Tichys Einblick
Medien

Wie gefährlich ist der neue Joker?

Um Klicks und Aufmerksamkeit zu generieren, haben Journalisten, so scheints, ein neues Mittel für sich entdeckt: die Angst. Ihre Überreaktion trifft jetzt auch Hollywood.

Das Spiel mit der Angst ist ein gutes Geschäft. Wenn Leser sich vor etwas fürchten, wollen sie mehr darüber erfahren, und klicken auf den nächsten Artikel und den nächsten. Ein gegenwärtiges Werkzeug für die Angstmacherei ist die Instrumentalisierung von Filmen – und deren Demontage.

Am 10. Oktober kommt der neue „Joker“-Film ins Kino. Er basiert auf der Batman-Story, in der Hauptrolle des Jokers ist der wunderbare Joaquin Phoenix. Er spielt einen erfolglosen Stand-up-Comedian, einen von der Gesellschaft ignorierten, verschrobenen Typen, der deshalb gewalttätig wird.

Kaum ist die Handlung bekannt, beschreiben Journalisten den Streifen als „gefährlich“. Im Jahr 2012 hat in Aurora im US-Bundesstaat Colorado ein Massenmörder die Kinovorstellung des Batman-Films „The Dark Knight Rises“ gestürmt und zwölf Menschen getötet. In ihren aktuellen Texten deuten Autoren darum an, dass die Joker-Figur Männer zu Gewalt inspirieren könnte. Sie schreiben ohne Beweise für ihre Theorie eine Korrelation zwischen Film-Gewalt und Gewalt im echten Leben herbei. Die US-Website Indiewire meint, es sei ein „toxischer Schlachtruf für selbstmitleidige Incels“. (Die Bewegung Incel steht für Männer, die unfreiwillig keinen Sex haben; laut Wikipedia sind deren Überzeugungen auch von Selbstmitleid und Frauenhass geprägt). Vanity Fair orakelt, der Film sei „vielleicht unverantwortliche Propaganda für genau jene Männer, die er pathologisiert.“ Andere wiederum finden, der Film würde das Publikum animieren, mit Joker zu sympathisieren. Ein Journalist des Telegraph fragte Phoenix: „Könnte ‚Joker‘ perverserweise genau die Menschen, um dies es in dem Film geht, inspirieren – mit möglicherweise tragischem Ergebnis?“ Der Schauspieler stammelte: „Warum? Warum würden Sie…? Nein, nein“, dann verliess er den Raum.

TE-Mediensafari
Vom richtigen und falschen Gebrauch von Religion, Spreu & Weizen
Ich habe „Joker“ noch nicht gesehen. Um dumme Fragen von Journalisten zu kommentieren, ist das auch gar nicht nötig. Das Wesentliche zuerst: Man kann weder Filme noch Videogames für die Taten von Menschen verantwortlich machen. Menschen tun schlimme Dinge, aber dafür sind sie alleine verantwortlich. Auch können Zuschauer zwischen Fiktion und Realität unterscheiden. Und ja, bei brillanten Filmen ist der Bösewicht eben nicht einfach nur böse, sondern sein Charakter ist vielschichtig, so dass der Zuschauer hin- und hergerissen wird zwischen Mitgefühl, Sympathie und Abscheu. Mitgefühl heisst aber nicht, dass man ihm vergibt für seine Schandtaten. Und letztlich geht es hier um eine Comic-Verfilmung, nicht um eine Erziehungsdoku.

Der Autor Igor Volksy, der sich in den USA gegen die Waffenindustrie engagiert, und mithalf, einen Brief zu entwerfen, in dem Angehörige des Aurora-Amoklaufs Bedenken zum „Joker“ ausdrücken, sagt laut dem Branchenmagazin Variety: „Die Wissenschaft hat wiederholt keinen Link gefunden zwischen gewalttätigen Filmen und Verbrechen in der echten Welt. Das ist die Realität der Situation.“ Das Problem sei nicht die Gewalt aus Hollywood. Sondern, „dass es unglaublich einfach ist in Amerika, Waffen zu bekommen.“ Joaquin Phoenix äussert sich bei der Videogame-Seite IGN so: „Es ist nicht in der Verantwortung von Filmemachern, dem Publikum Moral zu lehren oder den Unterschied zwischen richtig und falsch.“ Leute interpretieren Dinge oft falsch. Wenn jemand diesen Level an emotionaler Unruhe habe, könne er überall Zündstoff finden.

Der Job eines Schauspielers ist, uns zu unterhalten. Er ist nicht verantwortlich für unsere Reaktion auf seine Arbeit. Was also will ein Journalist mit solchen Fragen erreichen? Und was, bitteschön, soll Phoenix darauf antworten? „Jawohl, ich werde den Joker nicht mehr spielen. Man sollte sowieso keine Filme mehr produzieren, wo ein Bösewicht vorkommt oder Gewalt oder wo Zuschauer negative Gefühle haben könnten“? Ob ein Film Gewalt verherrlicht, könnte man ja bei jedem Tatort hinterfragen, jedem Psychothriller. Nur ist einem beim von Millionen Filmfans sehnlichst erwarteten „Joker“ mehr Aufmerksamkeit gewiss.

Man stelle sich vor: Da gibst du alles für deinen Part, bereitest dich Monate-, wenn nicht jahrelang darauf vor, spielst vielleicht deine beste Rolle ever – damit dann ein Journalist im Interview andeutet, dass es ganz schlimm ist, was du da tust. Entschuldigung, aber während dieser Journalist drei blasse Sätze am Tag schreibt, die keiner liest, um auf Twitter vier Likes zu bekommen, geht ein Joaquin Phoenix bei der Vorbereitung für seine Joker-Rolle wahrscheinlich durch 13 unterschiedliche Stadien von Depressionen!!!

Vielleicht würden es Journalisten ja lieber sehen, wenn die Joker-Figur in einer homoerotischen Komödie (in Musical-Version) zu sehen wäre, die dann in einem Pride March endet…. Oder wie wäre es mit einer maskierten Version von „Brokeback Mountain“? Übrigens, nichts gegen „Brokeback Mountain“, das ist einer der wunderbarsten Filme überhaupt – und wäre er vor vierzig Jahren gedreht worden, hätte die gleiche Art Reporter die Schauspieler wahrscheinlich gefragt, ob sie nicht Angst haben, dass Leute vom Zusehen schwul werden könnten.

Mitgefühl, Meditation und Milliarden Tote
Extinction Rebellion: Eine Bewegung in Selbstzeugnissen
Wenn ein paar Leute denken, dass Filme Menschen beeinflussen, ginge das ja noch irgendwie. Aber es vergeht heute praktisch kein Interview, ohne dass Journalisten ihre persönliche Agenda ins Spiel bringen. Als Quentin Tarantino seinen Film „Once Upon a Time In Hollywood“ vorstellte, fragte ihn eine Journalistin, warum ein Star wie Margot Robbie so wenig Text habe. Damit deutete sie an, dass er Frauen weniger Chancen gibt, sie in seinen Streifen klein hält, wohl frauenfeindlich ist. Tarantinos knappe Antwort: „Ich weise ihre Hypothese zurück.“ Wer glaubt, dass eine Nebenrolle gleich viel Text haben sollte wie eine Hauptrolle und einen Film somit einmal mehr auf das Geschlecht reduziert, gibt sich der Lächerlichkeit preis. Offenbar hat die Journalistin „Jackie Brown“ mit Pam Grier nicht gesehen, auch nicht „Inglourious Basterds“, wo Tarantino Mélanie Laurent gross herausbrachte und ganz bestimmt nicht Uma Thurman in „Pulp Fiction“ oder in „Kill Bill“.

Da schaffst du es, für dein ambitiöses und millionenschweres Projekt ein grossartiges Ensemble mit Pitt, Di Caprio und Robbie zusammenzustellen, das Geld aufzutreiben, willst einfach nur ein Meisterwerk kreieren – und kaum ist es auf dem Markt, wissen Medienleute nichts Besseres zu tun als anzudeuten, du seist frauenfeindlich. Auf die Frage der Journalistin, warum Robbie so wenig Text habe, hätte Tarantino auch einfach sagen können: „Weil ich Frauen hasse.“ Es hätte wohl nichts an ihrer Wahrnehmung geändert. Wie eine Rolle einen Film ausfüllt, hat nur zum Teil etwas mit der Anzahl Sätze zu tun. Auch mit wenig Text kann ein Schauspieler den ganzen Raum einnehmen.

Müssen Journalisten heute solche Fragen aufgreifen, weil die Gesellschaft sensibler geworden ist? Ich glaube nicht. Denn mein Eindruck ist, dass es einigen Leuten dabei in erster Linie um sich selbst geht und um hohe Klickzahlen. Angst heraufbeschwören erzeugt Aufmerksamkeit. Und weil der ganz grossen Mehrheit der Menschen solche Fragen (ob ein Film Leute im realen Leben zu Gewalt animieren könnte) nicht mal im Traum einfallen, muss man ihnen offenbar Furcht einträufeln. Die Frage könne man übrigens auch umgekehrt stellen: Animieren zugespitzte Schlagzeilen, kontroverse Themen oder profillose Journalistentexte möglicherweise Leute zu Gewalt?

Und hier kommt das Problem: Aufgrund solcher übersteigerter Reaktionen werden Schauspieler ihre Ecken und Kanten verlieren und in absehbarer Zeit nur noch von ihren PR-Beratern vorgefertigte und massenkonforme Sätze herunterleiern. Oder, noch schlimmer, Rollen, die man für einen Konflikt verwenden könnte, gar nicht mehr annehmen. Wer will schon seinen Namen in den Medien im Zusammenhang mit Massenerschiessungen oder Frauenfeindlichkeit lesen? Kinobetreiber werden Filme ablehnen. Filmemacher werden nur noch Produktionen ohne Empörungspotential erschaffen. Die Bandbreite der Werke wird abnehmen.
Machen wir uns keine Illusion. Es wird nicht enden mit „Joker“. Irgendwann werden sie Hannibal Lecter torpedieren, dann wird an „Psycho“ herumgemäkelt. Yay! Lasst und doch im Kino so tun, als wäre die ganze Welt perfekt! Warum sich Bollywood-Filme beim globalen Kinopublikum noch nicht durchgesetzt haben, ist mir wirklich ein Rätsel.


Der Beitrag erschien zuerst in der Weltwoche.

Anzeige