Tichys Einblick
Verkehrte Welt

Die Dornröschen-Posse

Dornröschen sei frauenfeindlich und sexistisch, Kinder müssten davor geschützt werden, sagen Pädagoginnen und Feministinnen. Es sollte umgekehrt sein: Märchen sollten vor gewissen Eltern, Pädagoginnen und Feministinnen geschützt werden.

Weil der Prinz das schlafende Dornröschen wachküsst, sei der Kuss nicht einvernehmlich. Und Märchen wie Dornröschen, wo Frauen im Tiefschlaf geküsst werden, würden den sexuellen Übergriff verherrlichen. Das äusserte eine besorgte Mutter neulich auf BBC. Es dauert einige Momente, bis man nach solchen Bemerkungen das Gleichgewicht wiederfindet.

„Ich denke, in Dornröschen geht es auch um sexuelles Verhalten und Zustimmung“, sagte sie weiter. „Diese Märchen sind bezeichnend dafür, wie tief verwurzelt dieses Verhalten in unserer Gesellschaft ist.“ Dornröschen sei frauenfeindlich und sexistisch, es gehöre nicht in Schulerziehung, Kinder müssten davor geschützt werden. Pädagoginnen und Feministinnen stimmen ihrer These zu. Persönlich denke ich, es sollte umgekehrt sein: Märchen sollten vor gewissen Eltern, Pädagoginnen und Feministinnen geschützt werden. Mit ihrer Ideologie vereinnahmen sie die Unbedarftheit der Erzählungen und interpretieren Dinge hinein, die absurd sind. Das Sexismus-Fieber grassiert und es ist im Begriff, nun auch die Märchen zu verhexen.

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Für viele Kinder zählt der Moment abends im Bett, wenn Mutter oder Vater ein Märchen vorliest, zu den schönsten des Tages. Sie tauchen dann ein in eine andere Welt, in tiefe, dunkle Wälder, in golden glänzende Schlösser, verwandeln sich in eine Prinzessin, oder fürchten sich vor dem bösen Wolf. Oder sie finden es cool, wenn die Stiefmutter jemanden verwünscht. Die Fantasie kennt keine Grenzen. Märchen sind zeitlos und fast jede Kultur auf der Welt erzählt sie weiter, weil sie auf eine Weise und in einer Sprache geschrieben sind, die universell gültig ist. Märchen greifen die großen Themen des Lebens auf – Liebe, Hass, Eifersucht, Treue, Tod. Der bedeutende amerikanische Kinderpsychiater Bruno Bettelheim sagte einst: „Nur wenn ein Märchen das bewusste und unbewusste Verlangen vieler Menschen enthielt, wurde es immer wieder erzählt.“

„Märchen transportieren patriarchale Geschlechterrollen, mit denen sich Kinder dann zu identifizieren versuchen“, erklärte eine Pädagogin zu der Debatte in der Gratiszeitung 20 Minuten. Auch Natalie Trummer von Terre des Femmes findet, dass „diese Stereotypen dann verantwortlich sind für die sexuelle Gewalt und Unterdrückung der Frau in der Gesellschaft“. Eine Lehrerin müsse in der Schule kritische Fragen zu Märchen stellen, etwa, „warum nicht ein Prinz einen Prinzen küsst oder eine Magd eine Prinzessin.“

Tatsächlich küssten sich Prinzen nicht vor 200 Jahren, zur der Zeit, als zum Beispiel die Grimm-Märchen geschrieben wurden – zumindest nicht öffentlich. Es gab da auch noch keine 60 verschiedenen Geschlechts-Identitäten und keine Feminismus-Experten, die sich tiefgründig mit Prinzenküsschen und deren Auswirkungen auf schlafende Prinzessinnen auseinandersetzen. Aber es gab damals schon eine Art politische Korrektheit, zumindest, was berühmte Erzählungen der Gebrüder Grimm anging. Viele der von den Brüdern gesammelten und teilweise überarbeiteten Werke, die sie zwischen 1812 and 1858 herausgegeben hatten, drehen sich um Gewalt, Sex und Mord und waren ursprünglich auch nicht für Kinder, sondern für Erwachsene gedacht. Die Brüder selbst schrieben einige ihrer Märchen um, machten sie kindgerechter und somit auch erfolgreicher; in einer überarbeiteten Fassung wurde etwa aus Dornröschen „es“ statt „sie“.

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Eine frühere Version des Dornröschens aus dem Jahr 1634, die das vollständige Thema aufnahm, übertraf übrigens die Grimm-Erzählung gewaltmäßig um einiges. Sie stammt vom italienischen Autor Giambattista Basile und hiess „Sonne, Mond und Thalia“. Laut dem „Zentralen Verzeichnis antiquarischer Bücher“ beginnt die Geschichte ähnlich wie die Disneyversion von 1959, aber als Thalia in ihrem Schlaf lag und der fremde König vorbeikam und ihrer Schönheit verfiel, versuchte er zwar sie wachzurütteln, allerdings ohne Erfolg, und so er verging sich an der schlafenden Prinzessin: „Dann trug er sie in seinen Armen auf ein Lager und pflückte dort die Früchte der Liebe.“

Wie gesagt, das ist eine uralte Version. Die Empörung jener, die nun die Verbannung von Dornröschen aus Klassenzimmern fordern, bezieht sich auf zeitgenössische Fassungen, wie sie heute in Märchenbüchern anzutreffen sind, oder auf Disneys Sleeping Beauty von 1959. Auf Versionen, die in den vergangenen Jahrzehnten soweit von jeglicher Erotik und Gewalt entrümpelt wurden, dass man von ihnen sagt, die Grimm Brüder selbst würden ihr Werk kaum mehr wiedererkennen.

Der Auslegung von Pädagogen, dass gewisse Märchen zu grausam sind und nicht Teil der Kindererziehung sein sollten, widersprach der bedeutende Kinderpsychologe Bruno Bettelheim. Laut einem Spiegel-Artikel aus den 70iger Jahren nannte der verstorbene Autor von „Kinder brauchen Märchen“ (1977) diese „eine wichtige Lebenshilfe, um die chaotischen Spannungen ihres Unterbewusstseins zu bewältigen.“ Gemäß Bettelheim, der berühmt wurde durch seine Behandlung von psychisch kranken Kindern, „verführen die Märchenlösungen bei Kindern nicht dazu, sie auch im späteren Leben zu erwarten“. Er hält im Gegenteil die frühen Ausflüge in die Irrationalität für eine Voraussetzung, um zum „Realitätsprinzip“ zu gelangen. Da Märchen oftmals mehrschichtige Botschaften enthalten, eignen sie sich auch, dem Kind eine Gefahr aufzuzeigen, ohne sie ihm konkret erklären zu müssen.

Es ist klar, nicht alle Märchen sind für alle Kinder geeignet. Aber grundsätzlich wissen Kinder, dass Märchen Fantasie sind, das bestätigt auch die professionelle Märchen-Erzählerin Conchi Vega in 20 Minuten: „Sie sind in der Lage, zwischen Märchen und Realität zu unterscheiden.“

Eine Streitbare
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Einige Märchen würden wir heute nicht mehr so schreiben wie vor 200 Jahren. Andere Zeit, anderer Kontext, andere Moral. Heute aber in modernen Fassungen von Dornröschen „sexuelles Verhalten“ auszumachen oder das „Wachküssen ohne Zustimmung“ anzuprangern, ist nicht nur grotesk, es offenbart auch, dass manche Erwachsene nicht mehr in der Lage sind, Märchen als das zu sehen, was sie sind: Surreale Welt, Metapher, Fantasie-Anreger, überlieferter Mythos. Zig Generationen, Millionen von Menschen haben Dornröschen gelesen. Sind aus den Buben deswegen alles Sexisten geworden? Chauvinisten? Sexualtäter? Und aus den Mädchen verschupfte, hilfsbedürftige, wehrlose Frauen? Kinder werden nicht durch Märchen geprägt, sondern vor allem durch Eltern, die ihnen Anstand, Respekt und ein bestimmtes Verhalten vorleben.

Es ist schlicht ermüdend, wenn von feministischen Kreisen heute permanent alles und jedes zum Sexismus erklärt wird, die Heldentat eines Prinzen, der seine Prinzessin rettet, als seine Stärke und ihre Schwäche ausgelegt wird. Das angeblich übermächtige Patriarchat scheint für sie die zeitgenössische Hexe zu sein, das verkörperte Böse, das sich als Ziel genommen hat, die Feen auf dieser Welt zu missbrauchen und auszubeuten und die kleinen Prinzen in lüsterne, unterdrückende Sexmonster zu verwandeln.

Manche Eltern lassen ihre Kinder nicht Mickey Mouse lesen, andere verhängen ein TV-Verbot oder Videospiele sind tabu. Jeder hat seine eigenen Ansichten von Moral – und das ist auch gut so. Wer aber seine Ideologie und persönlichen Ängste über Kulturgüter zu stülpen versucht, indem er deren Umschreibung oder gar Verbannung aus der öffentlichen Erziehung fordert, erklärt seine eigenen Moralvorstellungen zur allgemeinen Gültigkeit. Etwas mehr Gelassenheit ist angebracht.

Die Kurzversion des Beitrags erschien zuerst in der Basler Zeitung.