten über die tatsächliche Auflagenhöhe des Handelsblatts verwickelt. Meedia ist Teil der Verlagsgruppe Handelsblatt.