Tichys Einblick
Interview mit Carl-Julius Cronenberg

„Die Grünen sind heute viel pragmatischer unterwegs“

Freihandelsabkommen waren einst ein Feindbild der Grünen. Trotzdem werden sie dem Mercosur-Abkommen zustimmen. Warum das so ist, erklärt der FDP-Abgeordnete Carl-Julius Cronenberg im Interview mit TE.

Die wichtigen Handelspartner China und Russland fallen Deutschland in Folge politischer Entscheidungen immer stärker weg. Umso wichtiger wären Freihandelsabkommen mit anderen Staaten, etwa denen Südamerikas. Das entsprechende Mercosur-Abkommen hat die EU auch schon lange ausgehandelt. Doch aktuell ist keine Unterschrift zu erwarten. Warum das so ist, warum es das Abkommen doch geben wird und wie die Grünen dazu stehen, berichtet Carl-Julius Cronenberg im Interview mit TE. Er ist der fachpolitische Sprecher für Freihandel der FDP im Bundestag.

Die Verhandlungen über das Mercosur-Abkommen sind auf Eis gelegt. Kann sich das Deutschland erlauben in einer Zeit, in der ihm mit Russland ein wichtiger Handelspartner weggebrochen ist, Herr Cronenberg?
Das stimmt nicht ganz. Die EU und die Staaten Südamerikas verhandeln durchaus weiter. Doch Sie haben in dem Sinn Recht, dass bis zur Europawahl im Juni nichts Entscheidendes passieren wird. Das ist in der Tat nicht gut. Wir brauchen Freihandel mehr denn je. Er ist die Quelle von Frieden und Wohlstand.

An wem liegt es, dass die Mercosur-Verhandlungen stocken? An Deutschland? Vor gut zehn Jahren führte Deutschland ja einen regelrechten Kulturkampf gegen das Freihandelsabkommen TTIP. An der Spitze Ihr Koalitionspartner, die Grünen, der das Chlorhühnchen zum Symbol für das Böse in der Welt machte?
Das Chlorhühnchen… Ja, das wurde tatsächlich seinerzeit hochgespielt. Aber die Situation heute ist eine andere. Wir sind in der Ampel einig, dass wir das Mercosur-Abkommen wollen. Deutschland ist da in der EU nicht der Bremser.

Wer dann?
Ich bedaure sehr, dass der französische Staatspräsident Emmanuel Macron angekündigt hat, dass eine Zustimmung Frankreichs zum Mercosur-Abkommen zurzeit nicht zu erwarten ist. Die französische Agrarlobby hat ihre Muskeln spielen lassen. Wir haben zuletzt auch in Deutschland gesehen, wie gut die in der Lage sind, Protest zu organisieren. Nimmt man jedoch ihren Anteil am Bruttoinlandsprodukt, dann fragt man sich, ob es gerechtfertigt ist, dass ein vergleichsweise kleiner Wirtschaftssektor die Handelspolitik des gesamten EU-Binnenmarkts ausbremsen kann. Es ist verständlich, dass Macron bis zur Wahl beim Thema den Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln nehmen möchte.

Kommt das Abkommen dann nach der Europawahl?
Ich bin überzeugt, dass das Abkommen am Ende kommt. Notfalls gibt es noch die Möglichkeit, das Abkommen zu teilen in ein politisches und ein Handels-Abkommen. Letzteres wäre „EU only“, könnte also von der EU allein abgeschlossen werden. Eine Zustimmung der einzelnen Mitgliedsstaaten wäre dann nicht erforderlich. Aber viel besser wäre der Abschluss des Abkommens als Ganzes, so, wie es 20 Jahre lang ausverhandelt wurde. Dieses Ziel sollte Priorität haben, da es die breite Zustimmung aller EU-Staaten und aller Mercosur-Staaten dokumentiert.

Warum?
Sie haben die handelspolitischen Folgen des russischen Angriffskriegs erwähnt. Auch die Beziehungen zu China kühlen sich in der allgemeinen Weltlage ab. Da sind wir darauf angewiesen, uns andere Handelsmöglichkeiten zu erschließen. Die südamerikanischen Märkte könnten unserer Wirtschaft dringend benötigte Impulse verleihen. Das gilt im Übrigen auch für die protestierenden Bauern. Auch für sie entstehen schließlich neue Absatzmärkte.

Könnte denn die Bereitschaft der südamerikanischen Länder zu einem Abkommen abnehmen, wenn die EU weiter zögert?
Das ist ein Punkt. Wir müssen insgesamt umdenken. Schneller werden. Das beginnt doch schon bei der Liste an Vorschriften, die wir den Staaten vorsetzen. Angesichts dieser Listen fragen mich manche Ansprechpartner schon, ob wir denn überhaupt mit ihnen zusammenarbeiten wollten oder ob wir ihnen nicht zu tief misstrauten. Zumal die südamerikanischen Länder selbstbewusster werden.

Wie zeigt sich das?
Etwa wenn es um die Menschenrechte, CO2-Grenzausgleich oder auch Fragen der Nachhaltigkeit geht. Es besteht das Risiko, dass bei unseren Verhandlungspartnern der Eindruck entsteht, die EU bewerte mit doppelten Standards oder wolle ihnen seine eigenen Standards aufdrängen. Es gibt Anzeichen dafür, die wir sehr ernst nehmen sollten. Diese Debatte ist beispielhaft für das wachsende Selbstvertrauen, etwa von Brasilien. In diesem Kontext spielt natürlich auch China mit rein.

Inwiefern?
China wirbt massiv um die südamerikanischen Staaten. Konkret geht es zum Beispiel um Uruguay oder auch Argentinien. Deswegen ist es wichtig, das Mercosur-Abkommen nach der EU-Wahl zügig abzuschließen und nicht immer weiter zu verschieben.

Wenn die EU diesen Abschluss nach der Wahl im Juni forciert, steht dann die deutsche Zustimmung?
Ja, so hat das die Koalition in ihrer Handelsagenda im September 2022 vereinbart. Die Grünen legen Wert auf den „side letter“, also einer zusätzlichen Interpretationserklärung. Diese Zusatzvereinbarung wird von der EU-Kommission gerade verhandelt. Aber am Ende wird Deutschland zustimmen.

Aber warum veröffentlichen die Grünen dann einen solchen Kommentar?
In der jetzigen geopolitischen Lage haben die Grünen verstanden, dass mehr Handel mehr Wohlstand, Wachstum und Einfluss bedeutet. Zu Beginn des Interviews haben wir darüber gesprochen, welchen Kulturkampf die Grünen noch vor zehn Jahren um TTIP und CETA geführt haben. Jetzt sind sie viel pragmatischer unterwegs, was ich begrüße. Die Interpretationserklärung ist in der Koalition vereinbart. Am Ende muss aber immer gelten, mit neokolonialem Auftreten gegenüber unseren Handelspartnern in der Welt erreicht man weder ökonomischen noch ökologischen Fortschritt. Gute Verhandlungsergebnisse erfordern Verhandlungen auf Augenhöhe.

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