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Lockdownjahr 2020 – auch ein verlorenes Jahr für die Jugend

Jugendliche erzählen, dass sie das Jahr 2020 für sich abgeschrieben haben. „Es war ein Lebensjahr, das einfach so vorbeigezogen ist.“ Da braucht es nicht viel Einfühlungsvermögen, um in diesem einen Satz die ganze Traurigkeit einer Generation zu erkennen.

picture alliance / Rupert Oberhäuser

Im TE-Telefongespräch mit prominenten Alt-68ern klingt alles ganz anders. Die sprechen vom Lockdown als große Chance, von einer Vergeistigung durchs Internet, von jungen Leuten, die die Alten für ihr analoges weltzerstörierisches Leben mitleidig und noch mehr wütend anschauen, der Mensch hätte ja schon immer danach gestrebt, das Materielle zu überwinden. Auch Sex und so weiter, alles vollkommen unbedeutend. Sagen die Alt-68er.

Aber ist das wirklich so? Soll man den Lockdown als Chance sehen in etwa so, wie eine heilsame Isolationshaft, die, wenn es gut läuft, einen weisen Grafen von Monte Christo produzieren könnte? Zynismus hatte 2020 Hochkonjunktur. Die Welt sei so nachhaltig zerstört, dass nur noch der digitale Raum als eine Art vergeistigte Sphäre die Menschheit in die Zukunft führen kann? Paradies oder Dystropie? Jedenfalls eine Matrix-Fantasie à la Rainer Langhans und weniger die eines Rudi Dutschke. Dutschke wollte immerhin noch die Welt verbessern in dem das Alte zerschlagen werden sollte. Die Denkschule Langhans hat die Welt schon aufgegeben, frühe Drogenexperimente, später die Verherrlichung des Internets als vollkommen vergeistigte Ebene dieses elenden Menschseins. Der Lockdown als Heilserwartung.

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Im Gespräch mit einem Vater mitten in diesem zweiten Lockdown, der von seinem neunzehnjährigen Sohn erzählt, klingt das freilich ganz anders. Der junge Mann spielte bis vor kurzem noch mit Begeisterung Fußball, jetzt fällt alles weg, vom Training bis hin zur strukturierten Sportbegegnung generell, keine Punktspiele am Wochenende, nichts mehr. Keine lockeren Treffen mal eben mit dem anderen Geschlecht und wenn, dann muss das alles unter großem Aufwand organisiert werden. Schule, Universität, alles ausgesetzt, alles verlagert auf digitalisierte Kontakte im Internet. Der Vater erzählt fast wehmütig von eigenen Erstsemesterpartys, die es für seinen Sohn nicht mehr geben werde.

Aber ist das die Welt des Kindes, des Jugendlichen, des jungen Erwachsenen? Oder sind diese unbekannten Wesen der Internet-Natives nicht längst entwöhnt von solchen archaischen Begnungen, denen die Alten das nachjammern, weil es ihre eigenen beschränkten Erfahrungen waren?

Jetzt kommt der Lockdown von den Alten und schützt die Alten. Es ist also das Gefängnis der Alten, das den Jungen da übergestülpt wurde, um die Alten besser zu schützen. Der Vater erzählt weiter: „Ich habe meinen Sohn da extra keinen Vorwurf gemacht, aber der ist digital da schon manchmal und neuerdings unter dem Lockdown ganz schön am Ballern, Egoshooter, Call of Duty usw.“, was er früher nicht so gemacht hätte, erinnert der Vater. Und wünscht seinem Sohn, dass sich dieser bald wieder direkt mit Freunden treffen kann.

Solchen subjektiven Erfahrungen und von „68“ inspirierten philosophischen Erwägungen auf der Meta-Ebene stehen die nüchternen Zahlen aus aktuellen Studien gegenüber:

Das Hamburger Abendblatt berichtet von einer Covid-19-Sonderbefragung zum Lockdown im Rahmen der Langzeit-Gesundheitsstudie „Nationale Kohorte“ (Nako), die ein düsteres Bild der psychischen Entwicklung junger Menschen unter den Corona-Maßnahmen zeichnet: Da ist die Rede von einer „signifikanten Zunahme“ depressiver Symptome, von Angststörungen und Stress.

Alarmierender noch, was das Ärzteblatt aus dieser Befragung zitiert, nämlich das diese Symptome hauptsächlich Menschen unter 60 Jahren betreffen, insbesondere, junge Frauen. Schwer ausgeprägte depressive Symptome seien angestiegen ebenso, wie der wahrgenommene Stress vor allem bei jungen Menschen.

Eine weitere Studie aus Cambridge ergab, dass der Lockdown insbesondere bei Kindern depressive Verstimmungen auslösen kann. Der Anstieg war in der Langzeitstudie klar nachweisbar. Sicher, die Ausnahmesituation „Lockdown“ wird hier zum interessanten Untersuchungsfeld der Wissenschaft.

Laut Unseco wurden in 188 Ländern weltweit die Schulen geschlossen, in Zahlen betrifft das 1,5 Milliarden Schüler, die jetzt ohne analogen Kontakt und Schule auskommen müssen. Eltern, die für eine weitere Studie ihre Kinder beurteilen sollten, haben mit Fortdauer des Lockdowns häufiger depressive Stimmungen ihrer Kinder beobachtet. Aussagen sind da zusammengekommen, die große Besorgnis ausdrücken: „Mein Kind ist sehr müde“, „Mein Kind ist traurig oder leer“, „Nichts macht meinem Kind mehr Spaß“. Das Ergebnis auch dieser kleineren Studie ist alarmierend: Bei etwa 70 Prozent der Kinder haben sich die depressiven Symptome während des Lockdowns verschlechtert.

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Der MDR beispielsweise berichtete Ende November von Freundschaften unter Jugendlichen, die unter dem Lockdown zerbrechen würden, und stellt nebenbei fest, dass die Perspektive der Jugendlichen in der öffentlichen Debatte immer noch viel zu kurz käme. Sozialarbeiter, die viel mit Jugendlichen zu tun haben, halten nichts davon, dass die Corona-Maßnahmen auch Chance sei. Das Internet sei eben kein Ersatz, die jungen Leute bräuchten den öffentlichen Raum jetzt nötiger als sonst, weil zu Hause die Familien viel enger aufeinander hockten.

Die Südwestpresse zitiert Jugendliche, die erzählen, dass sie das Jahr 2020 für sich abgeschrieben hätten. „Es war ein Lebensjahr, das einfach so vorbeigezogen ist.“ Da braucht es nicht viel Einfühlungsvermögen in diesem einen Satz die ganze Traurigkeit einer verlorenen Generation zu erkennen. Nein, es ist kein verklärter Blick aus der Perspektive der Alten auf diese Jugend.

Gerade die geburtstarke westdeutsche Generation, also Eltern von Jugendlichen und jungen Erwachsenen von heute müssten wissen, in welcher prädestinierten analogen Welt sie selbst aufgewachsen sind.

Kann man das sagen, dass ein tieferes Verständnis des Erwachsenen für Demokratie auch damit zusammenhängt, dass er sich als Jugendlicher Auge in Auge ausgetauscht hat, das miteinander gestritten und mit aller überschäumenden Energie um Argumente gerungen wurde? Oder passiert das heute in der echten Welt deshab seltener, weil ganz andere Gruppen den öffentlichen Raum erobert haben? Es wäre eine weitere tiefgreifende wie alarmierende Feststellung, wenn es inbesondere die einheimischen Jugendlichen wären, die sich ins Internet zurückziehen, aber aus noch ganz anderen Gründen als nur dem Lockwdown auf den andere Gruppen wiederrum pfeifen.

Der Kölner Stadt-Anzeiger titelte gerade: „Junge Leute im Lockdown. Ein verlorenes Jahr ist für Jugendliche sehr viel schlimmer.“ Matthias Rohrer vom Institut für Jugendkulturforschung in Wien weiß da zu berichten: „Während Erwachsene gröstenteils zu Hause entspannen, findet das Leben der Jugendlichen im Außen und mit Freunden statt. Für sie wird dadurch der gewohnte jugendkulturelle Raum zur Verbotszone.“

Eltern wissen allerdings, dass es mit diesem Außen ihrer jugendlichen Kinder heutzutage gar nicht mehr so intensiv bestellt ist, wie oft noch bei ihnen selbst. Und das ganz unabhängig vom Lockdown. Was aber noch lange nicht heißt, dass junge Leute heute dieses von Rohrer beschriebene Außen weniger bräuchten, möglicherweise ist sogar das Gegenteil der Fall: Sie brauchen es noch viel dringender, sich zu befreien, beispielsweise aus einer Helikopterumarmung übervorsichtiger Eltern. Das Digitale, das Internet kann dafür kein Ersatz sein – das zu beurteilen, sind Eltern befähigt, die ihre Kinder bewusst erleben, die diesen Kindern des Internets beim Heranwachsen zugeschaut und sie nach Kräften unterstützt haben. Diese Eltern können davon berichten, was so ein Lockdown für negative Auswirkungen auf ihren Nachwuchs hat.

Nein, der Lockdown ist keine Chance für junge Leute, er ist eine starke Beeinträchtigung. Inbesondere auch für junge Frauen bedeutet es eine Einschränkung von Freiheiten im öffentlichen Raum, die zu den Selbstverständlichkeiten moderner westlicher Gesellschaften gehören. Es ist also keineswegs so, dass die Alten mit ihren höheren Anfälligkeiten für eine Corona-Erkrankungen die Gruppe mit den größten Entbehrungen während des Lockdowns sind. Die jungen Leute trifft es viel mehr und viel nachhaltiger.

Viele Alten freuen sich heute auf ein ruhiges Silvester. Das wäre ja auch viel besser für die armen Tiere und der Hund wäre immer so verängstigt. Für viele Leute ist Silvester 2020/21 der Abschluss eines 365-Tage-Totensonntags, der Abschluss eines verlorenen Jahres ohne heute schon zu wissen, ob es das letzte verlorene Jahr war.

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