Tichys Einblick
Interview

„Wir müssen uns darauf vorbereiten, unseren Verbrauch zu reduzieren“

Deutschland mangelt es an Vorkehrungen, die einen Blackout verhindern, sagt der spanische Wissenschaftler Antonio Maria Turiel.

Antonio Maria Turiel

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Antonio Maria Turiel ist Physiker und forscht am staatlichen CSIC-Institut in Barcelona. Seine Spezialität sind Meereswissenschaften, aber er hat sich durch seinen Blog „The Oil Crash“ in Spanien und Frankreich auch einen Namen gemacht als Energieexperte. Im Gespräch mit TE erklärt er, welche Arten von Stromausfällen es gibt und was in Deutschland drohen könnte. 

TE: Glauben Sie, dass Deutschland für längere Zeit einen nationalen Stromausfall erleiden könnte?  

Antonio Maria Turiel: In Mitteleuropa haben wir ein Netz mit vielen angeschlossenen erneuerbaren Energien und das in einem sehr großen geografischen Gebiet. Dies wird kombiniert mit einem großen Verbund von Hochspannungsnetzen in ganz Europa. Das führt dazu, dass das Zentrum Europas aus elektrischer Sicht wie ein riesiges Land funktioniert. Die Kombination aus beidem – viele Erneuerbare auf einer sehr großen Fläche und ein großer Verbund von Hochspannungsnetzen – macht das System instabiler. 

Was wurde in Deutschland im Vergleich zu Spanien nicht gemacht? 

In Spanien ist es nicht besser als in Deutschland. Aber seine Lage ist besser, da es ein abgelegener geografischer Raum ist, der zudem schlecht vernetzt ist mit anderen Ländern. Managementfehler bei der massiven Einführung erneuerbarer Energien sind in Spanien gleich wie in Deutschland, oder vielleicht sogar noch größer. Aber die Auswirkungen sind verschieden.

Was kann Deutschland machen, um einen Blackout zu verhindern? 

Das Netzwerk muss genau überprüft und die Schwachstellen durch mehr Sensoren und mehr Stabilisierungs- und Schutzsysteme besser ausgerüstet werden. Es wird bereits intensiv daran gearbeitet. 

Wie wird sich ein Stromausfall in Deutschland auf die Wirtschaft auswirken? 

Es hängt von der Art ab. Wir sprechen von Blackouts, aber es gibt viele Arten. Ein lokales Problem, das für einige Stunden einen kleinen Bereich betrifft. Das ist „business as usual“, es ist irrelevant. Dann gibt es Rolling Blackouts: Dies ist eine Schutzmaßnahme. Sie wird vorgenommen, wenn ein Nachfrageüberhang besteht, der nicht gedeckt werden kann. Dann beschließt der Betreiber, Abschnitte des Netzes abwechselnd „abzuschalten“ (z. B. Sektor 1 hat von 0 bis 2 Uhr keinen Strom, Sektor 2 von 2 bis 4 Uhr usw.). Es ist eine allgemein geplante und angekündigte Maßnahme, auf die sich Kunden vorbereiten können. Es ist eine Möglichkeit, Strom zu rationieren, wenn Sie nicht genug haben. Es wird derzeit in den Niederlanden oder in Neuengland an der Ostküste der USA darüber nachgedacht. Es hat erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen, insbesondere wenn die Beschränkungen viele Tage andauern. 

Ein totaler Blackout ist das schlimmste Szenario, das nach den Plänen der Regierungen von Deutschland, Österreich und der Schweiz in Betracht gezogen wird. Dies würde bedeuten: Wenn es zu einem schweren Vorfall kommt, werden automatische Schutzsysteme aktiviert, um das Netzwerk zu schützen, indem Teile davon getrennt werden, und es zu einem Kaskadensturz kommt, weil die zurückgelassenen Teile die Last nicht tragen können. In diesem Fall wird das gesamte Netzwerk komplett abgeschaltet. Der Neustart des Netzwerks ist ein langsamer und mühsamer Prozess, der zwei bis drei Tage dauern kann. Das wird zu sehr schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen führen, da es sich um ein außerplanmäßiges Ereignis handelt. Es wird zu Schäden von Maschinen in Fabriken und Wohnungen kommen.

Ein kritischer Fehler ist ein Szenario, das niemand in Betracht zieht, aber es ist möglich und es ist das Schlimmste. Es wäre der Fall, wenn die Instabilität sehr groß ist und sich schnell ausbreitet, weil die Schutzsysteme nicht rechtzeitig reagieren. An bestimmten Stellen des Netzes treten teilweise sehr schwerwiegende Störungen auf: geschmolzene Hochspannungskabel, durchgebrannte Transformatorenanlagen usw.. Die Fehlersuche dauert Wochen, während dieser Zeit wird entweder Strom rationiert (rollende Stromausfälle) oder es besteht die Gefahr einer Wiederholung des Problems. Ökonomisch wäre es ein katastrophales Ereignis, ein schwarzer Schwan. 

Welche Gebiete in Deutschland sind am stärksten gefährdet? 

Das ist schwierig zu sagen. Möglicherweise Industriegebiete und Zonen mit hoher Bevölkerungsdichte, aber sicher ist dabei niemand. 

Hat Deutschland einen Fehler beim Ausstieg aus der Kernenergie gemacht? 

Das hat damit nichts zu tun. Instabilitätsprobleme entstehen durch Nachfrageänderungen, die bei erneuerbaren Energien ohne zusätzliche Stabilisierungssysteme nur schwer zu handhaben sind. Das größte Problem besteht darin, nicht in zusätzliche Stabilisierungssysteme investiert zu haben.  

Wie wird sich ein deutscher Blackout auf globale Lieferketten auswirken?

Es hängt von der Intensität des Blackouts ab. Wenn es zu lange dauert, könnten deutsche Häfen zusammenbrechen, mit unabsehbaren Folgen für den Welthandel. 

Besteht nicht auch die Gefahr eines Blackouts durch Hacker? 

Natürlich oder durch physische Angriffe. Diese Risiken sind immer vorhanden, aber es werden sehr aktive Maßnahmen ergriffen, um sie zu verhindern. 

Was sollten wir mit Blick auf 2022 tun, um diesen Kollaps zu vermeiden? 

Wir müssen uns darauf vorbereiten, unseren Verbrauch zu reduzieren. Eine Möglichkeit, das Stromnetz zu schützen, besteht darin, die Nachfrage zu reduzieren. 2022 wird sehr kompliziert sein. Die Gasprobleme werden weitergehen, die der Lieferkette werden sich verschärfen und generell wird es mehr Spannungen zwischen Ländern geben. Das einzige, das das Angebot verbessern und die Preise senken kann – und vielleicht wird es das – ist eine wirtschaftliche Rezession. Je globaler die Krise sein wird, desto effizienter, denn dann sinkt die Nachfrage nach allem. Aber das wäre natürlich eine sehr schlechte Nachricht.