Tichys Einblick
Interview

Hans-Jürgen Irmer: Laschet und das CDU-Präsidium sollten zurücktreten

Der langjährige hessische CDU-Landtagsabgeordnete und scheidende Bundestagsabgeordnete Hans-Jürgen Irmer hat den Rücktritt des CDU-Vorsitzenden Laschet sowie des CDU-Präsidiums gefordert. TE-Autor Josef Kraus sprach mit ihm über eine historisch falsche Entscheidung und den Mut zu innerparteilicher Diskussion.

Im Konrad-Adenauer-Haus am Wahlabend, 26.09.2021

IMAGO / Political-Moments

TE: Herr Irmer, Sie haben am Tag nach der Bundestagswahl in mehreren Interviews den Rücktritt des CDU-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Laschet und des kompletten CDU-Präsidiums gefordert. Warum?

Irmer: Es war eine historische Fehlleistung des gesamten Präsidiums, Laschet als Kanzlerkandidaten gegen alle erkennbaren Widerstände durchzusetzen. Die Basis ist schon bei der Frage, wer wird Bundesvorsitzender, Merz oder Laschet, massiv enttäuscht worden. Merz hat seinerzeit erklärt, gegen das Establishment angekämpft zu haben. Er hatte völlig recht. Die Basis wollte mit 70/80 Prozent ihn und nicht Laschet. Die Delegierten auf dem Bundesparteitag haben – teilweise aus sehr persönlichen, strategischen und welchen Motiven auch immer – eine andere Entscheidung getroffen. Das war der erste Fehler.

CDU im Osten
Marco Wanderwitz hat sich sein Scheitern selbst verdient
Dann ging es um die Frage, Söder oder Laschet? Auch hier ein klares Prä für Söder, der in allen Umfragen dramatisch besser abschnitt als Laschet. Auch wenn für mich Söder persönlich nicht der Idealkandidat war: Er hatte das Ansehen in der Bevölkerung, und die Wahrscheinlichkeit, mit ihm ein entsprechend positives Ergebnis von deutlich über 30 Prozent zu erzielen, war groß. Das ist im Übrigen in Form von Umfragen auch nachträglich bestätigt worden. Und mir ging es immer um das Land, das eine starke Union braucht, und es ging mir immer um die Union. Von daher war die Entscheidung pro Laschet als Kanzlerkandidat historisch falsch mit unabsehbaren Konsequenzen. Ich selbst habe im Vorfeld Präsidiumsmitgliedern aus Briefen zitiert, die ich von mir unbekannten CDU-Wählern erhalten habe, die erklärten, dass sie bei der Bundestagswahl nicht Union wählen, wenn Laschet Kandidat wird. Ich habe Herrn Laschet persönlich gebeten, er selbst möge Söder vorschlagen. Es wäre im hoch angerechnet worden, denn die Umfragen und die Beliebtheits- und Kompetenzwerte waren seinerzeit schon historisch niedrig. Wer angesichts einer solchen Fehlentscheidung, angesichts der katastrophalen Stimmung in der Bevölkerung, aber auch in der Partei, dennoch – aus welchen Motiven auch immer heraus – Laschet vorschlägt, trägt gemeinsam mit ihm die Verantwortung. Und deshalb ist ein Rücktritt des gesamten Präsidiums inklusive des Kanzlerkandidaten, aus meiner Sicht auch als Bundesvorsitzender, zwingend nötig.

Was sind die personellen Alternativen? Gibt es sie überhaupt? Ist die CDU in den 16 Jahren Kanzlerschaft Merkel beziehungsweise 18 Jahren CDU-Parteivorsitz Merkel nicht personell ausgezehrt? Wer könnte einem CDU-Vorsitzenden Laschet und den mehr als zehn CDU-Präsiden folgen?

Friedrich Merz hat vor einem dreiviertel Jahr den erfolglosen Versuch unternommen, Vorsitzender zu werden. Ich halte ihn nach wie vor für den geeigneten Kandidaten, losgelöst von der Frage, ob er das will. Im Übrigen gibt es in den Landesverbänden sehr respektable jüngere Kolleginnen und Kollegen, die eine klare Linie vertreten, ehrlich und glaubwürdig sind, deren Herz für die Union brennt. Man muss ihnen eine Chance geben.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Wir brauchen mehr als bisher den offenen Diskurs, auch den Mut zu innerparteilicher Diskussion, die in den letzten Jahren deutlich zu kurz gekommen ist. Die Zahl derjenigen, die auch in der Bundestagsfraktion wagten, abweichende Meinungen zu vertreten oder auch bei Abstimmungen zu votieren, ist überschaubar, und manch einer, der eigentlich eine abweichende Meinung hat, traut sich nicht, das so deutlich zu formulieren, weil man in Sorge ist, dass der eigene Landesverband einen möglicherweise nicht auf einem sicheren Listenplatz bei der nächsten Wahl aufstellt. Niemand, der Kritik übt, übt die Kritik um der Kritik willen, sondern weil man glaubt, dass die eine oder andere Entscheidung falsch ist und man selbst zu einem anderen Ergebnis kommt. Diese Bereitschaft, das gilt für die gesamte Gesellschaft, vorurteilsfrei die Argumente anderer zu betrachten, hat deutlich abgenommen. Nicht zuletzt auch ein Ergebnis der Sozialen Netzwerke.

Gibt es überhaupt noch eigenständige Köpfe in der Union? Sie waren ja einer dieser Köpfe, die schon auch mal nicht mit der Mehrheit der Fraktion stimmten.

Es gibt schon eigenständige Köpfe und großartige Kollegen, wie zum Beispiel – aber nicht nur dort – im Berliner Kreis, die weit über den politischen Tellerrand hinausblicken, sich Gedanken machen über die Weiterentwicklung der Union und manchmal resignierend feststellen müssen, dass Teile des Führungspersonals mehr mit sich selbst beschäftigt sind, mit der Fülle der Tagespolitik befasst sind und wenig Raum bleibt für strategische und personelle Entwicklungen.

Natürlich stimme ich prinzipiell viel lieber mit meiner Fraktion als gegen sie. Aber es gibt nun einmal Entscheidungen, die ich für historisch falsch halte. Dazu gehört das sogenannte Klimaschutzgesetz mit seinen nicht kalkulierbaren Auswirkungen auf Versorgungssicherheit, auf Preisstabilität und anderem mehr, ohne dass wir als Bundesrepublik Deutschland effektiv etwas zur Klimarettung beitragen können. Es gab das Infektionsschutzgesetz mit massiven Einschränkungen der Grundrechte, die ich für höchst problematisch gehalten habe. Es gab den Beschluss zum europäischen Aufbauprogramm infolge der Corona-Pandemie mit einem Dammbruch der gemeinsamen Schuldenaufnahme. Das sind Entscheidungen, die man so treffen kann, wie sie getroffen wurden, die ich mit meinem Gewissen allerdings nicht vereinbaren kann. Und deshalb habe ich dagegen gestimmt. Ich weiß, dass dies manch ein anderer auch gerne getan hätte, sich aber nicht getraut hat oder aber von der Fraktionsführung, freundschaftlich formuliert „überzeugt“ wurde, ein abweichendes Stimmverhalten besser nicht an den Tag zu legen.

Waren die Töne aus München immer hilfreich?

Die Wähler wollen prinzipiell geschlossene Parteien haben. Die SPD hat es geschafft, Saskia Esken und Kevin Kühnert zu verstecken und sich auf Scholz zu fokussieren. Die Union hat in doppelter Hinsicht versagt. Schon die Wahl zum Bundesvorsitzenden war medial und intern heftig aufgeladen. Dann kam die Unfähigkeit der beiden Präsidien von CDU und CSU, sich rechtzeitig auf einen Kandidaten zu einigen, so dass zwei Züge aufeinanderprallten mit dem Ergebnis, dass die Basis zum zweiten Mal den entsprechenden Schock verdauen musste, dass nicht ihr Kandidat gewann. Und wenn man eine Wahl gewinnen will, dann braucht man eine Basis, die sich für einen Kandidaten und seine Ziele einsetzt, begeistert, auf die Märkte geht, Hausbesuche macht und anderes mehr. Zur Wahrheit gehört, dass es Parteiverbände gegeben hat, die Plakate des Kanzlerkandidaten Laschet nicht aufgehängt haben, und dann kann man niemanden in letzter Konsequenz überzeugen. Wenn dann noch nach der Nominierung zumindest am Anfang Sticheleien kommen, ist das nicht hilfreich.

Ab wann versagten die Alarmglocken? Warum sagen CDU-Schwergewichte wie Wolfgang Schäuble jetzt erst, Merkel hätte spätestens 2018 den Weg für einen anderen CDU-Kanzler freimachen sollen, so dass dieser 2021 mit einem Amtsbonus hätte antreten können?

Das Dilemma der Union begann mit der Bildung des letzten Kabinettes. Proporz, Quote, Rücksichtnahme waren bestimmende Faktoren für Personalentscheidungen, aber nicht die Qualität. Das Ergebnis ist, dass die Kompetenzwerte der Union bei dieser Wahl im Vergleich zur letzten im Bereich Wirtschaft, Innere Sicherheit, Verteidigung dramatisch eingebrochen sind. Ich könnte noch weitere Felder hinzufügen. Dann kam die Ankündigung der Kanzlerin nach der Hessen-Niederlage, den Parteivorsitz abzugeben. Diese Entscheidung war richtig, aber man hätte konsequenterweise dann auch die Kanzlerschaft abgeben müssen, denn eines, auch das ist erwiesen, ist klar, der Amtsbonus hilft immer, und der SPD-Kandidat hatte den Vizekanzlerbonus und der CDU-Kandidat, losgelöst von seiner persönlichen Schwäche, eben nicht. Auch dies eine historische Fehlentscheidung nicht nur der Kanzlerin, sondern auch der CDU-Granden, zu denen Schäuble natürlich gehört. Aber mein Eindruck ist der, dass die Bereitschaft im jeweiligen Führungspersonal, in der Sache zu widersprechen, sehr gering ausgeprägt ist. Und so reiht sich dann Fehler an Fehler.

Die AfD hat der CDU/CSU bereits 2017 mehrere Prozent abgenommen, diesmal wohl wieder. Wäre die AfD mit einer anderen CDU/CSU-Politik zu verhindern gewesen? Oder ist gar Merkel vor allem mit ihrer einsamen Grenzöffnungspolitik von 2015 die Ur-Mutter der AfD?

Stephans Spitzen
CDU in die Produktion!
Die falsche Asylpolitik 2015, von der selbst Merkel erklärt hat, dass sich ein solcher Vorgang nicht wiederholen dürfe, war im Prinzip die Wiedergeburt der bis dahin klinisch toten AfD. Es gibt genügend Studien darüber, dass die Mehrheit der Bevölkerung diese Zuwanderung nicht wollte, im Bundestag nur vier Parteien saßen, die den Kanzlerkurs aber alle unterstützten, so dass viele Menschen sich in ihrer Auffassung im Bundestag nicht repräsentiert fühlten und deshalb bei der Bundestagswahl 2017 aus Protest AfD wählten.

Eine persönliche Frage: Ein urpolitischer Mensch wie Sie wird sich doch nicht plötzlich aufs Altenteil und in seine Hobbys zurückziehen. Werden Sie politisch weiter mitmischen? 

Dass ich das Direktmandat verloren habe, ist verständlicherweise bedauerlich. Man tritt an, weil man gewinnen will. Aber wenn man über fünf Prozent mehr Erst- als Zweitstimmen hat, kann es verständlicherweise nicht am Kandidaten gelegen haben. Kein einzelner Kandidat ist in der Lage, einen Swing von minus neun Prozent Union und plus fünf Prozent SPD auszugleichen. Das geht, wenn man einen historisch schwarzen und damit sicheren Wahlkreis hat, aber bei volatilen Wahlkreisen ist das nicht der Fall. Ich habe im Übrigen im Vorfeld intern mehrfach gesagt, dass es sehr eng wird, wenn die Wahlprognosen zu tatsächlichen Zahlen werden. Es ist genauso gekommen.

Von daher war es schade, aber ich bin in einem Alter, wo andere schon längst in Rente oder Pension sind, so dass ich mir den Luxus erlauben kann, noch ein klein wenig ehrenamtlich Kommunalpolitik zu machen, die ich parallel zum Landtags- oder Bundestagsmandat seit 40 Jahren immer ausgeübt habe. Als Kreisvorsitzender der CDU Lahn-Dill besorgt mich verständlicherweise der Zustand der Union, und deshalb nehme ich mir die Freiheit, die Dinge so beim Namen zu nennen, wie es aus meiner Sicht notwendig ist.