Tichys Einblick
Bundespolizei und BAMF

Geheimsache Migrationsrouten: Behörden spielen lieber stille Post

Auf Anfrage antwortet die Bundespolizei, ihr lägen „keine Erkenntnisse über Routen und Reisewege von in Deutschland erfassten Asylantragstellern vor“. Zuständig sei das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuständig. Dieses allerdings hatte zuvor an die Bundespolizei verwiesen.

picture alliance / PIXSELL | Armin Durgut

Ein Ausgangspunkt dieser Recherche ist die Aussage des Parteivorsitzbewerbers Friedrich Merz (CDU), dass Fluchtrouten von den griechischen Inseln und über den Balkan in die EU dicht sind. Den Migranten soll nur noch vor Ort geholfen werden: „Dieser Weg ist nicht mehr geöffnet.“

Nur dieser Weg nicht mehr? Viele Wegen führen bekanntlich nach Deutschland. Fluchtrouten wie Spinnennetze auf der Landkarte, welche in den vergangenen Jahren Millionen von Wirtschaftsmigranten nach Europa und hier vornehmlich nach Deutschland gebracht haben.

Vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) sollte man doch annehmen, dass diese zuständige Behörde die dazugehörigen Daten sammelt. Wir fragen nach Fluchtrouten, wer sie benutzt in welcher Zahl und wie sich das seit 2014 entwickelt hat. Die Antwort ist kaum hilfreich, aber doch aussagekräftig.

Eine Sprecherin teilt am 05. Januar 2021 per Email mit:

„Das Bundesamt führt das Asylverfahren durch. Antragstellung, persönliche Anhörung und die Entscheidung ob Schutz zu gewähren oder der Asylantrag abzulehnen ist, erfolgen beim Bundesamt. In diesem Zusammenhang erfragt das Bundesamt auch den Reiseweg von Asylsuchenden. Die auf diese Weise gewonnenen Informationen sind jedoch nicht repräsentativ. Sie leisten aber neben vielen anderen Informationsquellen einen ergänzenden Beitrag zur Analyse und Bewertung der Migrationslage und für die Bekämpfung der illegalen Migration. Die Daten aus der so genannten Reisewegbefragung werden nur für den Dienstgebrauch gesammelt und nicht veröffentlicht.“

BAMF sagt nicht, was es weiß
Die Bundesregierung hält Erkenntnisse über Migrationsrouten geheim
Reisewege werden also lediglich erfragt, nein, freundlich von den Migranten erbeten. Die Antworten basieren auf freiwilligen Aussagen. Aussagen, die nicht repräsentativ sind, was das Bamf auch eingesteht. Kaum zu überprüfende Angaben: Zwar gibt es mittlerweile einzelne Handyanalysen, aber auch die basieren überwiegend auf Freiwilligkeit, wer nicht will, der muss auch nicht.

Die Antworten auf „Reisewegbefragungen“ werden vom Bamf „nur für den Dienstgebrauch gesammelt und nicht veröffentlicht.“ Aber ist so eine Behörde nicht grundsätzlich – zumal gegenüber der Presse – zur Veröffentlichung verpflichtet?

Wir fragen auch das nach. Kümmern uns aber zunächst um ein paar Fußnoten des Bamf in besagter Email, die an weitere Orte verweisen, wo uns ggf. geholfen werden könne auf der Suche nach Fluchtrouten und Zahlen. Das Bamf reicht uns freundlich weiter. Der Kreisverkehr beginnt.

Genannt werden als zuständige Ansprechpartner die Bundespolizei, Frontex und der UNHCR. Desweiteren bietet uns das Bamf eine Antwort auf eine Kleine Anfrage der MdB Ulla Jelpke (Linke) an. An Jelpke kommt man offensichtlich auch hier nicht mehr vorbei. Sie ist mit ihrem Büro die ungekrönte Königin der Kleinen Anfragen an die Bundesregierung. Fangen wir gleich mal damit an:

Die Antwort der Bundesregierung datiert vom 02.04.2020. Das Bamf verweist hier auf die Antwort auf Frage 7. Darin will Jelpke u.a. wissen, welche Erkenntnisse es aus den Reisewegbefragungen des BAMF gibt und wie viele Asylsuchende mit dem Flugzeug eingereist sind.

Im April 2020 antwortete das Bamf auf die Kleine Anfrage:

„Die Bundesregierung ist nach sorgfältiger Abwägung zu der Auffassung gelangt, dass die Frage 7 aus Geheimhaltungsgründen ganz oder teilweise nicht in dem für die Öffentlichkeit einsehbaren Teil beantwortet werden können. (…) Die erbetenen Auskünfte sind geheimhaltungsbedürftig. Die Daten aus der Reisewegbefragung (RWB) werden nur für den Dienstgebrauch gesammelt und nicht veröffentlicht, da aus diesen Auswertungen Schlussfolgerungen gezogen werden können, die Einfluss auf die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland haben. Hintergrund ist, dass die RWB-Daten – auch wenn sie auf grds. nicht ohne weiteres nachprüfbaren Selbstauskünften der Befragten beruhen – u. a. als Grundlage für die Berichterstattung sicherheitsrelevanter Frühwarnsysteme genutzt werden.“

Aber was bedeutet das genau? Dass die Behörde zwar die Ergebnisse ihrer Befragungen für nicht repräsentativ hält, diese dann aber im Anschluß und nach „sorgfältiger Abwägung der Bundesregierung“ zur Geheimsache erklärt? Was wäre das Risiko?

Fürchtet man, dass so weitere Migranten, die davon hören von der für sie bequemsten Reiseroute nach Deutschland erfahren? Andererseits würde eine Veröffentlichung, Politik und Sicherheitsbehörden doch drängen, bestimmte Hotspots endlich zu schließen. Will man diese Hotspots gar nicht schließen und schon gar nicht auf Druck der empörten Bürger? Was stimmt hier also nicht?

Weiter zu Frontex: Die haben eine „Migrationskarte“ online gestellt, die in der deutschen google-Übersetzung „Wanderkarte“ heißt. Eine Karte, welche die „aktuelle Migrationssituation in Europa“ zeigen soll. Mindestens sieben Hauptfluchtrouten in die EU mit dem mutmaßlichen Hauptziel Deutschland sind hier dokumentiert.

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Im Folgenden wiedergegeben von West nach Ost, von den Kanarischen Inseln bis nach Lesbos vor der türkischen Küste und von dort aus in nördlicher Richtung bis hoch hinauf an die ukrainisch-polnische Grenze. Interessanter als die wegen der Corona-Maßnahmen z.Zt. eingeschränkte Zuwanderung ist hier die multiple Durchlässigkeit entlang der West, Süd- und Ostflanke der EU-Staatengemeinschaft. Die Außengrenze der EU wie ein Schweizer Käse und innerhalb der EU nach wie vor ein iunkontrolliertes Kommen und Gehen gemäß Schengen-Vereinbarung höchstens partiell behindert von aktuellen Corona-Maßnahmen.

Frontex – die aktuellen Zahlen für 2020 (January-October):

1.Western Afrika
Number off illegal border crossings in 2020 (January-October): 11.422
2.Western Mediterranean
Number off illegal border crossings in 2020 (January-October): 15.864
3.Central Mediterranean
Number off illegal border crossings in 2020 (January-October): 34.187
4.Circular route from Albania to Greece
Number off illegal border crossings in 2020 (January-October): 1.213
5.Eastern Mediterranean
Number off illegal border crossings in 2020 (January-October): 18.490
6.Western Balkan
Number off illegal border crossings in 2020 (January-October): 23.259
(Syria: 13857, Afghanistan: 4730, Iraq: 688 …)
7.Eastern Land Borders
Number off illegal border crossings in 2020 (January-October): 500

Die Frontex Migrationskarte zählt zusätzlich nach Herkunftsländern sortiert (entsprechend dann Überschneidungen):
Syria: Total numbers of detections in 2020 (January-October): 15.604
Türkei: Total numbers of detections in 2020 (January-October): 3.247
Iran: Total numbers of detections in 2020 (January-October): 1.133
Irak: Total numbers of detections in 2020 (January-October): 1.459
Afghanistan: Total numbers of detections in 2020 (January-October): 8.765
Pakistan: Total numbers of detections in 2020 (January-October): 2.234
Bangladesh: Total numbers of detections in 2020 (January-October): 4.391
Somalia: Total numbers of detections in 2020 (January-October): 1.655
Cote d’I’voire: Total numbers of detections in 2020 (January-October): 1.424
Sudan: Total numbers of detections in 2020 (January-October): 1.495
Egypt: Total numbers of detections in 2020 (January-October): 1.157
Algeria: Total numbers of detections in 2020 (January-October): 11.170
Morocco: Total numbers of detections in 2020 (January-October): 8.765
Libya: Total numbers of detections in 2020 (January-October): 830
und weitere …

Frontex klärt auf, dass sich die hier genannten Zahlen „auf die Aufdeckung illegaler Grenzüberschreitungen und nicht auf die Anzahl der Personen bezieht.“ Interessant eine Frontex-Zusatzinformation zur Migrationskarte:

„Derzeit gibt es jedoch kein EU-System, das die Bewegungen jeder Person nach einem illegalen Grenzübergang verfolgen kann. Daher ist es nicht möglich, die genaue Anzahl der Personen zu ermitteln, die illegal die Außengrenze überschritten haben.“

Die absoluten Zahlen für Deutschland wurden gerade u.a. vom Bundesinnenministerium gemeldet: Trotz Corona-Maßnahmen waren das für 2020 noch weit über 100.000 Migranten, die illegal eingereist sind und einen Asylantrag gestellt haben. Also nicht ganz, denn auch für fast 30.000 Babys wurde ein Antrag gesellt, die bereits hier geboren wurden.

Alamierend auch die Tatsache, dass es mitten im Corona-Maßnahmen-Jahr 2020 erstmals mehr Asylüberstellungen aus der EU nach Deutschland gab, als umgekehrt. Die umliegenden Länder weigern sich also gegen geltendes EU-Recht ihre Asylanten zurückzunehmen, wenn diese illegal nach Deutschland gegangen sind. Die Länder schicken Deutschland allerdings ihrerseits aus Deutschland weitergewanderte Illegale und die Bundesregieurng biligt das und macht die Tür auf.

Währenddessen verkündet der ehemalige Fraktionschef der Union, Volker Kauder: „Jeder Flüchtling ist ein Ebenbild Gottes“ und müsse auch so behandelt werden.

Von dieser weiteren Verirrung aus der konservativen Deutschland-Abwicklungsdose zurück zu Frontex: Die Grenzschützer werben aktuell um Mitarbeiter. Man sei „eine der dynamischsten und am schnellsten wachsenden Agenturen“ und „bald wird es noch größer werden.“ Die Aufgabe von Frontex sei es, das ordnungsgemäße Funktionieren zu gewährleisten.

Kritische Stimmen bis hin zum ungarischen Premierminister Orbán allerdings sehen in Frontex keine Grenzschützer mehr, sondern betrachten die Arbeit der „Grenzschützer“ als zunehmend auf eine Asylantragsannahmestelle reduziert. Also analog zur European Union Naval Force – Mediterranean (später umgangssprachlich und sinnentstellend „Operation Sophia“ genannt), die einmal ausgezogen war, Schlepper dingfest zu machen und dann im Rahmen der Seenotrettung zur größten Schlepperhilferorganisation der Seegeschichte des Mittelmeeres wurde.

Aktuell wurden die Kompetenzen von Frontex übrigens erweitert. Was aber nach mehr Grenzschutz klingt, könnte jetzt vor allem Folgendes bedeuten: mehr Asylantragsannahmen. Vorsicht ist also geboten, hier in Jubel auszubrechen. Wer Grenzen aufrechterhalten will, muss es weiter national machen und eben riskieren, mit EU-Recht zu brechen, will er seine Grenzen gegen Illegale wirkungsvoll schützen.

Zwischenzeitlich hatten wir auch bei der Bundespolizei nachgefragt, an die uns das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vertröstet hatte. Wir hatten bei der Bundespolizei auch auf diese „Überweisung“ aus dem Bamf aufmerksam gemacht. Die Antwort der Polizei kommt umfangreich und zunächst mit einem bemerkenswerten Fingerzeig Richtung Bamf:

TE hatte um Auskunft gebeten, weil das Bamf an die Bundespolizei verwiesen hatte („Bei Fragen zu den Reiserouten Geflüchteter können Ihnen ggf. die Bundespolizei (…) weiterhelfen.“). Die Bundespolizei denkt gar nicht daran, den Staffelstab aufzunehmen und spielt den Ball sofort zurück:

„Der Bundespolizei liegen keine Erkenntnisse über Routen und Reisewege von in Deutschland erfassten Asylantragstellern vor. Für Angelegenheiten im Zusammenhang mit Asylverfahren ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuständig.“

Dennoch teilt die Bundespolizei TE weiter mit:

„Zur Herleitung von Routen der illegalen Migration nutzt die Bundespolizei hauptsächlich den Indikator „Unerlaubte Einreise“. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich insofern auf die Gesamtzahl der grenzpolizeilich festgestellten unerlaubten Einreisen im Zeitraum Januar bis November 2020. Im Zeitraum Januar bis November 2020 stellte die Bundespolizei insgesamt 32.411 (versucht oder vollendet) unerlaubt eingereiste Personen an den deutschen Grenzen fest, davon 25.377 Personen auf dem Landweg, 5.818 Personen auf dem Luftweg und 1.216 Personen auf dem Seeweg. Im selben Zeitraum äußerten insgesamt 7.174 Personen gegenüber Beamten der Bundespolizei ein Schutzersuchen. Mit rund einem Drittel aller Feststellungen (9.446) war die Landgrenze zu Österreich von besonderer Bedeutung. Etwa jede zehnte unerlaubte Einreise erfolgte auf dem Landweg aus Frankreich (4.201) oder aus Tschechien (3.474). Zudem waren unerlaubte Einreisen auf dem Land- und Seeweg aus Skandinavien (vorrangig Schweden und Dänemark) von Bedeutung (ca. 2.000). Unerlaubte Einreisen auf dem Luftweg gingen – pandemiebedingt – deutlich zurück. Besonders relevante Abflugländer für die illegale Migration waren Griechenland (848 unerlaubte Einreisen) und die Türkei (308 unerlaubte Einreisen). Am häufigsten wurden unerlaubte Einreisen von Staatsangehörigen aus Syrien (3.377), Afghanistan (2.934), der Ukraine (2.358), Albanien (2.005) und Irak (1.624) erfasst.“

Deutschland im Jahre 2021 – was hat man gelernt seit 2015? Merkels Aussage, dass sich 2015 nie mehr wiederholen darf, ist hier ein weiteres Mal und eindrucksvoll ad Absurdum geführt. Jedenfalls gibt es nur zwei Lesarten: Entweder die Budneskanzlerin hat es nicht ernst gemeint oder diese Regierung und ihre Behörden sind in Sachen Asyl auf eine Weise inkompetent (gemacht worden), dass das Versprechen gar nicht eingehalten werden kann oder eben beides zusammengenommen.

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