Tichys Einblick
Der Skandal hinter dem Skandal

Die andere Seite der Woelki-Affäre: Spaltet sich die katholische Kirche?

Der Kölner Kardinal Woelki steht im Medienfeuer. Will er sexuellen Missbrauch vertuschen? Es geht wohl eher darum, die Sex-Vorwürfe im Streit um die Kirchenreform zu instrumentalisieren. Von Michael F. Feldkamp

IMAGO / Günther Ortmann

In der katholischen Kirche in Deutschland gibt es spätestens seit Ende November 2020 nur noch ein Thema: Kardinal Woelki vertuscht Kindesmissbrauch von katholischen Priestern! Seitdem zaubern eine Handvoll deutscher Leitmedien und Boulevardblätter scheibchenweise einzelne, erschütternde Missbrauchsfälle hervor, die – wie man umgangssprachlich sagen könnte – Rainer Maria Kardinal Woelki als den heute zuständigen Kölner Erzbischof ziemlich „alt aussehen“ lassen.

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Kardinal Woelki hatte, seit er 2014 Erzbischof von Köln geworden war, betont, dass es Vertuschungen von Kindesmissbrauch in seiner Amtszeit nicht geben wird. Wie einige andere deutsche Bistümer hatte auch er eine in München ansässige Rechtsanwaltskanzlei beauftragt, die Personalakten der Diözesanpriester und Diözesanangestellten durchzusehen und auf deren Grundlage ein Gutachten zu verfassen. Doch als das Gutachten vorlag, sah Kardinal Woelki sich nicht in der Lage, dieses zu veröffentlichen, weil es nach Einschätzung zweier Obergutachter erhebliche methodische Mängel aufwies und es ihm in jeglicher Hinsicht an Rechtssicherheit für alle Beteiligten mangelte. Um nun sicher zu gehen, beauftragte Woelki einen weiteren Gutachter mit einem neuen Gutachten, dessen Untersuchungsziel ebenfalls war, Verantwortliche zu identifizieren und zu benennen. Das missfiel den Münchener Anwälten. Sie behaupteten, ohne dies zu belegen, dass es eine Veröffentlichungspflicht des Erzbistums gäbe.

Bemerkenswerterweise wurden Details aus diesem nach wie vor „unveröffentlichten Gutachten“ Pressevertretern bekannt gemacht und berichtet. Das brachte den Diözesanrat, das oberste Laiengremium im Erzbistum Köln, auf die Barrikaden. Priester begehrten öffentlich gegen ihren Dienstherren auf und verweigerten die Loyalität. Man konfrontierte Woelki mittels der Medien mit dem Vorwurf der Vertuschung, nicht mehr vermeintliche Kinderschänder waren das Übel, sondern der um Rechtssicherheit und Aufklärung bemühte Erzbischof. Eiligst wurden Politiker wie Hermann Gröhe (CDU), Michael Kuffer CSU), Benjamin Strasser (FDP) und Lars Castellucci (SPD) mit kritischen Statements gegen Woelkis vermeintliche Vertuschungen in Stellung gebracht. Das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken (ZDK) kritisierte „intransparente Vorgänge im Erzbistum Köln“. Einen ersten Höhepunkt in dieser von Medien befeuerten Auseinandersetzung aber bildete die Äußerung des Vorsitzenden der Bischofskonferenz Georg Bätzing, der im Hinblick auf die Kölner Vorgänge den Medien ausdrücklich für ihre Arbeit dankte. Sie klärten auf, „was wir unter Umständen nicht schaffen aufzuklären“, zitierte Bild-online den Chef der Deutschen Bischofskonferenz am 27. November 2020.

Ist Woelki persönlich in einen Vertuschungsfall involviert?

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Galt Woelki zunächst nur als jener, der die Veröffentlichung eines wichtigen Gutachtens zu den Kölner Missbrauchsfällen verhindere, berichtete Bild am 15. November 2020, dass Kardinal Woelki auch persönlich in einen Vertuschungsfall involviert gewesen sei. Der Kölner Stadtanzeiger, die Speerspitze im Kampf gegen den Kölner Kardinal, wusste zu berichten, dass Woelki den Fall hätte nach Rom melden müssen.

In den Redaktionen der Medienhäuser wurde der Fall skandalisiert, und man redete sich ein, dass der Erzbischof noch vor Weihnachten zurücktreten würde. Doch hatten die Journalisten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Als Kardinal Woelki wider die herbeigeschriebenen Erwartungen und Sehnsüchte an Weihnachten immer noch im Amt war, stand sogleich, ungehört und ungelesen, seine Weihnachtspredigt in der Kritik, da er es versäumt habe, in ihr Stellung zu den Vorwürfen zu beziehen.

Der Skandal hinter dem Skandal

Diese Missbrauchsfälle, die nicht selten Jahrzehnte zurückliegen, weit vor Woelkis Amtsantritt, sind oft wohl nur ein Vehikel, um dem Kölner Kardinal nachhaltig zu schaden und damit zugleich der Katholischen Kirche. Die Eilfertigkeit, mit der der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, ohne vorher das Gespräch mit Woelki zu suchen, gegen seinen Kölner Amtsbruder schoss, verhieß nichts Gutes.

Ob es sich hierbei um eine konzertierte Aktion gegen einen innerkirchlich konservativen und nicht dem innerkirchlichen Mainstream angepassten Erzbischof geht, kann und will ich nicht belegen. Es bedurfte jedenfalls – wie bei vergleichbaren Fällen in der Vergangenheit hier und dort vermutet wurde – keiner Steuerung durch die Pressestelle des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz. Denn der an den Tag gelegte Eifer mancher Journalisten legt die Vermutung nahe, dass es sich bei ihnen um Überzeugungstäter handelt. Die Ursachen dafür mögen auch in Lebensbrüchen solcher Journalisten liegen, die ihr gestörtes Verhältnis zur Katholischen Kirche nun an Kardinal Woelki abarbeiten.

So ist nicht nur Insidern bekannt, dass einer der Protagonisten der Pressekampagne einst Novize der Kölner Dominikaner und ein weiterer gar Priester war, bevor er sich laisieren ließ. Es mag vermutet werden, dass insbesondere diesen beiden die Agenda der Deutschen Bischöfe für den Synodalen Weg im Hinblick auf Beendigung des Zölibats, die Priesterweihe von Frauen oder ein nahezu paritätisches Mitspracherecht der Laien, was von Kritikern auch als „Protestantisierung der katholischen Kirche“ verstanden wird, nicht schnell genug geht. Da wird Woelki wenigstens in der katholischen Kirche Deutschlands als ein Hemmschuh wahrgenommen.

Und kein Ende
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Umgekehrt ist der zwar weniger gewichtige, aber dafür treue Anhänger des synodalen Weges, Erzbischof Stefan Heße von Hamburg, aus der Schusslinie der Medien geraten. Er war im Sommer und Herbst 2020 noch als Hauptverantwortlicher beschuldigt, in seiner seinerzeitigen Funktion als Generalvikar im Erzbistum Köln Vertuschung betrieben zu haben.

Zur Einordnung sei in Erinnerung gerufen, dass der Heilige Stuhl und sogar Papst Franziskus persönlich bereits mehrfach den synodalen „Sonderweg“ der deutschen Bischöfe scharf verurteilt haben. In Kirchenkreisen wird vermutet, dass der nach einer Privataudienz bei Franziskus überraschend erklärte Rücktritt von Kardinal Reinhard Marx vom Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz am 11. Februar 2020 in diesen Kontext gehört. Die Tagesschau berichtete am selben Tage, dass Marx harscher Kritik ausgesetzt sei wegen der angestrebten Reformen und wegen seines eigenen Umgangs mit dem Missbrauchsskandal.

Marx hatte den Synodalen Weg angestoßen, den Papst Franziskus von Beginn an nicht wollte. Erst am 16. Februar 2021 wurde der Jesuit Bernd Hagenkord im Kölner Domradio mit dem Satz zitiert: „Papst befürchtet Auseinanderbrechen der Kirche“. Das drückt nichts anderes aus als die Besorgnis des Papstes vor einer Kirchenspaltung, zu der inzwischen der ehemalige Bundestagspräsident und jetzige Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung Norbert Lammert offen aufruft, wenn er fordert, die deutsche Kirche habe sich aus der „Bevormundung durch den Vatikan zu befreien“.

Kardinal Woelkis Kritik am „Synodalen Weg“, der von der Mehrheit der deutschen Bischöfe und katholischen Laiengremien beschritten wurde, konnte kaum schärfer ausfallen. Noch Ende September 2020 hatte sich der Kölner Erzbischof „erneut“ kritisch zum Reformdialog synodalen Weg geäußert. Bei einer Rede in Rom sprach er von möglichen „dramatischen Folgen“. Er sehe die Gefahr, dass Richtiges und Falsches vermischt werde. Manche Texte so wurde Woelki die bei „katholisch.de“ am 26. September 2020 zitiert, wecken in ihm „Befürchtungen“.

Möglicherweise werden die Kölner Vorgänge um die Aufklärung des Missbrauchs in erster Linie skandalisiert, um die vermeintliche Notwendigkeit der angestrebten Kirchenreformen – wie die Aufhebung des Zölibats – zu untermauern. Dabei hatte der wohl bekannteste forensische Psychiater und Gerichtsgutachter Hans-Ludwig Kröber schon am 31. März 2016 in der Zeitschrift Cicero mit Blick auf die daraus hergeleiteten Angriffe gegen den Zölibat festgestellt: „Man wird eher vom Küssen schwanger als vom Zölibat pädophil.“

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Die in Köln zu erkennende Art des Enthüllungsjournalismus ist unredlich, zumal wenn aus welchen Quellen auch immer aus dem ersten Gutachten wiederholt Einzelfälle durchgestochen werden, um den Kölner Kardinal zu zermürben. Hier werden Einzelfälle extrapoliert, ohne dass sie seriös im Gesamtkontext eingeordnet werden, den die Gutachten gerade herstellen sollen und wohl auch werden. Selbst als Kardinal Woelki angekündigt hatte, am 18. März 2021 beide Gutachten vorzulegen, ließ man nicht ab, Woelki zu kritisieren und Verdächtigungen auszusetzen. Angesichts der wenigen Tage bis zu diesem Datum lässt sich der Eindruck nicht von der Hand weisen, dass gewisse Medien eine vorzeitige Veröffentlichung erzwingen wollen, um ihre Macht unter Beweis stellen zu können. Bemerkenswert ist, dass sich an der Kampagne gegen Kardinal Woelki auch das Internetportal „katholisch.de“ beteiligt, das im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz arbeitet.

Aber es ist ja vielleicht einen Versuch wert: Wer Bundespräsidenten stürzen kann, kann vielleicht auch einen Kardinal zu Fall bringen. Die katholische Herder-Korrespondenz titelt in ihrer Februarausgabe 2020 vorauseilend „Impeachment auf katholisch – wie werden Diözesanbischöfe entlassen?“

Am Ende des Tages, wenn sich auch in Köln die Wogen wieder geglättet haben, wird es sich vermutlich als segensreich und geradezu verdienstvoll erweisen, dass Kardinal Woelki ein zweites Rechtsgutachten veranlasst hat; ganz so wie bei einem Patienten, dem vor einer schweren Operation angeraten wird, einen zweiten Arzt zu konsultieren, um sich über seine Krankheit und deren Heilungsmöglichkeiten Gewissheit zu verschaffen. Auch Woelki ging es stets nur um Rechtssicherheit für alle Beteiligten: die Opfer, die Täter, die Angehörigen der Opfer und damit schließlich auch für sich selbst als Auftraggeber eines solchen Rechtsgutachtens. Gerade erst zeigte sich die Vielschichtigkeit der Probleme, als am 20./21. Februar 2021 ein Kölner Priester nach Missbrauchsvorwürfen Suizid beging.

Das zweite Gutachten hat sich jetzt schon gelohnt

Das neue Gutachten, dessen Veröffentlichung Kardinal Woelki am 18. März 2021 zusammen mit dem ersten Gutachten publizieren wird, kommt – wie inzwischen bekannt wurde – auf rund 300 Betroffene und 200 Beschuldigte seit 1975. Das sind wohl mehr, als bislang aus dem Gutachten der Münchener Anwälte bekannt geworden ist. Damit hat sich die Beauftragung eines weiteren Gutachters schon jetzt gelohnt. Am 18. März 2021 wird Erzbischof Woelki die bis dahin umfassendste Dokumentation von Missbrauch und seiner Behandlung durch Entscheidungsträger in einer deutschen Diözese vorlegen, auch soweit es seine eigene Person betrifft.
Woelki, so scheint schon jetzt, ist nicht das Problem, sondern die Lösung der Probleme der Kirche in Deutschland. Und dass gilt nicht nur beim umsichtigen Umgang mit Missbrauch und dessen Aufarbeitung in der Kirche, sondern auch im Hinblick auf die Gefahr einer von Deutschland ausgehenden neuerlichen Spaltung der Katholischen Kirche – und zwar mit weltweiten Konsequenzen.


Michael F. Feldkamp (Berlin) studierte in Rom (Gregoriana) und in Bonn. Er ist promovierter Historiker und Autor zahlreicher Bücher zur Verfassungsgeschichte, Zeitgeschichte und kirchlichen Rechtsgeschichte.

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